Wie Streaming die Auswertungsmechanismen der Industrie zerstört hat // Feature

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In JUICE #190 ging es bereits um die Auswirkungen, die die Verbreitung von Musikstreaming auf die Kunstschaffenden und deren Strukturen hat (hier gibt’s den Text). Dass Streaming mittlerweile den mit Abstand größten Marktanteil der Musikbranche ausmacht, dass Künstler ihre Songs an Streamingmechanismen anpassen und maßschneidern und dass Labels alles signen, was nicht bei drei auf dem Baum ist, um ihr Portfolio zu verbreitern, lässt sich also bereits bequem nachlesen. In diesem Text soll es deshalb darum gehen, dass die Auswertungsvorgänge der Musikindustrie den neuen Technologien nicht gewachsen sind.

Doch von welchen Vorgängen sprechen wir hier überhaupt? Besonders die empirische Auswertung von gesellschaftlicher Relevanz wurde in den letzten Jahren immer schwieriger. Gesellschaftlich, weil die marktwirtschaftliche Auswertung eigentlich leichter denn je geworden ist. Zahlreiche Analyse-Tools ermöglichen präzise Berechnungen und Prognosen, die Digitalisierung der Musikindustrie erspart zahlreiche Umwege und Risiken. Die ökonomische Relevanz war bis zum Bröckeln des Systems aber noch untrennbar mit der gesellschaftlichen Relevanz eines Künstlers verzahnt. Heißt ganz simpel: Wenn viele Leute deine Musik mochten, haben viele Leute dein Album gekauft und du bist hoch gechartet – irgendwann, wenn genug Leute deine Musik gekauft haben, gab’s dann eine goldene Schallplatte.

Doch weder die Charts noch die Edelmetall-Auszeichnungen können heute noch mit der Entwicklung des Marktes mithalten. Die regulären Charts hatten Rapper eigentlich schon ausgetrickst, bevor Streaming zum unabdingbaren Steckenpferd eines jeden Musikers wurde. Mit Deluxe Boxen. Jeder scheint die Dinger zu hassen, und dennoch waren sie lange der Grund dafür, dass Rapper zuverlässig Woche um Woche die Charts dominierten. Im Gegensatz zu den USA werden die offiziellen Charts in Deutschland nämlich nicht nach verkauften Exemplaren, sondern nach erzieltem Umsatz bemessen. In Deutschland ist die GfK, also die Gesellschaft für Konsumforschung, für die Erhebung der Charts zuständig. Jede CD, die irgendwo über den Ladentisch wandert, sofern das Geschäft an die GfK angedockt ist natürlich, wird gezählt – unabhängig von ihrem Preis.

Das Ding mit den Deluxe-Boxen

2008 kam ein findiger Rapper namens Bushido auf die Idee, seinem Album »Heavy Metal Payback« haufenweise Ramsch beizulegen, um es über Wert verkaufen zu können. Wenn der Fan statt 15 Euro für eine CD gleich 40 bis 50 Euro für ein Album, eine Instrumental-CD, ein T-Shirt und einen billig produzierten Fanartikel blecht, dann ist die gute Chartplatzierung nämlich sicher – ganz unabhängig von der monetären Gewinnmarge, die eine solche Box letztlich einfährt. Die Nachahmer ließen nicht lange auf sich warten, und so waren die Charts der 2010er-Jahre fortan von den obligatorischen Deluxe Boxen der Rapper dominiert.

Rapper an der Chart-Spitze? Standard!

Klar, es gab Regularien, um Missbrauch zu vermeiden – etwa, dass der Schätzwert der Beilagen nicht den der enthaltenen Musik überschreiten und eine Box den Wert von 50€ nicht übersteigen durfte, alles darüber hinaus floss nicht mehr in die gültige Wertung ein. Aber wirklich geholfen hat es offenbar nicht. Lustig, dass überhaupt erst ein Sicherheitsmechanismus zu diesem Missbrauch geführt hat – die Wertung nach Umsatz sollte nämlich eigentlich verhindern, dass Musiker ihre Alben einfach zum Schleuderpreis verkaufen und so mehr Exemplare absetzen als sie es bei einem wettbewerbsfähigen Verkaufspreis täten. Eine Chartspitze ist schließlich nicht nur gute Promo, sondern auch ein schlagkräftiges Argument in Verhandlungen.

