Marteria: »Ich bin nicht das perfekte Vorbild, aber ich mache mir über viele Dinge einen Kopf« // Titelstory

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Der Umhang aus grünem Samt hängt im Schrank, die lila Wolken haben sich verzogen. Jetzt geht es wieder ums Ganze, das Große im Kleinen. In den vergangenen Jahren hat sich Marten Laciny ausgetobt und ausprobiert, stand auf unzähligen Bühnen, ist viel gereist und hat mit den Toten Hosen an ­»Ballast der Republik« geschrieben. Erst danach war die Zeit reif für eine dritte Marteria-Platte. Es ist eine ­Fortsetzung geworden: »Zum Glück in die Zukunft 2«.

Den Grund, den Marteria dafür anführt, ist so einfach wie einleuchtend: »Bei ›Zurück in die Zukunft‹ war der zweite Teil auch der ­beste.« Dennoch ist die Platte alles andere als der zweite Aufguss von etwas ­Bewährtem – obwohl die Tür zur ­seichten Glitzerwelt durch den Platin-Erfolg mit Yasha und Miss Platnum seit Sommer 2012 sperrangelweit offen steht. »Viele denken: ›Ich nehm mit, was ich kann, solange es läuft.‹ Von diesem Gedanken sollte man sich ­befreien.« Dass Marteria das längst ­geschafft hat, stellt »ZGIDZ2« eindrucksvoll unter Beweis. Denn auch diese Platte ­gewährt tiefe Einblicke in die Persönlichkeit des Künstlers, behält dabei jedoch stets auch die größeren Zusammenhänge im Blickfeld. Kurzum: Das dritte Marteria-­Album ist wieder ein weg­weisendes Statement ­geworden, vor dem die HipHop-Szene ­erneut den Hut ziehen wird. »Zum Glück in die Zukunft 2« könnte dabei als Titel treffender kaum sein, klingt diese Platte ­inhaltlich doch eher nach einem ­erneuten Aufbruch vom Punkt Null denn nach Ankunft.

Auch weil das Reisen thematisch wie auch visuell seinem Album einen Rahmen gibt, handelt das folgende Interview, ent­standen zwischen zwei Trägern Bier in Martens Berliner Wohnung, in erster Linie davon, was man im Zuge solcher Erfahrungen über sich selbst, den Menschen und die Welt lernt. Zum Schluss führt es dennoch zurück in das Zuhause der Familie Laciny, in die ost­deutsche Provinz. Persönliches und Allgemein­gültiges, kaum einer verbindet diese häufig weit entfernten Pole so gekonnt und mit so viel Spaß an der Sache wie Marteria.

Als du uns »Zum Glück in die Zukunft 2« das erste Mal vorgespielt hast, nanntest du es eine Boombap-Storytelling-Platte. Warum musste dieses Album so klingen?
Das war eine Entscheidung für den Vibe. Wir haben uns überlegt, was wir bisher gemacht haben, und ich wollte auf keinen Fall mit dem fünften »Verstrahlt« oder dem ­achten »Lila Wolken« um die Ecke kommen. Man fühlt sich auch nicht geil, wenn man darauf vertraut, dass man weiter irgendwelche Platin-Singles schreibt. Am Ende dachte ich mir: Wenn du schon findest, dass die deutschsprachige Musik wegen ihrer Belanglosigkeit irgendwie nervt, vor allem im Pop-Bereich, aber auch im Rap, dann setze jetzt eben ein Statement.

Was genau meinst du mit Belanglosigkeit?
Die Themen sind so klein. Deutsche Musik puncht gerade nicht. Das gilt sogar für Gangsta-Rap. Wenn du Musik machst, in der du Mütter fickst, dann kann das cool sein, aber dann ist das doch nicht ernst ­gemeint. Guter Gangsta-Rap, das ist für mich ein Song wie »Parallelen« von Celo & Abdi. Die Krauts hören zwar nicht den ganzen Tag lang Deutschrap, aber auch die haben den gefeiert. Der Track hat ein ­wichtiges Thema, und das merken auch Leute, die sich nicht nur für HipHop interessieren.

