Die 20 meistunterschätzten Deutschrapalben // Feature

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J-Luv – Kontraste (2002)

(3P / Intergroove)

Stimmt, J-Luvs »Kontraste« ist kein Rap-, sondern ein Soul-/R’n’B-Album. Aber zum einen werden die engen Familienbande der Genres generell viel zu häufig unter den Teppich gekehrt, und zum anderen steckt nicht nur musikalisch (die Beats stammen unter anderem von Azad und Melbeatz), sondern auch in Sachen Attitude mehr HipHop in dieser Platte als in manch einem farblosen Verbrecherrap-Release. Bis heute ist es beeindruckend, wie nah J-Luv damals an die namensgebenden Wurzeln des Soulgenres herangekommen, sie in seine Muttersprache übersetzt und daraus feinsaitige Herzstücke geflochten hat, die tiefer unter die Haut gehen als herzbluttransfundierende Injektionsnadeln. Diese flirrende Nacktheit, die dem Album zugrunde liegt, erzeugt eine angsteinflößende Spannung darüber, jeder weitere Takt könnte das fragile Gefühlsgefüge zerreißen – und zwar das des Künstlers und Konsumenten gleichermaßen. Wie J-Luv an der Klippe unerwiderter Liebe auf »Weil du mich liebst?« zu zerschellen droht, beim Hinabtauchen in das tiefste Innere seiner geschundenen Seele jedoch auf emotionale Energiereserven stößt, unter deren Schild er kurz durchatmen kann; wie er das ewige »Hin und her« eines konfliktgeladenen Beziehungsgeflechts im gleichnamigen Stück (nach)fühlbar macht, sich sein pumpendes Herz aus dem Brustpanzer reißt und schutzlos vor sich ausbreitet; wie er die sexuelle Aufgeladenheit im Liebe-auf-die-erste-Kick-Duett mit Cassandra Steen auf eine spirituelle Hochebene katapultiert – selten wurde die sentimentale Zuckerglasigkeit so künstlerisch kraftvoll inszeniert wie auf dieser herzöffnenden Soul-Offenbarung aus dem Hause 3P. Schade, dass J-Luv der Nichterfolg und ein paar andere Dinge zu Kopf gestiegen sind, denn ansonsten hätte auf der Grundlage dieses Albums etwas ganz Großes entstehen können.

Text: Daniel Schieferdecker

V.Mann – Fragmente (2004)

(Funkviertel)

Die Straßenrapisierung des Hiphop-Abendlandes durch die Zepterübernahme aus Berlin war 2004 nicht mehr aufzuhalten. Aus den Enklaven Royal Bunker, Bassboxxx und vor allem Aggro Berlin dröhnten pöbelige Geschichten aus der Hood über die nationalen Schulhöfe, die bald Sidos »Mein Block« zum Megahit werden ließen. Doch das HipHop-Treiben in der Hauptstadt war nie eindimensional – auf jeden Bushido-Track kam ein Gauner-Freestyle, auf jede Savas-Maxi kam ein Proletnstuff-Tape. So versammelte sich ab 1999 um das Funkviertel-Label eine unbeugsame Alternativbewegung, die mit dem damaligen Rap-Zeitgeist nicht einverstanden war. Künstler wie Pilskills, Sichtbeton, Marcello und V.Mann waren zwar Kinder der Berliner Battlerap-Tradition, wollten den Spirit der Golden Era aber nicht gegen Hollywood-Synthies eintauschen. »Ich lebe auf dem Loop und das Tag und Nacht/Step in die Adidas und lass den Walkman rotieren«, bekräftigte der P-Berger V.Mann auf »Leben im Loop«. »Fragmente« atmete die Rohheit des Betondschungels, aber verstand HipHop vor allem als graffitiverschmierten Organismus. Der Staub der Technics-Nadel wurde nicht wegquantisiert, sondern war essenzieller Bestandteil dieser druckvollen Boombap-Offenbarungen und atemlosen Stakkato-Flows. Rumpelkisten-Sampels der MF-Doom-Schule trafen auf den schonungslosen Brutalismus einer Non-Phixion-Sozialisation, die gar nicht anders kommuniziert werden durfte als durch ein abgerauchtes SM 58. V.Mann war plump und intelligent, technisch und poetisch zugleich. Seine lässige DIY-Ästhetik macht »Fragmente« zum Grundstein für die Karrieren von Morlockk Dilemma, Audio88 & Yassin oder auch MC Bomber. Selten wurde HipHop als Lebensgefühl so unpeinlich ausgedrückt wie auf dieser Kassette. Klassiker!

Text:Fionn Birr

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