Wer hat’z erfunden? Die Geschichte von Schweizer Rap // Feature

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2018: State of the Art

2018 befindet sich Rap in der Schweiz auf einem historischen Höhepunkt. Noch nie tummelten sich so viele talentierte und innovative Künstler auf den 42.000 Quadratkilometern Erdoberfläche der Helvetischen Republik. Drei Acts stechen durch ihre Erfolge und ihre Individualität aus der Masse heraus. Sie haben Grenzen durchbrochen, Erwartungen übertroffen und neue, eigenständige Soundbilder kreiert. Drei Träume, die für die Schweiz viel zu groß schienen, sind wahrgeworden.

S.O.S.: Die Quadratur des Kreises

Juli 2017, splash! 20, Backyard-Stage, Samstagnachmittag. Zum ersten Mal seit Jahren treten mit S.O.S. Schweizer Künstler beim renommiertesten Rapfestival Deutschlands auf. Einen Tag zuvor haben sie mit Tausenden Fans die »Soul City«-Stage am Openair Frauenfeld demontiert. Die »Saviours of Souls« Dawill und Nativ wurden in kürzester Zeit von No-Names zu Trendsettern.

Wenn sich besorgte Baggypants-Bürger über die Generation Trap beschweren und das Golden Age preisen, führen sie stets das Argument der fehlenden Consciousness ins Feld. Wenn sich alles um Vibes und Stimmungen drehe, komme der Inhalt zu kurz, würden kritisch-reflektierte Songtexte fehlen. Wenn Dawill sich das Mikrofon schnappt, drehen sich seine Bars jedoch nie um den Konsum von Purple Haze, Lean oder um die neueste Gucci-Kollektion. Die Texte von S.O.S. sind explizit politisch und handeln von Themen wie der Konsumgesellschaft und Spiritualität. Sie stützen sich dabei auf ein archaisch-metaphysisches Bild des Menschen: »Früher lebten wir in Wäldern, umgeben von Bäumen. Heute befinden wir uns in zementierten Dschungeln. Früher war der Feind physisch, heute ist er mental«, kommentiert Dawill den Song »Zement Jungle«.
S.O.S. schaffen die Quadratur des Kreises: Turn-up UND Conscious-(T)rap! Die Instrumentals sind State of the Art, der Inhalt ist »Young Ni**a Teacher Shit«. Bei S.O.S. wird durchaus gepreacht, doch im Gegensatz zu Künstlern wie Common oder KRS One hört sich ihre Musik kein bisschen verstaubt an. Ganz im Gegenteil: Die Live-Präsenz der charismatischen MCs sucht ihresgleichen. Ihre überschäumende Energie sorgt in den Hallen und Zelten für Moshpits, Stage-Dives und ein Publikum in Ekstase.

Elia Binelli ist begeistert von der Wirkung, die Dawill und Nativ auf die Schweizer Jugend ausüben: »S.O.S. sind zugleich politisch und fresh. Sie kombinieren Welten, die immer voneinander getrennt waren. Damit erreichen sie extrem viele junge Leute. S.O.S., ihr Sound, ihr Weltbild, ihre Fans, ihre Mode – das ist ein Movement!«

Xen: Survival of the Fittest

2013 arbeitete Xen Kastrati noch 9 to 5 auf der Baustelle, und niemand hatte den großgewachsenen Albaner auf dem Radar. Heute sind er und sein Team eine Macht. In einem Zürcher Arbeiterquartier unter schwierigen Bedingungen aufgewachsen, zeichnete sich schnell ab, dass aus Xen mehr als nur der nächste Handyvideo-Streetrapper wird. Der smarte Jugendliche las Machiavelli und sog jede Tupac-Zeile in sich auf.

In jahrelanger Arbeit bauten er und seine Freunde in Do-It-Yourself-Manier die Crew Physical Shock auf und recordeten Xen’s Debütalbum »Ich gäge mich« – einen modernen CH-Rap-Klassiker. Xen kombinierte Battlerap mit Clubsound und nachdenklichen Songs über seinen Kampf gegen das eigene Ich. Der Impact auf die Szene war groß, das Video zu »Sandchaschte« ging viral auf Youtube und Xen erhielt zum ersten Mal die Aufmerksamkeit, die er verdiente.