Dann sind dir sowohl Straßenrap als auch die ganzen Platten über Befindlichkeiten und Gefühle zu harmlos?
Genau. Ich wollte nicht bloß erzählen, was ich alles erreicht und wie viel Kohle ich habe. »Zum Glück in die Zukunft 2« sollte so ­klingen, als wäre es mein Debüt­album. Nicht, dass ich das hätte planen ­müssen. Das ­passierte einfach. Nimm zum ­Beispiel den Song »Pionier«: Da war ich in ­Argentinien und saß in einem Taxi. Wir hielten direkt ­neben einer Bushalte­stelle, an der gerade 25 Leute brav in einer Reihe ­warteten. Ich sah diesen Menschen an, dass sie ­unglücklich sind: Es ist 17 Uhr, man kommt von der ­Arbeit, es ist Rezession, ­alles nicht so geil. In dieser Sekunde ­entstand der Song: (Fängt an zu rappen) »Seh in die Gesichter all der Leute, könnte ihre Gedanken lesen, wenn ich wollte.« So fühlte ich mich wirklich. Das war ein Gefühl, das ich in Berlin so nie gespürt habe. ­Natürlich checkt man auch bei Typen, die man in der U-Bahn sieht, wenn es ­denen gerade nicht gut geht. Aber so klar und eindeutig wie da, das war neu für mich.

Diesen Song hättest du in Berlin nicht schreiben können?
Ich habe die komplette Platte während ­meiner Reisen geschrieben. Für mein erstes Album sind wir damals nach Dänemark ­gefahren, haben uns mit Miss Platnum in ­alten Gutshäusern eingemietet, und mit ­Peter Fox lebten wir in der Uckermark in ­einer Kommune. Die meisten Song-Ideen der neuen Platte trage ich bereits seit der ersten »ZGIDZ« mit mir herum. Damals habe ich allerdings nie die richtigen Worte ge­funden. Das ist mir erst auf Reisen gelungen.

Wie würdest du das beschreiben, was mit dir auf diesen Reisen passiert?
Du wirst offener, weil du merkst, dass die grundlegenden Probleme des Menschen überall dieselben sind. Zudem ist mir erst unterwegs aufgefallen, dass ich auf der ersten Platte noch nicht alles gesagt hatte. »Zum Glück in die Zukunft« ist ja schon für sich ein Statement, und die Themen, die mit dem Titel in Verbindung stehen, die hatte ich bisher nicht zu Ende erzählt. Deswegen gibt es auf dem neuen Album zum Beispiel ein Prequel zu »Louis« vom ersten Teil. Der hätte eigentlich schon auf der ersten Platte drauf sein müssen, aber ich habe es damals nicht geschafft, das auf den Punkt zu bringen, was mir mit 24 durch den Kopf ging, als ich noch von Hartz IV lebte und plötzlich erfuhr, dass ich Vater werden würde.

Warum konntest du den Song jetzt schreiben?
Die Wörter kamen einfach. Ein so ­persönlicher Song braucht Genauigkeit, und zu der war ich vorher nicht in der Lage. Ich habe allgemein sehr viele spannende Song-Ideen, die ich bisher nicht fertig schreiben konnte. Nimm nur das Problem mit den Fußball­liedern. Ich habe zwar »Maradona Shirt«, aber auch der war nicht gut genug für die letzte Platte. Du schaffst es einfach nicht, diesen schrecklichen Pathos zu eliminieren. Dabei bin ich doch der Fußball-Bernd. Aber ein Lied zu schreiben, das nicht diesen peinlichen Heroismus in sich trägt, ist ­verdammt schwer. Auch wenn man diese Seite als Mensch in sich trägt – Musik darf weder peinlich, noch sollte sie für ­13-Jährige geschrieben sein. Das ist für mich genauso schlimm, wie wenn man immer darauf ­achtet, dass alle einen richtig verstehen.

Das schaffst du aber dennoch offensichtlich ganz gut.
Klar, das kommt durch das Reisen. ­Irgendwie fliegt in der Ferne die Sprache besser. Die Songs klingen befreiter, und das merkt auch der Hörer. Ich liebe die erste Platte, aber damals war ich ­stimmlich noch viel unfreier. Ich rappe heute ganz anders. Ich würde sagen, ich flowe ­lebensnaher. Mal schnell, mal langsam, mal ­imposant. Früher hatte ich Angst, mit meiner tiefen Stimme nichts reißen zu können. Diese Power, diesen Druck habe ich lange nur als Marsi hinbekommen. Mittlerweile geht das auch als Marteria. Deswegen klingt diese Platte wesentlich vielseitiger.

