Rap & Depression: Endlich kein Tabuthema mehr // Feature

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Depressionen sind tabu. Das gilt im HipHop noch mehr als in allen anderen Teilen der Gesellschaft. Denn ein Rapper fürchtet nichts – schon gar nicht die eigenen Gedanken. Doch das Stigma bröckelt. Und worüber gerappt wird, kann auch gesprochen werden. Von Kendrick über Cudi bis Kanye. Eine Szene im Wandel.

Back in the days. 1994. Vier Uhr morgens in Brooklyn. Das Telefon läutet. Verschlafen reibt sich Puff Daddy die klebrigen Augen. Er rupft den Hörer von der Gabel und geht ran. »Hello … aw, shit, nigga. What the fuckin’ time is it, man? (…) You a’ight? Nigga, what the fuck is wrong with you?« Es ist The Notorious B.I.G., Puffys Kumpel und wichtigster Künstler auf dessen Label Bad Boy. Was folgt, sind drei Minuten bedrückende Reime. »I swear to god, i just want to slit my wrists and end this bullshit«, »I can’t believe suicide is on my fucking mind, I wanna leave/I swear to god, I feel like death is fucking calling me«. Biggie möchte sterben. Die Enttäuschung über sich selbst, die Last für die anderen, das Leben, wie es ist – er hält es nicht mehr aus. »Suicidal Thoughts«, der letzte Song auf Biggies Debüt ­»Ready To Die«, beendet den Albumklassiker mit einem ebenso ungewöhnlichen wie beklemmenden Song.

Zum ersten Mal redete ein Rapper über seinen Todeswunsch.

Selbstzweifel und Suizid gehörten damals nicht zum gäng­igen Narrativ des New Yorker Rappers. Überhaupt gehörte es nicht zum Textkatalog der MCs bis dato. Rapper waren starke, selbstsichere, hypermaskuline Typen. Der Battle-Slash-Kampfgedanke ist fest verwoben mit ihrer MC-DNA: ein Ego aus kugelsicherem Kevlar. Schwächen existieren nur bei den Anderen, als Rapmunition für Demütigungen und Disstracks.

»Suicidal Thoughts« jedoch war anders – auch wenn der Song keine öffentliche Debatte über Depressionen und Selbstmord anschob. Aber zum ersten Mal redete ein Rapper über seinen Todeswunsch. Zwar gab es – abseits von Money, Cash & Hoes – immer schon düstere Raptracks, doch bedarf es an dieser Stelle einer Differenzierung. Denn viele Songs teilen lediglich die Symptome, jedoch nicht die Diagnose: »Rock Bottom« von Eminem oder »Slippin« von DMX beispielsweise sind beklemmende Songs, doch ihre Verzweiflung speist sich aus äußeren Gründen. Der Protagonist fühlt sich ohnmächtig gegenüber alltäglichen Umständen: Armut, Gewalt in der Hood, Polizeiwillkür oder Drogenmissbrauch. Die dunkle Wolke braut sich aus der Wut auf die Außenwelt zusammen, nicht aus den Gedanken, sich selbst nicht zu genügen.

 
Knapp zwanzig Jahre soll es dauern, bis ein Rapper mit ähnlichem Einfluss wie B.I.G. den Mut besitzt, seine innere Leere zur Schau zu stellen: Kendrick Lamar. Auch er erzählt auf seinem Opus Magnum »To Pimp A ­Butterfly« nicht nur aus der Sicht einer fiktiven Figur, sondern rückt das Thema aus dem Tabu in den Diskurs. Die Platte offenbart nicht nur einen Blick auf den Querschnitt der amerikanischen Gesellschaft, sondern ist auch eine Auseinandersetzung mit dem eigenen Innenleben; einem Innenleben, das zerrüttet ist von Selbstzweifeln, Sorgen und Angst: »I’ve been dealing with depression ever since an adolescent«, rappt Kendrick auf »i«. Und im Gegenstück »u« gipfelt der Selbsthass in kaum zu ertragender Heulerei: »Loving you is complicated«, drischt Kendrick da trunken auf sich selbst ein. Die Enttäuschung über sich selbst, die Last für die Anderen, das Leben, wie es geworden ist – er hält es nicht mehr aus. Doch diesmal wird der Song nicht zur Randnotiz eines großen Albums, sondern findet Resonanz in der breiten Öffentlichkeit – auch weil K. Dot abseits seiner Reime bei Konzerten und Interviews über seine mentalen Probleme spricht.

