Vince Staples im Interview: »Vergiss alles, was du je über Gangs im Internet gelesen hast.«

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Nach fünf starken EPs gilt Vince Staples als nächste große Hoffnung im Major-Spiel. Der 21-Jährige aus Long Beach County wird generationenübergreifend dafür respektiert, dass er es schafft, die aussichtslose No-Exit-Strategie des Ghettos um die ­Komponente Hoffnung zu erweitern. Nach Earls und Kendricks großartigen Zweitlingen liegt die Erwartung der gesamten Küste auf Vince‘ Debütalbum »Summertime 06«. Es spricht alles dafür, dass er sie erfüllen kann.

Ein zutätowierter Muskelprotz predigt mit erhobener Bibel. Spezialeinheiten riegeln die Straße ab. Der Block gleicht einem Schlachtfeld, verteidigt mit den modernsten Mitteln der Kriegsführung. Schüsse fallen, Menschen kippen um. Doch es fließt kein Blut, die Bewohner gehen gewohnt ihrem Alltag nach: am Grill, bei der Maniküre. Ein rappender Junge wechselt gedankenverloren die Straßenseite, als hätte er nie etwas anderes gesehen. Dann: Cut. Der halbnackte Hood-Pastor atmet an die Scheibe. Die Kamera rudert zurück, zoomt raus aus der schwarz-weißen Ghettoszenerie, die sich als abgeschlossenes Testlabor offenbart und in die Metaebene übergeht: Auf der anderen Seite des Glases sitzt eine gutbürgerliche Familie und begafft das Geschehen. Eine klassische Sinfonie ertönt. Heile Welt. Alles nur ein Museumsbesuch.

 
Dieses Spiel mit dem doppelten Boden – kaum eines der Nineties-Kids beherrscht es derzeit so clever wie Vince Staples. Die post-apokalyptische Szene aus dem »Señorita«-Video erschüttert den Zuschauer, lässt ihn fragend zurück. Weil man selbst nicht mehr unterscheiden kann, ob man gierender Zuschauer oder doch schon Teilnehmer des Geschehens war. Ein Zustand, den Vince hervorrufen will: Wir alle sind Teil des Ganzen. 

Staples beschreibt vom Großen ins Kleine, wechselt perspektivisch, stellt Kontexte her und vereint nebenbei die verschiedenen Generationen an Westküsten-Rappern: Vor wenigen Jahren crashte er auf Syd Tha Kids Couch in Los Angeles, befreundete sich mit Earl, wurde seither als verlängerter Arm des Odd-Future-Camps wahrgenommen und überlebte den »Elimination Chamber« mit Action Bronson. Common holte Staples, der vom Kanye-Mentor No I.D. protegiert wird, gleich zweimal auf sein letztes Album. Die Dilated Peoples, Ghostface Killah und Jhené Aiko buchten Studiozeit mit dem ambitionierten Schulabbrecher, der in seiner Jugend lieber »Beethoven« als »Boyz N The Hood« schaute und sich als ganz normaler Durchschnittsjunge versteht. 

Seine erste Def-Jam-EP »Hell Can Wait« aus dem letzten Jahr war sein Lehrstück ­­– und ein zynischer Counterpart zu Kendricks »Good kid, m.A.A.d. City«-Epos. Während Lamar und Cole mit Lyrics und Saubermann-Image in den Mainstream vorstießen, könnten die Zeichen für eine raue sophisticated Type kaum besser stehen. Es ist Anfang Juni und »Señorita« – das von Future geträllerte Liebeslied an eine 9-Millimeter Schusswaffe – der einzige bisher bekannte Track von Staples Debütalbum »Summertime 06«.