Wie haben sich überhaupt die ­veränderten Umstände auf deine Musik ausgewirkt? Du bist heute immerhin kein Newcomer mehr.
Natürlich bin ich in einer ganz anderen Situation als damals. Als ich anfing, mit den Krauts zu arbeiten, brachte mir Monk erst mal sehr viel über das Schreiben von Songs bei. Ich war Schüler – bis zur ­Veröffentlichung von »ZGIDZ«. Ich habe alles aufgesaugt, was mir Jan Delay, Tropf oder Peter Fox gezeigt haben. Vorher ­haben wir Marsi-Platten in drei, vier Wochen gemacht. Und dann saß ich auf einmal zwei Jahre lang an einem Album. Heute habe ich all diese Erfahrungen gemacht, 200 ­Konzerte gespielt, bei zig Platten mit­geschrieben und konnte einfach ganz ­entspannt ins Krauts-Studio gehen und mit den Jungs geile, unverkopfte Mucke ­machen. Dieses Mal hatte ich auch gleich am Anfang schon sieben, acht Skizzen dabei. Danach hatten wir ­einfach eine gute Zeit. Beats gehört, an denen geschraubt, abgefeiert, Bier ­getrunken und uns angelacht.

Deine Reisen spielen in der ganzen Inszenierung des Albums eine große Rolle. Wo hat das seinen Ursprung?
Zum Teil auf meiner Uganda-Reise mit ­Maeckes und Viva Con Agua. Auf der hat Paul [Ripke, Fotograf, Anm. d. Verf.] einen Jungen mit Public-Enemy-mäßigem ­Oberteil entdeckt und ihn fotografiert. Auf dem Bild hat dieser Junge eine Zwille in der Hand, und mir war sofort klar: Das wird das Cover. Paul hat dann auf ­anderen Reisen immer wieder Kids mit Zwille fotografiert. Die stehen jetzt als Symbol für diese Platte.

Warum eigentlich?
Dieser Junge steht für die Generation nach der unseren, die das ausbaden muss, was wir gerade verbocken. Dieses ­Ausbaden, das wird etwas Härteres sein, eine ­Rebellion. Das erkennst du natürlich nicht, wenn du nur in Deutschland bist und mal einen Bericht aus Istanbul im Fernsehen siehst. Wenn du aber die Welt bereist, dann spürst du an vielen Orten eine ähnliche Grundstimmung. Klar, Brandherde gab es schon immer. Aber im Moment ist das irgendwie anders. In Europa kann man noch ganz gut leben, auch wenn immer weniger Menschen ihren Job und ihre Perspektive verlieren. Aber als Maeckes und ich in Uganda eine Deutschstunde an einer Uni gegeben haben, wurde draußen gegen erhöhte Studiengebühren protestiert, worauf die Armee mit Tränengasbeschuss reagiert hat.

Wie groß ist der Einfluss dieses Revolutions­gedankens auf das Album?
Es ist nicht so, als würde es ­ausschließlich um die großen Probleme der Welt ­gehen. Aber die meisten Themen sind mir ­trotzdem sehr nah, weil ich als Marteria nur ­autobiografische Songs schreiben kann. Ich möchte keine Tracks machen, die ­sphärisch im Nichts schweben, die im ­Kleinen steckenbleiben. Darum die Weltreise, um diesen Blick auf das Große zu finden.

Erzähl doch mal was vom Ablauf dieser Reise.
Wir haben jedenfalls nicht die ganze Zeit an Hotelpools gelegen. Im Gegenteil. Paul und ich haben immer in billigen Guest Houses gepennt, möglichst nah an den Leuten. Wir wollten nicht in die Touri-Viertel, sondern in Hood-Gegenden, um mit Menschen von dort in Kontakt zu kommen und mit denen Virals und Videos zu drehen. In Rio waren wir zum Beispiel in Rocinha, dem größten Favela der Welt. Michael Jackson hat dort das Video zu »They Don’t Care About Us« gedreht und musste angeblich die örtlichen Mafia­bosse bestechen, um die Erlaubnis dafür zu bekommen. Über dem Viertel ­wurde sogar mal ein Polizeihelikopter mit einer Bazooka abgeschossen. Trotzdem haben wir dort gedreht und direkt am ­ersten Abend die nettesten und liebe­vollsten Menschen überhaupt kennengelernt. Wenn du dich an so einem Ort wie ein ganz normaler Mensch gibst, ohne Nikes an den Füßen und nicht mit einer Produktions­firma da durchrennst, dann läuft das auch. ­Erlebnisse wie dieses waren für meine Sicht auf die Welt total wichtig. Dadurch habe ich gemerkt, dass die Menschen im Endeffekt überall auf der Welt mit demselben Scheiß zu kämpfen haben – wenn man es mal auf das ­Wesentliche herunter­bricht. Das hat mich in der Ansicht ­bestätigt, dass eine Marteria-Platte nicht nur biografisch und ehrlich sein, ­sondern auch wehtun muss. Ich muss mich ­angreifbar machen, anders geht es nicht. Einfach nur rappen, das können tausend andere besser.