Elia Binelli traf Xen kurz nach dem Release seines Debütalbums: »Xen hat eine beeindruckende Aura. Wenn er den Raum betritt, zieht er die Blicke der Menschen auf sich. Er kann Leute für seine Visionen, für seine Projekte begeistern. Dazu kommt, dass er ein unglaublich guter Rapper ist. Flowtechnisch gesehen ist er der Beste, den es in der Schweiz je gegeben hat.«

Nach dem Erfolg von »Ich gäge mich« blieb Xen seiner Linie treu und holte sich seine Crew-Homies EAZ und Liba ins Studio, um den ersten »Physical Shock Sampler« aufzunehmen. EAZ, einer der komplettesten Künstler des Landes, sang gefühlvolle Hooks und spittete Feuer ins Mikrofon. Liba, bis dato ein Geheimtipp, packte den Hunger eines talentierten Rookies in seine Sechzehner. Zu dritt setzte das »Physical Shock«-Team neue Maßstäbe in Sachen Clubsound und kreierte einen individuellen Stil. Produzent Lii mischte düstere Westcoast-Pianobeats mit zeitgenössischen Drumpatterns und kreierte so den unverkennbaren Physical-Shock-Sound.

Nach den Erfolgen des Samplers war der Weg nach oben geebnet. Bernd Blankenburg hatte die Entwicklung der Schweizer Rapszene seit längerem mit großem Interesse verfolgt und sah Xens Potenzial: »Endlich ging wieder was. Der Sound lief plötzlich in den Clubs und Leute, die der Szene den Rücken zugewandt hatten, kamen mit neuem Elan zurück. Ich wollte einen Künstler signen, der Disziplin und große Visionen mitbrachte. Xen war perfekt. In seinem Denken spielen die Landesgrenzen keine Rolle.«

Tatsächlich hat der Durchstarter schon Fans in Deutschland: »Xen hat mittlerweile mehr Streams aus Berlin und Hamburg als aus Basel und Luzern. Die Leute spüren seinen Vibe.« Seine größte Fanbase hat Xen aber bei den Vorstadtkids, den Secondos, in seiner Heimatstadt Dietikon. Obwohl er durch seine Herkunft und seinen Werdegang stark mit seiner Heimat verwurzelt bleibt, hat er Hunger und Ambitionen für Größeres. Die Weichen sind gestellt: Mit seiner ersten Major-EP »DÆMONE« und einer Mini-Doku setzte er Ende 2017 ein erstes Ausrufezeichen. 2018 könnte das Jahr des Selfmademans werden.

Pronto: Der Golden Boy

Elia Binelli ist gerade mal 22 Jahre jung. Er hat ein gutes Gespür für neue Trends und Talente: »Gerade für Newcomer war LYRICS von Anfang an extrem wichtig. Viele Künstler begleiten wir seit dem Beginn ihrer Karriere. Denk zum Beispiel mal an Pronto. Wer hätte damals gedacht, dass er durch die Decke geht?«

Anfang 2016 ging ein simples No-Budget-Video viral: »Clean«. Der Track lieferte den Soundtrack zu Prontos Shopping-Tour in Milano und war wohl der erste Mumble-Rap-Song made in Switzerland. »Clean« wurde der Hit des Jahres und markierte den Beginn der steilsten Karriere, die dieses Land bis dahin gesehen hatte.

Elia Binelli erinnert sich: »Pronto hatte ein neues Level an Coolness erreicht. Mimiks konntest du auch mit halber Lautstärke hören, aber bei Pronto musstest du die Boxen immer voll aufdrehen!« Alle feierten den Song, jeder wollte ein Feature von dem Solothurner auf seinem Album haben und ohne ein eigenes Release tütete Pronto gleich mal einen Universal-Deal ein. Für Blankenburg ist Pronto der Eine unter Millionen: »Er hat die Aura eines Stars, er fasziniert die Menschen. Ich habe zwanzig Jahre lang auf einen Künstler wie ihn gewartet. Pronto weiß genau, was seine Fans von ihm hören wollen.«

Und so erblickte Ende des vergangenen Jahres das erste Pronto-Release via Universal das Licht der Welt. Die EP »Solo Di Nero« enthält die Essenz seines künstlerischen Schaffens: Fashiontalk, Mumble-Style, Lobeshymnen auf das Team, Family Affairs – vorgetragen wie in Trance, wie aus einer anderen Galaxie.