Du bist in Long Beach geboren, aber in Compton bei deinen Großeltern aufgewachsen. Unterscheiden sich die Gegenden voneinander?
Nicht im Geringsten. Ich habe in der Oak Street gewohnt, die sowieso nur zehn Minuten von Long Beach mit dem Auto entfernt liegt. Das war die gleiche abgefuckte Hood, bevölkert von einer schwarzen Mittelschicht und Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze lebt – auch wenn die demografische und kulturelle Diversität in Long Beach höher ist. Wie in ganz Südkalifornien, gibt es hier einen großen Einfluss der Hispanic-Community und man lernt einiges über Menschen in Extremsituationen, die auf engstem Raum zusammenleben.

In deiner Jugend warst du Teil der 2N-Crips. Ist es überhaupt möglich, aus einer Gang auszusteigen?
Vergiss erst mal alles, was du je über Gangs im Internet gelesen hast. Gangs und Drive-By-Shottings sind nichts Glamouröses oder Heldenhaftes, wie es im Rap und Filmen gerne dargestellt wird. Jugendliche werden rekrutiert als sei es die Army. Kriminalität ist allgegenwärtig, wo immer es Armut gibt. Jeder, der die Möglichkeit dazu hat, entflieht dem. Wenn du dein Leben zum Besseren wenden willst und die Gang wirklich deine Familie ist, wird sie dich gehen lassen. Klar, wenn du im Knast sitzt und in Gang-Strukturen verwickelt bist, sieht die Situation nochmal auswegloser aus. Da überlebst du nicht ohne die Unterstützung.

Es ist aber doch ein Teufelskreis, in den du hineingeboren wirst und dem man sich als Kind kaum entziehen kann. Auf »Nate« rappst du: »As a kid all I wanted was to kill a man/Be like my daddy’s friend, hopping out the minivan«.
Ja, und doch weigere ich mich zu behaupten, dass man sich nicht davon fernhalten kann. Das Klischee, der einzige Ausweg sei, dass man tot im Sarg liegt, halte ich für überholt. Man hat immer Optionen. Aber die Konsequenzen und Gewalt, die man erfährt, kann man nicht verdrängen, geschweige denn ihr entkommen. Die amerikanische Gesellschaft wurde auf Gewalt aufgebaut. Die Gangkultur in den USA ist über hundert Jahre alt – egal ob sie afroamerikanische, asiatische, italienische oder lateinamerikanische Ursprünge hat. Unsere ganze Unterhaltungsindustrie ist auf Gewalt ausgerichtet.

 
Deine Großeltern kamen als haitianische Einwanderer in die USA. Was sind deine Bezugspunkte zur karibischen Kultur?
Leider bin ich noch nie wirklich verreist und ich denke, ich würde davor noch ein paar andere Orte sehen wollen, anstatt ein karibisches Ghetto zu besuchen. (lacht) So wie ich aufgewachsen bin, spielte der karibische kulturelle Background kaum eine Rolle. Die Zeiten waren wirklich hart und viele verdrängen sogar ihre Herkunft. Ich wusste sehr lange gar nicht, dass mein Opa aus Haiti stammt. Anstatt karibischer Küche gab es McDonald’s-Burger. (lacht) Ich halte es aber mittlerweile für wichtig, zu wissen, wo man herkommt. Es hilft uns, Dinge zu verstehen, Zusammenhänge herzustellen. Je weiter wir zusammen zurückschauen und die Geschichte studieren, umso näher kommen wir uns als Menschheit.

Angeblich schaust du dich gerade nach einem Appartement in Los Angeles um. Schon fündig geworden?
Nicht mehr, das war einfach die Hölle – der Immobilienpreis, der Stress. Ich hab es nicht übers Herz gebracht, wegzuziehen und lebe jetzt immer noch in derselben Gegend in Long Beach mit meiner Mutter.

Inwieweit war der G-Funk der zweiten Generation von Westküsten-Künstlern für dich als Kind prägend?
Ich war ja damals noch nicht auf der Welt. Vieles davon verstand ich gar nicht. Aber natürlich respektiere ich dieses Genre als identitätsstiftend für die Westküste. Ich sehe G-Funk nicht als direkten Einfluss, ich wuchs im Internetzeitalter auf und hörte wirklich alles. Du musst dir vorstellen, dass ich 1993 geboren bin und gerade mal sechs Jahre alt war, als Dres Album »2001« erschien, sprich: Der erste Dre-Track, den ich wissentlich gehört habe, war »Keep Their Heads Ringing« vom »Friday«-Soundtrack.