Was verbockt unsere Generation eigentlich konkret?
Ich bin selbst kein Messias und ­handle oft auch nur auf der Grundlage von ­gefährlichem Halbwissen. So esse ich zum Beispiel keinen Thunfisch mehr, weil ich die Fangmethoden beschissen finde. Dafür esse ich aber alles andere. Ich bilde mir ein, dass ich gut bin, indem ich ­moralisch richtige Dinge tue, aber am Ende ist das alles nur halb-geil. Genau wie mit dem Auto: Ich habe keins, aber wenn mir jetzt irgendwer einen schönen, alten Benz hinstellt, dann würde ich den auch fahren. Ich bin nicht das perfekte Vorbild, aber ich mache mir über viele Dinge einen Kopf.

Gibt es ein Anliegen, das dir besonders wichtig ist?
Ja. Ich möchte, dass Schüler ein ­Austauschjahr in der Dritten Welt machen können. Das möchte ich voranbringen. Ein Austauschjahr in den Staaten mag eine tolle Erfahrung sein, aber im Endeffekt hast du da die gleiche McDonald’s-Konsum­gesellschaft wie hier. Wenn die Kids aber in der zehnten Klasse nach Uganda gehen könnten, dann würden sie mit einem krass anderen Gedankengut zurückkommen. Sie würden anders darüber denken, was Glück bedeutet, und was der Mensch wirklich braucht. Um zu wissen, was im Leben wichtig ist, muss man die Welt gesehen haben.

Was hat es eigentlich mit den Länderpunkten auf sich?
Das Spiel haben wir als Vorbereitung für den Tod erfunden. Wenn du gestorben bist, wird auf deiner Beerdigung deine Länderpunkte-Liste vorgelesen, und bei Sonderpunkten wird geklatscht. (lacht) Besonders glücklich hüpft man in die Kiste, wenn man alle Punkte gesammelt hat. Das alles ist natürlich nur Quatsch, aber auch verdammt spaßig. Sonderpunkte gibt es für Länder, die heute nicht mehr existieren und für den Gefahrenzuschlag bei Ländern wie Nordkorea oder Somalia.

Was für Punkte habt ihr denn im Rahmen dieser Weltreise gesammelt?
Los ging es in der Atacama-Wüste in Chile. Wir waren bei San Pedro, in einer Gegend die Valle de la Luna genannt wird, weil sie an eine Mondlandschaft erinnert. Das ist der verrückteste Ort der Welt. Wir haben versucht, solche Naturkulissen immer wieder mit geilen, urbanen Landschaften zu kombinieren. Später waren wir dann eben in Rio, aber auch Mexiko City, Alaska, Bangkok und Kathmandu. Von dort aus sind wir nach Lukla geflogen [Landebahn zwischen einer Schlucht und einem Berg in Nepal, Anm. d. Verf.] und hoch bis zum Basis-Camp des Mount Everest.

Welcher Ort hat euch am meisten ­beeindruckt?
Die waren alle krass. In Alaska sind wir zu einem Gletscher geflogen, dort stand ich auf einem Stein, über mir kreiste ein ­Mini-Helikopter, und um mich herum nur Eisschollen und Robben. Ich habe dort einen Song performt und ­zwischendurch brach immer wieder ein Stück vom ­Gletscher weg. Später erzählte mir unser Pilot, der Gletscher wäre vor 20 ­Jahren mal 800 Meter länger ­gewesen. Das war einer der vielen ­Momente, die mich zum Nachdenken gebracht haben.