Sein Weg hin zu den Sternen brachte den Golden Boy bereits nach FFM. Rapper wie Bausa, Capo und Nimo feiern den Solothurner, Haftbefehl soll an einer Zusammenarbeit mit dem charismatischen Mumblerapper interessiert sein. Doch nicht nur deutsche Rap-Kenner sind bei Pronto auf den Geschmack gekommen. Blankenburg erzählt: »Bei Universal Music sind wir weltweit vernetzt. Pronto hat extrem viel positives Feedback aus Deutschland, Frankreich und Italien bekommen. Dass Leute aus dem Ausland einen Schweizer HipHop-Künstler abfeiern, habe ich in meiner gesamten Karriere noch nicht erlebt.« Zurzeit werden prominente Co-Signs und Features diskutiert. Pronto ist all the way up!

2018 and beyond …

2017 war das beste Jahr für Mundart-Rap – doch wie geht es weiter? Ist der Peak erreicht? Ist das Ganze eine Blase, die über kurz oder lang platzen muss? »Nicht unbedingt«, meint Elia Binelli. »Es kommt darauf an, ob sich die Schweizer Öffentlichkeit für Schweizer Rap sensibilisieren lässt. Wie in den USA muss Rap als Kunstform gewürdigt und geschätzt werden. Außerdem ist es wichtig, dass noch mehr Dynamik ins Game kommt.« Die Schweizer Szene benötigt denselben Drive wie das Game in Deutschland. Dort veröffentlichten Shindy, RAF und Bonez 2016 die Alben des Jahres, aber 2017 kamen schon Bausa, Rin und Nimo – und setzten musikalisch neue Maßstäbe. »Dasselbe wünsche ich mir für die Schweiz. Jedes Jahr muss neue, frische Musik zu hören sein. Jedes Jahr sollen überraschende Soundbilder neue Trends setzen. Nur so werden das Game und der Impact immer größer!«

Elia ist zudem überzeugt: »International ist mehr möglich. Die Sprachbarriere stand Schweizer Künstlern immer im Weg und hat ihre Ambitionen kleingehalten. Jetzt ist alles anders: Vibes sind wichtiger als Bars. Prontos Mumble-Style, der Vibe von Xen und die geballte Energie von S.O.S. machen die ganzen Diskussionen darüber, ob Mundart-Rap auch im Ausland erfolgreich sein kann, obsolet.«

Hoffnung schöpfen lassen auch die Umbrüche, die zurzeit die Musik- und Medienbranche auf den Kopf stellen. Bernd Blankenburg erklärt: »Der Streaming-Markt hat viel verändert. Künstler können ihre Musik viel schneller und flexibler zur Verfügung stellen.« An einen Verfall der musikalischen Qualität glaubt er nicht: »Vielmehr wird das Album dadurch zur Königsdisziplin. Das Ziel eines Albums muss es sein, so rund und aufregend zu klingen, dass es die Fans auf Spotify durchhören, ohne einen Track zu skippen.«

Die Streaming-Angebote helfen Rappern zudem dabei, ihre Kunst zu verbreiten, ohne vom Goodwill der Radio- und TV-Sender abhängig zu sein: »Durch die Digitalisierung hat man völlig neue Möglichkeiten, um Musik zu vermarkten. Künstler können ohne Airplay, ja sogar ohne nennenswerte Albumverkäufe Gold gehen – nur durch Streaming. Das ist die Zukunft.« So bekommen Schweizer MCs wie Pronto auch ohne die Unterstützung von Radiosendern, Kulturredaktionen oder TV-Sendern eine Plattform als Rapper. Numbers don’t lie. Und wer weiß – vielleicht sind Pi, Savas und Konsorten bald nicht mehr so überrascht darüber, dass spannende Rapmusik auch aus der Schweiz kommt.

Text: Luca Thoma
Foto: Lukas Maeder

Dieses Feature erschien erstmals in JUICE #185. Back-Issues können versandkostenfrei im Shop nachbestellt werden.

3 Kommentare

  1. Hey liebes Juice Team,

    wie konntet Ihr denn Gimma bei der Geschichte des Schwiizer Rap vergessen?
    Für mich defintitv ein wichtiger Bestandteil.

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