»Muck bloß nicht auf, du Tobias« – Der SPIEGEL hat Gangsta-Rap nicht verstanden // Kommentar

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Foto: Pascal Kerouche


»Die Faszination des Gangsta-Rap – Wie böse Jungs und Clan-Romantik die Kinderzimmer erobern«, lautet die Überschrift der Titelgeschichte des SPIEGEL 05/ 2020. In seiner aktuellen Ausgabe will das Magazin die Zusammenhänge von deutschem Gangsta-Rap, seinen Protagonisten und organisiertem Verbrechen aufdecken. Aber vor allem der Frage nachgehen: »Was findet die Generation Greta daran?«

So die Ausgangslage, die alleine schon etliche Fragen aufwirft. Zum Beispiel: Was hat das wachsende Umweltbewusstsein der heranwachsenden Generation mit ihrem Musikgeschmack zu tun? Oder aber: Wo steht RAF Camoras Musik mit Greta Thunberg im Zusammenhang? Aber starten wir mal von vorne.

13 Autor*innen haben an der Story mitgearbeitet, so unter anderem auch der mit dem Henri-Nannen-Preis ausgezeichnete Journalist Jürgen Dahlkamp oder Tobias Rapp, der in der Vergangenheit bereits für den SPIEGEL über Rap und HipHop berichtet hat. Mangelnder Szenebezug wurde den Beteiligten bereits am Samstag vorgeworfen, als der neue SPIEGEL erschienen ist. Denn ohne Szenebezug oder Einbeziehung von HipHop-Insidern würde auch wenig Sachverstand vorhanden sein, so die Befürchtung von Kolleg*innen wie Aria Nejati, Salwa Houmsi oder Juri Sternburg, die allesamt ihre ersten Eindrücke in den Sozialen Medien kommunizierten. Doch ist der SPIEGEL-Artikel wirklich so ein Armutszeugnis?

Es geht vor allem um eines: Abgrenzung

Der Einstieg im Text ist szenisch gewählt – schon hier sickert durch, dass es nicht um eine sachliche Darstellung, sondern um Emotionen gehen soll. Da wird der minderjährige Moritz, dessen Name »nichts zur Sache« tue, mit seinem Vater auf ein Konzert des ach so bedrohlichen Gangsta-Rappers LX von der 187 Strassenbande begleitet. Namen, Orte und Künstler wirken beliebig. Der Ton des Textes ist streng und moralisch. Es geht um die Symbolkraft des Bildes, dass es das »schmuddelige« Musikgenre Gangsta-Rap in die Kinderzimmer der bildungsbürgerlichen Mittelschicht geschafft hat.

Dass dieser »Einzug« spätestens seit Sidos Top-Ten-Hit »Mein Block« von 2004 schon stattgefunden hat, wird hier ausgeklammert. Stattdessen faselt der SPIEGEL aus der Sicht von Moritz‘ Vater über eine »Welt, die ihm fremd war und in der ihm sein Sohn nun immer fremder« werde. Schockiert wird geschildert, wie LX Joints auf der Bühne raucht und explizite Inhalte zum Besten gibt. Rein rechnerisch könnte Moritz‘ Vater, 16 Jahre nach Sidos Chart-Erfolg von 2004, zwar genau der Generation entstammen, die deutschen Gangsta-Rap in diesen Auswüchsen erstmals massenmedial rezipiert hat. Aber auch das tut für den Ton des Artikels nichts zur Sache. »Die Faszination des Gangsta-Rap« dreht sich nämlich vor allem um: Abgrenzung.

Über was nicht geschrieben wird

Denn dass zwischen der Entstehung und dem Aufstieg von HipHop als »Wirtschaftsmacht« (sic!) zahlreiche Mechanismen eines kapitalistischen Systems die Entstehung von so etwas wie Gangsta-Rap bedingt und begünstigt haben, erscheint nicht nennenswert. Kein Wort über ungleiche Bildungschancen, Agenda 2010, zunehmende Privatisierung und Eigentumsansprüche von Unternehmen, Gentrifizierung, Finanzkrise, fehlende Mittel an Schulen und Jugendeinrichtungen und zu allem Überfluss ein wachsendes Überangebot aus egozentrischen, patriachalischen und oft hypersexualisierten Konsumgütern jeder Art, die von einer profitorientierten Industrie täglich auf Leinwände, in Timelines, Werbespots usw. geschrien werden. Kurz, eine schier unübersichtliche Verkettung von Entwicklungen, die am Ende nichts anderes aussagen als: Geld regiert die Welt.