Wer hatte überhaupt die Idee, die Fotos und Videos für das Album auf Reisen zu machen?
Paul und ich wollten das beide. Die Idee war: Wir fahren für jedes virale Video in ein anderes Land. Am Anfang dachten wir, wir machen das nur in Europa. Dann wollten wir doch das ganze Programm. Wir sind in 21 Tagen 22 Mal geflogen. Der ­längste Flug dauerte 46 Stunden, von Alaska bis Nepal. Einige Sachen haben auch aus Planungsgründen zeitlich nicht geklappt, zum Beispiel Nordkorea. Aber auch so haben wir oft genug auf irgend­welchen Flughäfen gepennt.

Wer hat eigentlich mehr Länderpunkte, du oder Paul?
Ripke natürlich, der Typ ist schließlich Fotograf.
Chris Berndt [Marterias Manager, Anm. d. Verf.]: Farin Urlaub hat 243 Länderpunkte.
Marteria: Ja, es gibt aber nur 190 Länder.
Chris: Wirklich?
Marteria: Der hat 130 oder so. Das ist das krasseste, was es gibt.
Chris: Dann hab ich 100 zu viel gesagt, oder was?
Marteria: Es gibt nur 196 UN-Länder. Die Zahl schwankt immer zwischen 192 und 198.

Dass du diese Zahlen überhaupt im Kopf hast.
Ich muss die alle noch abarbeiten, die ist ja zum Abrubbeln. (zeigt auf eine Weltkarte an der Wand) Schau mal, wie low das aussieht. Wenn ich es nach Russland schaffe, habe ich allerdings direkt die halbe Welt weggerubbelt. Bisher habe ich 41 Punkte. Nächstes Jahr will ich Australien, Neuseeland und Fiji abarbeiten. Und nach Südafrika, Namibia und Botswana. Gerade nach Namibia will ich unbedingt. Und nach Südafrika auch, um herauszufinden, ob es dort cool oder immer noch so beschissen rassistisch ist.

Zumindest leben arm und reich weiterhin in unterschiedlichen Welten.
Ich muss es selbst erleben. Es bringt nichts, wenn man über solche Dinge nur Meinungen von anderen hört. Uganda war wirklich der Knaller. Ich sage aber eh bei jedem Land aufs Neue: »Also Paul, hier möchte ich gerne mal ein Jahr lang leben. Gib mal noch ein Bier!«

Was sagt Paul dann?
Der lacht mich aus. Der sagt immer schon am Flughafen: »Und hier würdest du auch gerne mal leben, oder?« Dann sitzen wir im Himalaja auf 4.000 Meter Höhe, ­leiden wegen der dünnen Luft, und dann kommt auch wieder: »Und hier …« Wenn man von dort wieder runterkommt, hat man auf jeden Fall einen ruhigen Puls. An das Atmen dort musste man sich wirklich gewöhnen. Chris Berndt würde da flach liegen, nicht wahr, Chris?
Chris: Vor allem nach sieben Bier.
Marteria: Everest Beer. Das heißt dort wirklich so. Genauso geil ist in Brasilien das Antartica-Bier. Das Logo sind zwei Pinguine. (lacht)

Schmeckt das?
Es gibt zwei Sorten: eine davon schmeckt mir, die andere nicht. Wobei mir geiles, kaltes Bier in einem anderen Land immer schmeckt – selbst wenn es im Vergleich wahrscheinlich schlechter ist. Die Euphorie beim Trinken ist anderswo auf der Welt einfach größer.

Wenn du dieses Bier hier trinken ­würdest, wäre es nicht dasselbe?
Hier wäre das ein total beschissenes Bier. Aber wenn dir ein Typ auf der Straße in Brasilien ein eiskaltes Antartica in die Hand drückt, dann ist es in dem Moment das beste Bier der Welt.