Chris Ares und iTunes

Wie gut das funktioniert, bewies der rechte Rapper (ja, solche Hampelmänner existieren) Chris Ares. Seine Strategie: Mit einem spottbilligen Release die Download-Charts erklimmen, um von sich reden zu machen. Das hat hervorragend funktioniert. Die stramme Nazikäuferschaft war natürlich bereit, zu unterstützen und Präsenz zu zeigen. Dieser Umstand beförderte Ares schnell auf die hohen Ränge der Amazon- und iTunes-Store-Charts, die nach der Anzahl abgesetzter Downloads berechnet werden. Dieser Umstand wiederum kurbelte die mediale Berichterstattung über das künstlich relevant gemachte Skandal-Phänomen an und sorgte so für weitere Downloads.

Der Kniff gipfelte in einem Platz 6 der offiziellen GfK-Download-Charts, die zwar nur etwa 7 Prozent des Marktanteils ausmachen und somit nicht ansatzweise eine wirkliche Relevanz für den Musikmarkt indizieren, in diesem Fall aber durchaus öffentlichkeitswirksam breitgetreten wurden. So sorgten der Missbrauch von Auswertungsmechanismen und die Verzerrung von realen Zahlen für den Anschein, ein untalentierter Faschorapper wäre nun ein chartrelevanter Künstler und hätte sich seinen Weg in den Mainstream gebahnt. Der erste YouTube-Treffer, den der Suchbegriff »Chris Ares« ausspuckt, ist allerdings die Reportage von Spiegel TV, die genau das befeuert – vorgegaukelte Relevanz, die in Wahrheit gar keine ist. Dass außerdem Einiges auf gekaufte Klicks hindeutet – man nehme nur das Verhältnis von Views zu Interaktionen auf YouTube –, ist in diesem Fall fast schon egal.

»Was in der Debatte um die Glaubwürdigkeit des vorgeblichen Klick-Botters aber zu kurz kam: Die Frage nach dem Konsumverhalten der nachfolgenden Generation«

Doch auch gekaufte Klicks sind eine neumodische Erscheinung. Ging vor einigen Jahren noch das Gerücht um, Labels würden ihre eigenen Releases aufkaufen, um sich in den Charts nach oben zu mogeln und so Wichtigkeit vorzutäuschen, wirft man einander heute Klickkauf vor. Views und Streams sind die neue Währung der Branche, der neue Gradmesser für Relevanz.

So wurde 2019 fleißig über gekaufte Klicks diskutiert – nicht zuletzt dank einer recht haltlosen Reportage vom Y-Kollektiv. Was in der Debatte um die Glaubwürdigkeit des vorgeblichen Klick-Botters aber zu kurz kam: Die Frage nach dem Konsumverhalten der nachfolgenden Generation. Bislang mögen die Kids unter 16 zu wenig Geld besessen haben, um eine kaufstarke Zielgruppe darzustellen. Streaming zeigt aber, wie groß und vor allem konsumfreudig diese Masse ist. Künstler wie Capital Bra, Mero, Sero el Mero und diverse sich darauf reimende Newcomer brechen reihenweise Verkaufsrekorde, die natürlich nicht auf realen Verkäufen basieren, sondern auf der schieren Streaming-Macht dieser neuen Hauptzielgruppe.

Dass ein Journalist, der normalerweise Kameramann ist, und ein cholerischer Berliner, der sich eigentlich gerne als wahnsinnig progressiv darstellt, sich nicht vorstellen können, dass diese unglaublichen Streaming- und Klickzahlen organisch zustandekommen, mag sein. Dass es aber eine neue Generation an Rapfans gibt, die ausschließlich streamt und nicht zig verschiedene Künstler hört, sondern maximal fünf – die dafür als intensive Dauerbeschallung –, das sprengt die Grenzen so mancher Vorstellungskraft. Wer das aber auf dem Schirm hat, nutzt es für sich und fordert die supportfreudigen Fans via Insta-Story auf, das Album doch einfach über Nacht durchlaufen zu lassen, um Streams zu generieren. Vielleicht unlauter, aber definitiv nicht gekauft – die Kids machen das gratis.