Du wirst von vielen als schüchtern und zurückhaltend beschrieben. Wie introspektiv kannst du als Figur des öffentlichen Lebens sein, wenn du mittlerweile schon auf der Straße erkannt wirst?
Ich bin glücklicherweise in der Situation, dass die Leute, die mich ansprechen, super höflich und freundlich sind. Daher muss ich mich nie verstellen. Wenn die Leute zu dir aufschauen, dir aber nicht mehr auf Augen-höhe begegnen können, verlierst du an Einfluss, den du auf ihr Leben haben könntest. Man sollte den Zuhörern die Möglichkeit geben, mit dem Künstler zu wachsen, aber sich nie verändern oder über die Community stellen.

Earl, mit dem dich eine enge Freundschaft verbindet und auf dessen Soloalben du immer vertreten warst, wird ja eine ähnliche Zurückhaltung, wenn nicht gar ein Autismus nachgesagt. Versteht ihr euch deshalb so gut?
Lustigerweise sind Thebe [Earls bürgerlicher Name; Anm. d. Verf.] und ich uns gar nicht ähnlich. Er ist sehr verständnisvoll, super intelligent, hochbegabt und wahrscheinlich der beste Freund, den ich über die Musik kennenlernte. Unsere Freundschaft geht aber darüber hinaus. Wir stammen ja aus ganz unterschiedlichen Verhältnissen: Mein Vater war als Gang-Banger im Gefängnis, sein Vater ist ein Poet und Polit-Aktivist. Und trotzdem teilen wir sehr viele Ansichten und den musikalischen Geschmack.

Ich fand es sehr interessant, dass du deine Texte schreibst, bevor du Beats pickst. Wieso diese Herangehensweise?
Es kommt darauf an, was man aus dem Stück machen will. So wähle ich verschiedene Ansätze, um Musik zu erschaffen. Musik kann durch die Geschichte inspiriert sein – oder umgekehrt: Das Schreiben und das Geschehen werden von der Musik diktiert. Natürlich funktioniert ein Track nur über Emotionen, und die können auf verschiedenste Weisen entstehen. Bei mir steht immer eine Geschichte im Fokus, die erzählt werden will.

No I.D. stand dir als Executive Producer für dein Album zur Seite. War er eine Art Mentor für dich?
Er hat, gemeinsam mit Christian Rich, den Großteil des Albums produziert. Die Platte entstand in einer eingeschworenen Gemeinschaft. No I.D. lebt ja mittlerweile in L.A., arbeitet als Vice President für Def Jam und war so in alle wichtigen und kreativen Entscheidungsprozesse des Albums eingebunden. Als musikalischen Mentor sehe ich ihn aber nicht. Was soll das überhaupt sein? Die Musik kommt ja aus meinem Inneren und verarbeitet das, was ich gesehen und durchlebt habe. Aber was geschäftliche und karrieretechnische Entscheidungen betrifft, hilft er mir enorm mit seinem Rat weiter. Er will, dass ich meine Musik so ehrlich und ungeschönt wie möglich gestalte.

Du hast ja bereits mit Mac Miller, unter seinem Producer-Alter-Ego Larry Fisherman, für die EP »Stolen Youth« und auf »Winter In Prague« mit ­Michael Uzowuru ­zusammengearbeitet. Bevorzugst du die ­projektbezogene ­Zusammenarbeit mit einem ­Produzenten
Das ist nicht unbedingt notwendig, war aber zu der Zeit einfach das, was mir zur Verfügung stand. Ich will nicht als der Typ bekannt sein, der immer nur mit einem Produzenten arbeiten kann. Das würde mich limitieren. Aber diese Projekte haben eine ganz besondere Grundstimmung und Atmosphäre, die anders nicht möglich gewesen wäre.