Mich interessiert auch deine Freundschaft zu Campino von den Toten Hosen. Habt ihr euch schon mal über die Langlebigkeit seiner Karriere unterhalten? War er für dich auch wieder so eine Art Lehrer wie damals Jan Delay oder Peter Fox?
Das schon, aber nicht, indem er mir ­irgendetwas erzählt hat. Was ich bei den Hosen beeindruckend fand, war, wie krass diese Crew zusammenhält. Und zwar nicht nur die Musiker, da gehören auch die ­Booker, die Leute beim Label und die Securities dazu. Dafür wollen mein Umfeld und ich auch stehen. Wir achten sehr ­darauf, dass sich alle Beteiligten wohl fühlen. Bei den Toten Hosen funktioniert das auf diese Weise seit 30 Jahren. Ich habe bei denen viele Parallelen zu unserer kleinen Musikerfamilie entdeckt. Die Hosen können auf das, was sie erreicht haben, unfassbar stolz sein. Die haben auf ihrer aktuellen Tour eine Million Tickets verkauft und sind immer noch ein total familiärer Verein. Das ist perfekt. Eine zweite Familie, in der sich alle respektvoll benehmen, und in der es keine Allüren gibt. Wenn einer Scheiße baut oder viele uncoole Moves macht, dann muss man das eben irgendwann ansprechen. In einer richtigen Beziehung macht man ja auch nicht direkt Schluss.

Das gilt auch für FOUR Music, oder?
Auf jeden Fall. Bevor ich die erste Marteria-Platte gemacht habe, war ich noch bei Universal unter Vertrag. Volker Mietke, der jetzige Chef von FOUR, hat damals auch dort gearbeitet. Zu ihm hatte ich direkt ein enges Verhältnis. Als er Universal verließ, nahm er mich mit und gab mir eine neue Chance. Der hat an einen kleinen Trottel wie mich geglaubt, dafür bin ich ihm sehr dankbar. Und deswegen werde ich ihm auch ein Leben lang loyal bleiben, wenn er mir jetzt nicht sagt, dass ich für die nächste Platte nur drei Mohrrüben bekomme. Man darf sich als Musiker nicht in seine Kunst reinreden lassen, und FOUR tut das nicht. Das ist eine innige Freundschaft, eine Verbundenheit, für die ich sehr dankbar bin. Tobi Zumak, mein alter Manager aus Zeiten der ersten Marsi-Platte, arbeitet ja auch bei FOUR. Ich würde bei denen einen ­lebenslangen Vertrag unterschreiben, selbst wenn ich anderswo fünfmal so viel Geld ­bekommen würde. Das ist der Paolo-­Maldini-Vibe: Immer bei Milan bleiben.

Zurück zur Langlebigkeit – kannst du es dir vorstellen, in 20 Jahren noch auf der Bühne zu stehen?
Da denkt man schon drüber nach. 2010, als »ZGIDZ« heraus kam, war ich quasi noch ein Newcomer – am Start bin ich also erst seit dreieinhalb Jahren. Ich fühle mich zwar noch fresh und jung, bin aber immerhin schon 30 und damit schon fast ein alter Hase. Musik werde ich so ­lange machen, bis mir das keinen Spaß mehr bringt. Ich werde auf der Bühne stehen, bis ich Wasser im Knie habe. Aber natürlich kann so vieles passieren. Umso dankbarer sollte man dafür sein, dass man Geld damit verdienen kann, auf der Bühne zu stehen.

Hast du dir schon mal vorgestellt, wie 2040 auf irgendeinem Dorffest »Endboss« läuft, und ein 45-Jähriger mitrappt und sich denkt: »Geil, das war meine Jugend«?
Das ist eine unfassbar schöne Vorstellung. Natürlich veränderst du dich mit jeder Platte; und mit jedem Lebensjahr, mit dem man als Künstler reift. »Zum Glück in die Zukunft 2« ist die erste Platte, die genau so klingt, wie ich mir das gewünscht habe. Früher hat mich immer irgendein Lied genervt, dieses Mal bin ich Superfan. Wisst ihr, was ich ­immer mal machen wollte? Eine Platte wie »A Prince Among Thieves« [von Prince Paul, Anm. d. Verf.]. Das ist mein großes Ziel. Ein Album mit vielen Feature-Gästen, auf dem jeder eine andere Figur spielt. Ewa, Hafti, Abdi, aber auch Cas. Der eine spielt den Dealer, der andere den Bullen, und am Ende ergibt das eine Geschichte. Das wäre zwar ein Riesen-Akt und ­schwierig zu realisieren, weil sich alle an ihre Deadlines halten müssen. Aber i­rgendwann mache ich das wahrscheinlich noch.