 
Man könnte Kendrick als Ausnahme abtun; als das Genie, das er ist, das nicht nur außergewöhnlich rappt, sondern auch Außergewöhnliches zu sagen hat; ein Einzelfall, der seine Wunden offen zeigt, weil ihn seine jüngsten Werke eh unantastbar machten. Doch Kendrick zwängt sich nicht ­alleine durch dunkle Gedankengänge. Er mag zwar die Fackel tragen, doch längst tastet sich eine Vielzahl anderer Künstler neben ihm durch die Finsternis.

Eine Chronik. Februar 2014: Danny Brown schreibt innerhalb weniger Minuten dutzende Tweets über seinen labilen Zustand. »Nobody cares if I live or die«. März 2015: Earl Sweatshirt veröffentlicht das Album »I Don’t Like Shit, I Don’t Go Outside«, dessen Titel alleine ein deutliches Signal über seine innere Verfassung sendet. März 2016: Kehlani postet ein Bild aus dem Krankenhaus auf Instagram. Ein Schlauch steckt in ihrer Armbeuge. Sie schreibt: »Heute wollte ich diese Welt verlassen«. Sie löscht ihren Account, den Suizidversuch aber lässt die 20-Jährige nicht unkommentiert – einen Monat später spricht sie bei einem Konzert über den Vorfall: »Es war nicht das erste Mal. Und es ist nicht okay.« Oktober 2016: Kid Cudi lässt sich in eine Klinik einweisen. Seine Entscheidung postet er bei Facebook. Diagnose: Depressionen und Selbstmordverlangen. Das Tabu schlüpft aus dem Schweigen ins Scheinwerferlicht. Und die Liste wächst: Future, Kevin Gates, Isaiah Rashad – immer mehr Künstler gesellen sich zu Kendrick & Co., thematisieren ihre mentalen Probleme in Songs und Interviews. Damit bricht das Bild der Unverwundbaren auf. Wenn selbst die vermeintlich »Härtesten« einer Gesellschaft nicht mehr aus der Traurigkeit finden, dann ist es auch okay für die »Normalen«, an ihren Gedanken zu leiden.

 
Wie wichtig diese Entwicklung ist, zeigt sich in besonderem Maße beim Blick auf den Umgang der Black Community mit Depressionen. Auf dem Frageportal der Suchmaschine Yahoo stellt ein Nutzer die naive wie bezeichnende Frage: »Can black people get depression? Or is it only a white person thing?« Was nach einem Scherz klingt, offenbart einen bitteren Ernst: Mehr noch als in der Gesamtgesellschaft werden Depressionen in den afroamerikanischen Teilen der US-Bevölkerung nicht selten tabuisiert und in die »Just The Blues«-Schublade geschoben. Die Konsequenz: Junge Afroamerikaner schweigen ihre Depressionen tot. Oder sie schweigen, bis sie selbst tot sind. Am 24. Dezember 2012 stürzt sich Pro-Era-Strippenzieher Capital Steez von einem Hausdach in New York. Er wird gerade mal 19 Jahre alt. Manche behaupten, Steez hätte sich in okkulten Wiederauf­erstehungsszenarien verloren. Andere sagen, er wäre schon lange labil gewesen und hätte von Selbstmord fantasiert. Vielleicht war die Flucht in die Mystik nur der Griff nach dem Strohhalm eines ertrinkenden jungen Mannes. Am Ende, nur so viel ist geklärt, stirbt Steez an sich selbst. Er tweetet »The End« und wirft sich, an eine Bibel geklammert, in die Tiefe. Steez’ Fall ist einer der wenigen dokumentierten Suizide im Rap-Game.

Kid Cudi redet mit der ganzen Welt über seinen Kummer, aber niemand hört zu.