Dein Debütalbum trägt den Titel »Summertime 06«. Welche Erinnerungen hast du an diesen Sommer?
Ich wollte immer auf meinem ersten Album meine Coming-Of-Age-Geschichte erzählen, als Erklärung und Einleitung für mich als Künstler. Also suchte ich nach einem Zeitraum, der den Wandel meiner Persönlichkeit und den Verlust meiner Unschuld am besten beschreibt. Der Sommer 2006 stellt für mich einfach einen großen Einschnitt dar: das Ende meiner Jugendlichkeit, die neuen Verantwortungen als Erwachsener. Die Freude, Ignoranz und Naivität, mit der man Dinge angeht, war plötzlich weg. Zu der Zeit verschob sich mein ganzer Fokus, denn davor wollte ich nur Playstation spielen und Kind sein. Ich finde die Perspektive interessant: Diese Zeit jetzt mit etwas Abstand zu betrachten und auf dem Album gewisse Lehren daraus zu ziehen.

 
Alles was du vor dem Album veröffentlicht hast, beschreibst du als Prelude, also Vorspiel für den großen Akt: das Debütalbum.
Was ich damit meine, ist, dass mein erstes Album mein ganzes bisheriges Leben beschreibt und auf den Punkt bringt. Die EPs, Feature-Tracks und Projekte, die ich davor gemacht habe, waren eine Art Warmlaufen, Sparring-Boxen für den großen Kampf. Ich habe rumprobiert, getestet, wo ich hin will und was ich zu sagen habe. Wenn die Leute mich messen wollen, sollen sie das an »Summertime 06« tun.

Du warst letztes Jahr zweimal auf dem Common-Album »Nobody’s Smiling« und hast den Track »Kingdom« mit ihm, Jay Electronica und einem großen Gospelchor live bei den BET-Awards gespielt. Am Ende eures Auftritts betraten die Eltern des ermordeten Mike Brown die Bühne – ein hochemotionaler Moment und ein Politikum, das die Ohnmacht und Betroffenheit der schwarzen Community zum Ausdruck brachte.
Der Moment war größer als die Musik und alles, was ich bisher erreicht habe. Er war ein Statement, über das landesweit berichtet wurde. Ich will den Auftritt aber gar nicht groß mit mir in Verbindung bringen oder als mein Karrierehighlight beschreiben, weil es nicht um uns als Künstler oder den Song an sich ging. Es ging um die Geste und die Botschaft: dass das Leben schwarzer Menschen den gleichen Wert hat, wie das jeder anderen Ethnie auch.

Du hast Urban Music mal mit einem Zoo verglichen, ähnlich der Szene im »Señorita«-Video, wo am Ende die Familie als unbeteiligte Zuschauer das Ghetto-Szenario aus sicherer Entfernung betrachtet.
Schau dir Suge Knight, Gucci Mane oder all die anderen Gangstarapper an: Das ist Unterhaltungsmusik und die Glorifizierung dessen, was wir täglich schmerzhaft erleben müssen. Sobald wir das aber übernehmen, ohne es zu hinterfragen, und ein Verbrechen begehen, werden wir zum Tier. Zu einem Löwen im Zoo, der von außen begafft wird. Wir bezahlen und füttern dieses Tier, obwohl wir wissen, zu was es imstande ist. Übertragen auf die Musik bedeutet das: Es wird nicht ernst genommen, als Entertainment abgestuft und hat somit keine Konsequenzen. Wir können auf Youtube sehen, wie Löwen auf die Jagd gehen. Sobald wir aber selbst mal in den Dschungel gehen und angegriffen werden, verändert sich plötzlich alles. Man ist kein Beobachter mehr, sondern Teilnehmer des Geschehens. Ich bin im Dschungel aufgewachsen. Wieso sollte ich also in den Zoo gehen? ◘

 
Dieses Interview erschien in JUICE #168 (hier versandkostenfrei nachbestellen).
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