Vielleicht müsstest du dafür eine neue Kunstfigur erfinden – neben Marsimoto.
Ja, da bin ich dran. (lacht) Das ist genau wie bei der Platte mit Cas, darüber haben wir ja schon tausendmal gesprochen. Aber das ist kompliziert, denn da sehe ich Marsi eigentlich nur als Feature. Marsi und ­Casper – da würden Welten ­aufeinanderprallen. Marteria und Casper, das klingt vom Gefühl her logischer. Aber man muss sowieso erstmal schauen, wie man aus so etwas eine unfassbare Sache machen kann. Das müsste natürlich eine Königsplatte werden. Die King Cobra. Übelst Weltraum. (lacht)

Was für offene Wünsche hast du noch?
Ich würde total gerne nach Köpenick ziehen. Dort gibt es sehr viel Wasser, du kannst angeln und trotzdem bist du total nah an Kreuzberg-Friedrichshain.

Man nennt die Gegend dort ja auch das Venedig Berlins.
Das ist auch geil dort und total ­unterschätzt: Friedrichshagen, der ­Müggelsee mit seinen Nebenseen. Ich meine: Hallo! Wie geil ist das denn? Gerade wenn du Angler werden willst, ist das doch prima. Früher habe ich ja immer davon geträumt, mal auf das JUICE-Cover zu kommen. Dann hatte ich das Ziel, mal einen Song auf einem FIFA-Soundtrack zu haben. Mittlerweile hat beides geklappt. Und jetzt wünsche ich mir, irgendwann mal auf dem Cover des Blinker zu landen. Auf der Angler-JUICE, wenn man so will.

Bist du selbst passionierter Hobbyangler?
Das habe ich für mich als das neue geile Ding entdeckt! Ich habe schon früher mal eine Zeit lang geangelt, aber dann taten mir irgendwann die Fische leid und ich habe aufgehört. Aber vor einigen Monaten habe ich gemerkt, dass mich das irgendwie trotzdem noch reizt.

Also machst du jetzt auf Sportangler und lässt die Fische dann wieder frei?
Catch & Release? Nein, das finde ich nicht gut. Der Fisch wird dann auch wirklich gegessen, hier bei mir zu Hause. Letztens haben wir einen richtig schönen Hecht gefangen. Den haben wir direkt mediterran eingelegt, und am nächsten Abend war er das Geburtstagsessen bei Peter Fox. Der Fisch muss ja nicht anbeißen, sage ich mir, um das mit meinem Gewissen verein­baren zu können. Irgendwie finde ich es geil, den selbstgefangenen Fisch dann auch zu essen. Am besten hat man dazu noch ­einen Garten mit ­Radieschen und Kartoffeln. Dann isst man nur noch das, was man selbst angelt und anbaut. Eine Traumvorstellung.

Das gehört ja für immer mehr Menschen auch zu einem guten Lifestyle dazu, Bio und regional zu essen.
Schon. Ich gehe selbst regelmäßig in so einen LPG-Supermarkt, einfach, weil das der einzige Laden in direkter Nähe zu meinem Zuhause ist. Das Problem an dem Laden: Da ist einfach niemand glücklich. Die Menschen dort sind alle sehr blass und essen ihren Dinkel-Kram, wirken aber überhaupt nicht so happy, wie sie sich das selbst ­vermutlich einbilden. Aber in den ­Supermarkt muss man heutzutage ­eigentlich eh nicht mehr. Ich habe erst ­letztens REWE Online entdeckt. Kennt ihr das?

Bisher nicht.
Das hat meinen ganzen Freundeskreis revolutioniert. Du hast da einen Online-­Einkaufszettel, suchst dir eine Lieferzeit aus, und dann kommt ein Typ mit drei ­Tüten und bringt dir deinen Einkauf direkt zum Kühlschrank. Gerade für Rentner ist das perfekt, falls sie mit dem Internet umgehen können. Aber nie wieder einkaufen gehen, das ist doch ein Traum! Obwohl du natürlich anfängst, dann immer wieder dasselbe einzukaufen, weil du deine abgespeicherten Einkaufszettel hast. Also ist es wohl doch eigentlich am besten, alles selbst anzubauen. Zum Glück habe ich mir gerade erst ein kleines Häuschen in Meck-Pomm gekauft, direkt an der Müritz, in der alten Heimat sozusagen. Da ticken die Uhren ohnehin ganz anders. Da geht man morgens rüber zu Bauer Eugen und besorgt sich ein paar frische Eier. Einmal in der Woche kommt ein Wagen vorbei, bei dem man Bier und so kaufen kann. Das ist dort wie 1830. Es gibt nur zehn Häuser, den See, die Natur und sonst nix.