Oder »lebe fett, gierig und rücksichtslos« – ein Claim, den der Artikel einem ganzen Genre einfach in den Mund legt. Dass Gangsta-Rap dieses gesellschaftliche Problem nur expliziter darstellt als andere Outlets? Geschenkt. Man fragt sich recht bald: Was ist denn die Ursache für den »hemmungslosen Konsum« aus besagten Rap-Songs? Aber auch das sei besser an anderer Stelle diskutiert. Denn das größte Problem des Artikels ist viel grundlegender. 

»Sind, nur mal als theoretisches Beispiel, Murat und Ezra, weniger reflektiert als ihre bildungsbürgerlichen Mitschüler?«

Warum fragt der SPIEGEL, woher die Kinder »aus besseren Einfamilienhausvierteln« – der minderjährige Moritz und die später im Text zitierte Studentin Emma – diese »totale Doppelmoral« von Sozialbewusstsein und Affinität zum verruchten Gangsta-Rap haben, aber nicht auch Jugendliche aus jenem Gesellschaftsteil, der den Gangsta-Rap hervorgebracht hat? Sind, nur mal als theoretisches Beispiel, Murat und Ezra, weniger sozialbewusst, intelligent und reflektiert als ihre bildungsbürgerlichen Mitschüler? Oder hat der SPIEGEL hier nur sein klassistisches, privilegiertes, herablassendes Weltbild offengelegt? Sind Kinder aus Mehrfamilienhausvierteln eh nicht mehr zu retten? 

Ein ebenfalls aberwitziger Aspekt in der Titelgeschichte ist auch, dass die »vegane Grünen-Wählerin« Emma gefragt wurde, ob sie ein »schlechtes Gewissen« habe, wenn sie diese »megafrauenfeindliche« Musik höre. Man könnte ja einmal Zuschauer einer »Macbeth«-Aufführung befragen, ob sie ein schlechtes Gewissen hätten im Bezug auf die sexistischen Klischees und Gewaltdarstellungen in diesem berühmten Shakespear-Stück. Die Antworten würden allerdings wohl nur den SPIEGEL überraschen.

Vokabeln, die eine vorgefertigte Meinung bestätigen sollen

Es geht im Text aber auch allgemein wenig um die Rezeption von Rap in der »Generation Greta«. Allenfalls wird recht oberflächlich dokumentiert, wie der aktuelle Streaming-Markt strukturiert ist und welche Entscheidungsträger hinter ihm sitzen. Wie es um den Umgang der Inhalte bei Jugendlichen bestellt ist, wird nur beiläufig und anhand von zwei (fiktiven?) Protagonisten recht unrepräsentativ aufgezeigt. Pop-kulturelle, technische oder gar soziologische Ursachen, die definitiv zum Musikkonsum heutiger Jugendlicher beigetragen haben, werden kaum herangezogen. Stattdessen werden RAF Camora, die 187 Strassenbande, Farid Bang und Kollegah an den moralischen Pranger gestellt für ihren Habitus und ihre Sprache vom »Planeten Rap« (sic!). Dass der »Planet Rap« die Genannten mitunter ebenfalls kritisiert, sei hier eine Randnotiz. Obendrein wird Loredana als »verspieltes« Gegenbeispiel zu RAF und Co. angeführt, wobei nicht deutlich wird, warum. Mutmaßung: Weil sie eine (weniger bedrohlich wirkende) Frau ist?

Neben dem Fließtext befindet sich noch eine Grafik im Artikel, die »ausgewählte Begriffe« aus den Top 100 der Deutschrap-Jahrescharts nach Häufigkeit sortiert. Das Ergebnis ist – man ahnt es bereits – eine Vorverurteilung sondergleichen.

Wortgruppen wie »Cash, Geld, Money, Para«, »ficken« oder »Scheiß« werden ohne Rücksicht auf Verluste und Kontext zu großen Blasen designt. Von welchem Künstler die Wörter stammen und in welchem Umfeld sie vorkommen, wird nicht erläutert. Ein Satz wie »Geld ist scheiße« zählt hier genauso viel wie der Satz »Ich mache Geld mit Scheiße«.