Es mag wie ein tragischer Einzelfall klingen, doch laut Unter­suchungen der US-Behörde Centers For Disease Control And Prevention ist Selbstmord nach Unfällen und Mord die dritthäufigste Todesursache bei männlichen Afroamerikanern zwischen 15 und 24. Gleichzeitig sind afroamerikanische Männer die gesellschaftliche Gruppe, die am wenigsten Gesundheitsleistungen in Anspruch nimmt. Nur ein Viertel aller Afroamerikaner sucht therapeutische Hilfe. Bei der weißen Bevölkerung ist die Prozentzahl fast doppelt so hoch. Das liegt zum einen natürlich am US-amerikanischen Gesundheitssystem mit seiner unzureichenden Grundversorgung und nur wenigen schwarzen Psychologen, aber eben auch zum großen Teil am kulturellen Stigma, das sich aus überholten Vorurteilen zusammenpuzzelt: So sei schlechte Laune keine Krankheit, man müsse sich nur zusammenzu­reißen, dann würde diese Phase schon vorübergehen. Allesamt Teile einer fehlgeleiteten, verklemmten Maskulinität, die zu verstecktem Leiden führt.

Als Kid Cudi sich im Oktober vergangenen Jahres öffentlich zu seiner Krankheit bekennt, durchbricht er dieses Tabu. Er ist ein Mann. Er ist schwarz. Er ist Rapper. Und er steht zu seinen psychischen Problemen. Das Internet applaudiert. Dabei berappt der Moon-Man schon seit den ­Nullerjahren seine inneren Kämpfe. Doch wirklich hingehört haben anscheinend nur die Wenigsten. Während im College-Party-Blockbuster »Project X« besoffene Teens von Hausdächern in Papas Privatpool springen, läuft als Soundtrack Steve Aokis Remix-Verwurstung von Cudis »Pursuit of Happiness«: »Tell me what you know about night terrors, every night/5 AM cold sweats, waking up in a bed full of sorrow«. Kid Cudi redet mit der ganzen Welt über seinen Kummer, aber niemand hört zu. Lieber pumpt man seinen Hilferuf als Partyhymne im Club – turn up!

Drei Monate bevor Cudi sich in die Klinik einliefern lässt, spricht er im Othertone-Interview offen über seine mentalen Probleme. Ob er denn nie mit jemandem darüber habe reden können, will der Interviewer wissen. »No«, schallt es aus Cudi heraus. Niemand kann den Schmerz verstehen; den Schmerz, es rausgeschafft zu haben, während alle anderen blieben. »Ich konnte meinen Erfolg nicht wirklich genießen, auch wenn ich hart dafür gearbeitet und ihn mir verdient habe. Aber ich habe so viel, und meine Freunde haben gar nichts. Das ist doch nicht fair.« Was Cudi umtreibt, treibt auch Kendrick um – wenn auch in anderer Dimension: Während der Rapstar auf Tour ist, sterben seine Freunde auf den Straßen Comptons. Statt auf Beerdigungen hängt K. Dot in Backstages. »You ain’t no friend/A friend never leave Compton for profit or leave his best friend/Little brother, you promised you’d watch him before they shot him«, klagt sich Kendrick auf »u« selbst an. Depressionen sind keine Frage von Armut oder Reichtum, von Erfolg, Hautfarbe oder Genre. Depressionen sind eine Erkrankung wie Krebs oder Diabetes und sollten als solche behandelt werden.

»If I die this way, then this is destiny«

Als Cudi klar wird, dass er mit niemand Lebendigem reden kann, findet er Trost bei den Toten: Morrison, Hendrix, Cobain. Der 27 Club, eine halb-mystische Post-Mortem-Gruppierung von Musiklegenden, die alle im selben Alter ein früher Tod ereilte. »These are my heroes, they understand me«, sagt der Cudder. Als seine Freunde an Cudis 27. Geburtstag die Flaschen köpfen, will dieser das Jahr einfach nur überleben. Zu sehr steckt er schon in der »Vielleicht-ist-jung-sterben-mein-Schicksal«-Spirale. Morrison, Hendrix, Cobain, Cudi – für den Rapper steht die Reihenfolge fest. »If I die this way, then this is destiny«, sagt er im Interview. Doch Cudi stirbt nicht. Er holt sich Hilfe. Und sendet damit ein Signal an alle anderen Kranken. Er durchbricht gleichzeitig den Teufelskreis und das öffentliche Stigma.