Die pure Idylle.
Total stark. Für mich bedeutet das ­natürlich auch Heimat. Außerdem ist dort alles ­günstiger, man wird vom Hahn geweckt und hört und sieht nur Natur. Da stehst du auf und siehst Adler über den See fliegen, und das nur neunzig Minuten von Berlin entfernt. Um die Stadt herum gibt es so viele schöne Ecken, die Hügel und ­Mohnfelder in der Uckermark zum ­Beispiel. Dort sieht alles so aus wie in Sizilien. Überall gibt es schöne Häuser und Hippie-Aussteiger-Kommunen, aber auch viele Berliner. Diese ganzen ­Architekten und so, die kommen gerade alle aus ­Hamburg und Berlin nach Meck-Pomm. Das ist natürlich das Geilste, was du ­machen kannst. Da bezahlst du im Moment noch einen Appel und ein Ei für ein Haus. Das Land gibt einem sehr viel Ruhe, aber man braucht auf gewisse Weise ­trotzdem noch die Stadt, damit man diese Ruhe überhaupt erst richtig genießen kann. Ich könnte mir auch gut vorstellen, jeden Tag auf einer Terrasse am See zu ­frühstücken, aber früher oder später würde ich die ­Großstadt auf jeden Fall vermissen.

Magst du uns von deinem Haus an der Müritz erzählen?
Dieses Haus steht an einem Ort, der für ­meine Familie eine ganz krasse Bedeutung hat. Ich habe das zuallererst für meine ­Mutter gemacht, die ist mit ihrem Freund jetzt auch am häufigsten dort. In diesem Dorf, in dem das Haus steht, sind meine Oma und mein Opa damals gelandet, als sie vor dem Krieg aus Tschechien ­geflüchtet sind. Sie hatten damals nichts, haben in einfachen ­Baracken gewohnt, und mein Opa und meine Oma mussten den Pflug selbst ziehen, weil sie sich keine Pferde leisten konnten. Mein Vater ist dann dort zur Welt gekommen und getauft worden. Den Ort haben wir nur ­zufällig wieder­entdeckt. Meine Schwester und meine Mutter waren zusammen auf ­einer Paddel­tour, sind an diesem vergessenen Dorf vorbei­gekommen und meinten, dieses Dorf aus unserer Familien­geschichte wieder­zuerkennen. In dem Dorf gibt es ein Kloster. Dort hat damals eine 96 Jahre alte Nonne gelebt, die mittlerweile verstorben ist. Die hat meine Mutter dann gefragt, ob sie wohl einen Wenzel Laciny, meinen Großvater, kennen würde. Die alte Frau brach vor ihren Augen in Tränen aus, weil sie sich tatsächlich an ihn erinnern konnte, obwohl sie unter wahnsinnigem Alzheimer litt. Das ist sozusagen mein Ursprungsort.

Deshalb hast du dich entschlossen, dieses Haus zu kaufen.
Genau, ungefähr ein Jahr ist das her. Chris und ich mussten da auch zum Notar. Das war eigentlich wahnsinnig traurig, weil in diesem Haus vorher auch andere Leute ­gewohnt haben. Die mussten nur leider raus, weil sie in die Stadt ziehen sollten, ­damit sich ein Sozialarbeiter um sie ­kümmern kann. Das war richtig schlimm. Aber die haben da gelebt wie im 18. ­Jahrhundert: ohne Heizung und Warm­wasser, mit vier Kindern. Natürlich ist dieses Haus, wenn man so dumm-schlau denkt, auch eine gute Geldanlage. Durch die ­Explosion der Mieten in Berlin kann Meck-Pomm in ein paar Jahren noch stark kommen. Aber das ist mir egal. Mir geht es in erster Linie um die Möglichkeit, mal rauszukommen, im Garten sitzen zu können und große Hechte zu angeln (grinst).

Text: Jakob Paur & Sascha Ehlert
Foto: Paul Ripke

Dieses Interview erschien in JUICE #156 (hier versandkostenfrei nachbestellen).

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