Es scheinen einfach nur wahllose Vokabeln zu sein, die eine vorgefertigte Meinung bestätigen sollen. Ohne gleich den Volksmund verschwörerisch zu zitieren, wirkt diese Statistik wenig vertrauenswürdig. Denn diese Analyse ist auch auf anderen Ebenen problematisch. Beispielsweise wurde in der Wortgruppe »Kokain« nur »Kokain« als Begriff gezählt – so besagt es zumindest die Grafik. Man kommt nicht umhin zu vermuten, dass das Autorenteam Begriffe wie »Beyda«, »Flex« oder »Yayo« schlichtweg nicht kennt oder – schlimmer – nicht versteht. Strukturrassismus, ick hör dir trapsen.

Daneben wird die Vereinnahmung von Musik-Industrie-Strukturen durch Clans und Banden als Parallelentwicklung im deutschen Gangsta-Rap gestellt, die sicher irgendwo bedenklich sein könnte, allerdings kaum belegbar ist. Im Text wird das Landeskriminalamt Niedersachsen nur mit einer Mutmaßung zitiert. Wie »offenkunding« die Verbindungen zwischen Clans und Rappern tatsächlich ist, wird nicht konkret erklärt. Außer ein paar Instagram-Posts werden kaum Quellen herangezogen, um die Verbindungen von Farid Bang, Capital Bra oder Bushido zum Miri-, Remmo- und Abou-Chaker-Clan darzulegen oder die Beziehung der 187 Strassenbande zu den Hell’s Angels zu bewiesen. Letztere stellen mit Gzuz sogar den Titelhelden. Die Clans bleiben also nur ein beängstigendes Schattenbild, das allenfalls den herablassenden, mahnenden Ton des Artikels befeuert. 

Außer mit RAF Camora wurde zudem mit keinem der genannten Künstler ein Interview geführt. Man möchte RAF hier nicht zu nahe treten, doch einem Rap-Künstler seines Kalibers nach einer Dekade sehr diversen musikalischen Schaffens lediglich den »Gangsta-Style« zu attestieren, ist, gelinde gesagt, haarsträubend. Auch gerade, weil RAF sich selbst nie als »Gangsta« beschrieben hat.

»Die Faszination des Gangsta-Rap« ist somit ein Text, der vor allem ausgrenzt. Die »bösen Jungs« gegen die Kinder aus dem Mittelstandsmilieu. Die besorgten Bürger, äh, Eltern gegen die »Araberfamilien«, die »Einzug« in die »Kinderzimmer« halten. Es ist nicht verwerflich, dass sich 13 Journalist*Innen einem Thema angenähert haben, mit dem sie mitunter noch nie vorher Kontakt hatten – das gehört zum Journalismus. Verwunderlich ist nur, wie eines der einflussreichsten deutschen Medienhäuser einen Artikel veröffentlichen konnte, der derartig unobjektiv und lückenhaft umgesetzt wurde. Die »Generation Greta« würde sagen: OK, Boomer. OK, SPIEGEL.

*Die Überschrift bezieht sich auf eine Textzeile aus dem Haftbefehl-Song »An Alle Azzlackz«

Foto: Pascal Kerouche


6 Kommentare

  1. Wobei die Redakteure und Autoren (und alle sonstigen Mitarbeiter), alle nur links wählen und die „bösen“ Ausländer in etwa soviel Asyl bekommen, als jemand der beim Supermarkt an der Kasse sitzt oder auf der Baustelle hart arbeitet. Meiner Meinung nach sollten die Mitarbeiter, oh sorry, Mitarbeiter*innen mehr nachdenken bevor sie sowas schreiben. Aber das kennen wir ja vom SPIEGEL…

  2. Naja wenn der Vater vom Tobias früher Aggro Berlin gepumpt hat und jetzt zu einem Konzert der 187 Hafensänger musste kann das durchaus Kopfschütteln verursachen

  3. Amüsant, dass diese Reaktion um Längen fürchterlicher ist als der kritisierte Spiegel Artikel.

    „Sind, nur mal als theoretisches Beispiel, Murat und Ezra, weniger sozialbewusst, intelligent und reflektiert als ihre bildungsbürgerlichen Mitschüler?“

    Nein, Herr Birr, da scheint sich eher ein gewisser „Beissreflex“ bei Ihnen zu offenbaren. Denn wenn ich mich nicht gänzlich falsch erinnere stellt der Artikel stellt die Reflektionsfähigkeit von Kindern und Jugendlichen aus anderem Umfeld nämlich mit keiner Silbe infrage, sie werden schlichtweg nicht erwähnt (Spoiler: Sie sind einfach nicht Thema des Artikels. Bei einem Artikel über das Regime in Nordkorea bedarf es ja auch nicht zwingenderweise Querverweise auf andere totalitäre Regimes, am besten noch inklusive zeitgeschichtlicher Einordnung).

