»If you’re reading this …« – 15 Lieblingsbücher über HipHop // Liste

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Chamber Music: Wu-Tang And America (In 36 Pieces) (2019)

Will Ashon
(Faber & Faber Social)

Was soll einem »Chamber Music« schon noch erzählen? Dass »Enter The Wu-Tang« ein beispielloser Klassiker ist? Dass der neunköpfige Clan einmal die unwahrscheinlichste Erscheinung in der US-Rap-Geschichte war? Und dass RZA mit diesem Album ein Geniestreich gelungen ist? Ja, genau das – und noch viel mehr. Was Will Ashon, ehemaliger Gründer des UK-Labels Big Dada, mit seiner Hommage an das Wu-Debüt anstellt, ist ein bisschen unglaublich. In 36 Kapiteln erforscht der Autor das WUniversum in unterschiedlichen Erzählformen und aus zahllosen thematischen Blickwinkeln: Ashons Texte reichen vom provokativen Essay über fehlende Vaterfiguren in afroamerikanischen Haushalten der Siebziger bis zur akribischen Analyse des einzigen Masta-Killa-Sechzehners auf »Enter«; von der historischen Abhandlung der Nation of Islam bis zur fiktiven Kurzgeschichte über einen jugendlichen RZA, für den die Fährfahrt zwischen New York und Staten Island zur Meditationsübung wird; von den Kurzsynopsen von 36 Kung-Fu-Streifen bis zur kulturhistorischen Abhandlung des Schreis in der afroamerikanischen Musik. All das will man unbedingt lesen, weil es mindestens so fundiert recherchiert wie ergreifend geschrieben ist. Vor allem aber vermittelt einem »Chamber Music« beim Lesen genau das Gefühl, das »Enter« beim ersten Hören so besonders machte: dass sich hinter diesen 61 Minuten/336 Seiten ein ganzer Kosmos verbirgt, mit dessen Erforschung man Jahre, wenn nicht ein ganzes Leben verbringen kann. Indem Ashon Thematiken aufgreift, die lose mit dem Wu-Debüt in Verbindung stehen, und sie auf seine eigene Art weiterspinnt, betreibt er gewissermaßen Sampling in literarischer Form. Und genau deshalb erfüllt »Chamber Music« noch eine viel entscheidendere Funktion als Wu-Nerds mit noch mehr Wu-Mythen zu füttern. Vielmehr steckt in diesem Buch die Demonstration, wofür es das Schreiben über Musik braucht: um Geschichten zu erzählen – Geschichten über die Entstehung von Musik, Geschichten über die Bedeutung von Musik und vor allem Geschichten, die sich aus der Musik an sich vielleicht erst mal gar nicht erschließen, die sich aber tief in die Musik eingeschrieben haben. Wenn Wu-Tang for the children ist, ist dieses Buch für die kindliche Neugierde, die tief in jedem Rap-Fan schlummert.

Text: Wenzel Burmeier


Könnt ihr uns hören? Eine Oral History des deutschen Rap (2019)

Jan Wehn & Davide Bortot
(Ullstein fünf)

Der deutsche Punk hat »Verschwende deine Jugend«, das Technogenre »Klang der Familie« – beides spannende und äußerst lesenswerte Bücher, für die Gespräche mit den Wegbereitern und Protagonisten der jeweiligen Szenen in akribischer Kleinstarbeit zu einer Oral History verwoben wurden, also zu einer quasi von den Beteiligten erzählten historischen Abhandlung ihres jeweiligen Genres. Und hiesiger HipHop? Der hatte bisher nichts Vergleichbares anzubieten. Auf die Frage nach DEM literarischen Standardwerk war man stets gezwungen, zähneknirschend »20 Jahre HipHop in Deutschland« (oder eine der späteren Neuauflagen) von Hannes Loh und Sascha Verlan zu nennen, in dem sicher viel Richtiges steht, das aber irgendwie doch ein zu schiefes Bild der alman’schen HipHop-Kultur zeichnet, weil wichtige Geschehnisse und Entwicklungen unerwähnt bleiben und einigen Künstlern, die im gesamtkulturellen Kontext maximal eine Randnotiz darstellen, eine viel zu große Bühne geboten wird. Doch der ehemalige ­JUICE-Chefredakteur Davide Bortot und Jan Wehn, seines Zeichens langjähriger (HipHop-)Journalist, Autor und Podcaster, haben sich zusammengetan und diese Lücke nun mit ihrem Buch »Könnt ihr uns hören?« geschlossen – der ersten und einzigen Oral History über deutschen Rap. Dafür haben sie in monatelanger Schwerstarbeit mit über hundert Rappern, Produzenten, Journalisten sowie Menschen hinter den Kulissen gesprochen, die hiesigen HipHop in den vergangenen 35 Jahren geformt, geprägt und begleitet haben. Herausgekommen ist eine 464 Seiten starke Sammlung von Tatsachenberichten und Einschätzungen, Erinnerungen und Anekdoten, die – von den Autoren sorgsam kuratiert – zusammengenommen ein sehr stimmiges Bild dessen ergeben, was man aus heutiger Sicht deutschen HipHop oder schlicht Deutschrap nennt. Die literarische Form der Interview-Collage ist klug gewählt, weil die Autoren dadurch nicht Gefahr laufen, nur ihre subjektive Szenesichtweise widerzugeben. Stattdessen gelingt durch die versierte Zusammenführung der ausgewählten Stimmen eine ansatzweise konsensfähige Einschätzung dessen, was denn so Wichtiges in den vergangenen 35 Jahren im deutschen Rap stattgefunden hat. Wenn dieser Tage also nun jemand nach dem literarischen Standardwerk der deutschen Rap-Szene fragt, darf man getrost »Könnt ihr uns hören?« antworten. Und zwar ohne Zähneknirschen.

Text: Daniel Schieferdecker

Illustration: Thomas Weirich

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