Wie reagiert die Industrie?

Während also besonders Rapper geradezu absurd hohe Zahlen generieren, gilt es für die GfK und den Bundesverband Musikindustrie, kurz BVMI, mit dieser neuen Situation umzugehen. Bisher ist man kläglich gescheitert. Die GfK konzentrierte sich in den vergangenen Jahren eher darauf, Chart-Rubriken verschiedenster Kriterien zu erfinden, die zwar kein Mensch braucht, weil auch die HipHop-Charts mit denselben Zahlen arbeiten und somit dasselbe abbilden wie die regulären Top 100, aber eben dem Umstand gerecht werden sollten, dass Rapper plötzlich Boxen-bedingt regelmäßig charten.

Auf das, was Spotify und Konsorten brachten, war niemand vorbereitet. Durch konstantes Streaming tauchen immer wieder auch ältere Songs oder gar Alben in relativ hohen Charträngen auf, einzelne Singles wie Bausas »Was du Liebe nennst« verweilen dort gar absurd lang, Playlisten bringen auch Künstler, die eigentlich niemand hört, auf respektable Ränge – Künstler anderer Genres, die hauptsächlich physisch verkaufen, sind überhaupt nicht mehr wettbewerbsfähig. Doch nicht nur die Chart-Auswertung beißt sich die Zähne daran aus, ein realistisches Bild der Musikbranche darzustellen. Auch die begehrten Edelmetall-Auszeichnungen wurden durch diesen Sturm an Top-Zahlen entwertet.

»Was es braucht, sind völlig neue Auswertungsmechanismen, die dem Stand der Technik und der Art und Weise des Musikkonsums der anbrechenden 2020er-Jahre gewachsen sind«

War es vor einigen Jahren noch ein absolutes Happening, wenn ein HipHop-Künstler mit einer goldenen Schallplatte geehrt wurde, kursieren heute zahlreiche Fotos von Rappern im Netz, die nicht mehr wissen wohin mit ihren Gold-, Platin- und sogar Diamantawards. RAF Camoras Studio sieht mittlerweile aus wie der Geldspeicher von Dagobert Duck – wirklich besonders ist das nicht mehr. Die Reaktion des BVMI? Die Formel für die Wertung von Streams wird einfach künftig doppelt so streng gehandhabt. Diese Auszeichnungen werden nämlich nicht nach Umsatz, sondern nach abgesetzten Einheiten vergeben. Also braucht es einen Rechenschlüssel, um Streams miteinzubeziehen – den einfach zu verdoppeln und zu hoffen, dass so das System der Awardvergabe repariert wird, ist natürlich reichlich naiv.

Was es braucht, sind völlig neue Auswertungsmechanismen, die dem Stand der Technik und der Art und Weise des Musikkonsums der anbrechenden 2020er-Jahre gewachsen sind oder den gänzlichen Verzicht auf derlei Schwanzvergleiche – denn zurück zu physischen Verkäufen wird es sicherlich nicht mehr gehen.

Text: Skinny
Illustration: Leon Rischar

Dieses Feature erschien zuerst in JUICE 195. Aktuelle und ältere Ausgaben könnt ihr versandkostenfrei im Onlineshop bestellen.

3 Kommentare

  1. Ich kann nur den Kopf schütteln. Chris Ares ist kein ,, Faschorapper“. Ich weiss ganz genau, dass der Texter Skinny sich nicht mit seiner Person oder Musik wirklich auseinandergesetzt hat.

  2. Okay cool, Skinny als Journalist/Interviewer ist nicht so mein Fall aber dieser Artikel mit dem Info – Geballere fand ich sehr angenehm zu lesen. Danke.

  3. „denn zurück zu physischen Verkäufen wird es sicherlich nicht mehr gehen.“
    Wieso nicht? Was spricht dagegen, die Tonträgerverkäufe und die Streamingcharts voneinander zu trennen. Es werden zwar deutlich weniger Tonträger verkauft als früher, die Tonträgercharts repräsentieren aber die tatsächliche Bekanntheit eines Songs in der Gesellschaft besser als die Streamingcharts.

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