    „Man könnte ja einmal Zuschauer einer »Macbeth«-Aufführung befragen, ob sie ein schlechtes Gewissen hätten im Bezug auf die sexistischen Klischees und Gewaltdarstellungen in diesem berühmten Shakespear-Stück.“

    Keine Ahnung, ob das hier ein misslungener Versuch eines Witzes sein sollte. Denn eigentlich kann das für jeden „Szenekundigen“ nur einen solchen darstellen. Rap wird, selbst wenn es faktisch nicht immer zutrifft, von jeher als „“[…] Mucke, wo man das, was man sagt, auch verkörpern muss“ wahrgenommen.

    Gäbe es eine genauso offenkundige Diskrepanz zwischen Privatleben und „Kunstfigur“, wie dies üblicherweise bei SchauspielerInnen der Fall ist, dürfte die Faszination insbesondere für jüngere HörerInnen gleich deutlich geringer ausfallen: ein Gzuz gibt eben nicht Interviews, in denen er über seine „Rolle“ spricht und sich als gänzlich andere Persönlichkeit entpuppt.

    Und bei diesem konkreten „Macbeth“ Beispiel wird es sogar noch absurder, da ältere ZuschauerInnen recht problemlos in der Lage sind, ein Werk historisch einzuordnen: „Hans Mustermann“ kapiert, dass in einem Film von 1950 andere Männer- und Frauenbilder vorherrschen als 2020 (das würde übrigens in diesem Fall wahrscheinlich sogar mit Rap funktionieren. Auf einer Platte von 1990 werden evtl. auch Dinge „durchgewunken“, die viele HörerInnen heutzutage scharf kritisieren würden).

    Zuguterletzt:
    „Man kommt nicht umhin zu vermuten, dass das Autorenteam Begriffe wie »Beyda«, »Flex« oder »Yayo« schlichtweg nicht kennt oder – schlimmer – nicht versteht. Strukturrassismus, ick hör dir trapsen.“

    Ist einerseits ein für die grundsätzliche Diskussion eher irrelevanter Nebenschauplatz (und wenn die AutorInnen die Begriffe mit in die Wortblasen aufgenommen hätten, was dann?!), sondern fällt auch wieder unter die bereits angesprochene „Unterstellung“.

    Tatsäch ist es egal, ob den JournalistInnen die Begriffe geläufig waren oder nicht, da sie in keinster Weise die problematischen Seiten kontrastieren (ist eben nicht so, als hätten die untersuchten KünstlerInnen irgendwelche tiefschürfenden Textpassagen gehabt, die die SchreiberInnen aber aus Unkenntnis nicht berücksichtigten).

    Könnte da jetzt auch noch weiterschreiben, habe aber ehrlich gesagt keine Lust mehr. Die Reaktion der „Szene“ auf den Spiegel war in jedem Fall ein Trauerspiel. Und leider fügt sich dieser Kommentar, Herr Birr, nahtlos dort ein.

  4. das mit dem struktuellen rassismus weil man nich alle kosk synonyme kennt ist glaub ich das dämlichste, was ich seit langem gehört hab. da kommt man nicht umhin anzunehmen, dass der autor nicht mal zu rudimentärster logik befähigt ist.

  5. Moin,
    sehr gut das die Juice dazu mal Stellung bezogen hat. Freut mich das es einen gibt den des noch juckt. Was 13 (dreizehn !!!) Redakteure nicht auf die Beine gestellt bekommt.
    Ist so ein Artikel (vom Spiegel) wichtig ? Nein. Den was die Bevölkerung über Rap weiß ist nichtig und in meinen Augen möchte diese gar nicht verstehen oder aufgeklärt werden.
    Ich liebe Rap auch weil es nie in der Mitte der Spießer ankommen wird. Auch wenn eine Tour hochverlegt wird, die Charts dominiert oder eine Geldquelle oder Wirtschaftsmacht darstellt.

    Was kann der Spiegel oder eine Bild Zeitung oder oder oder den dagegen setzten ? (Außer Angst schüren, Hass und Unwahrheiten). NIX.
    DIE HABEN ANGST. Gut so.
    Aktivisten, Fans, Leudde und Rap Medien sowie Redakteure (und alle anderen) alles richtig gemacht.
    Weiter machen mit dem weiter machen.

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