Also wendet sich alles zum Guten? We gon’ be alright? Die HipHop-Szene, eine Blaupause für die Gesellschaft im Umgang mit mentalen Krankheiten? Beim Blick auf Kid Cudis Facebook-Beichte wird deutlich, wie weit der Weg noch werden wird. Beschämt entschuldigt sich der Cudder für seine Schwäche: »I feel like shit. I feel so ashamed. I’m sorry.« Und unterstützt damit den Doppelstandard zwischen Depressio­nen und anderen Erkrankungen, schließlich würde sich kein Krebspatient öffentlich für eine Chemotherapie entschuldigen. Doch damit nicht genug: Im November 2016 verliert Kanye West bei seinem »T.L.O.P.«-Tourstop in Sacramento auf der Bühne die Nerven, redet sich in Rage, bricht die Show ab und cancelt infolge den Rest seiner Tour. Ein paar Tage später wird Kanye ins Krankenhaus eingeliefert. Stand heute: Noch immer gibt es keine offiziellen Informationen zum Grund für Yeezys Zusammenbruch.

Manche Medien meldeten, Ye wäre in Handschellen abgeführt worden, andere diagnostizierten aus der Ferne eine Psychose. Zu diesem Zeitpunkt überschlägt sich bereits die Meme-Armee. Kanye wird neben die kahlrasierte 2006er-Britney gestellt. Headline: »Breakdown – Who wore it better?« Das überwiegende öffentliche Echo: »Kein Wunder, der hatte schon immer eine Macke.« Ob Kanye nun Depressionen hat, eine bipolare Störung oder gar suizidgefährdet ist, bleibt ungeklärt. Doch dass hier ein Mensch mit psychischen Problemen kämpft, wird umso deutlicher. Dass ein Großteil der Öffentlichkeit dieses Verhalten als größenwahnsinniges Gehabe abtut, ist allerdings ein Problem. Ye mag das selbst so sehen, wenn er den Wahn als Nebenwirkung des eigenen Genius inszeniert: »Name one genius that ain’t crazy«. Seine zahlreichen Textverweise auf das Antidepressivum Lexapro und Zeilen wie: »Went through deep depression, when my mama passed/Suicide what kinda talk is that« oder »Now this will be a beautiful death/I’m jumping out the window, I’m letting everything go«, deuten auf ein ernsthaftes Problem hin.

 
Dass die Stigmatisierung von Depressionen als Schwäche noch nicht überwunden ist, zeigen auch die Reaktionen von Drake und Troy Ave. Beide nutzten jeweils mentale Probleme ihrer Beef-Freunde als Munition für ihre Disstracks. Drake zielte mit seinem Seitenhieb auf »Two Birds One Stone« auf Cudis Klinikaufenthalt: »You stay xann’d and perk’d up/So when reality set in, you don’t gotta face it.« Troy Ave ging sogar noch einen Schritt weiter und machte sich auf einem Song gegen Joey Badass über dessen verstorbenen Crew-Kollegen Capital Steez lustig: »I’m really killing shit, you niggas killing yourself/Fucking weirdos, off the roof, steer clear yo!« Und das, nicht ohne seine Taktlosigkeit in der Radioshow »Sway In The Morning« noch mit religiösen Ansichten zu rechtfertigen: »God gave you life, it ain’t your right to take that«.

Die Reaktion der Öffentlichkeit zeigt, dass sich schon etwas verändert hat. Dass der längst irrelevant gewordene Troy Ave die ganze Verachtung des Internets abbekam, verwundert nicht. Dass aber selbst Everybody’s Darling Drizzy vom Großteil der Szene gerügt wurde, scheint den Wandel zu bestätigen. Es wird geredet. Rap über Depressionen ist nicht länger nur ein Monolog am Telefon, ein Abschiedsbrief, keine »Suicidal Thoughts«, die um sich selbst kreisen, sondern ein Gespräch; ein Dialog, der eine Chance schafft, das Tabu zu überwinden. Mit jeder Zeile bricht das Stigma ein Stück mehr. Rapper sind starke, selbstsichere Typen. Und nichts beweist mehr Stärke, als zu seinen Schwächen zu stehen. ◘

Text: Jan Kawelke
Illustration: Christian Wegerich
Dieses Feature erschien in JUICE #179 (hier versandkostenfrei bestellen).

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