Work in Progress: Ist das Albumformat am Ende? // Feature

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Das Plenum poltert irritiert in den Kommentarspalten: Die Leute hören keine Alben mehr. Lässt Spotify uns abstumpfen? Young Thug hat diesen Monat 73 Free-Tracks aus dem Digital-Leck leaken lassen. Wie soll ich die in meine Sammlung einsortieren? Chris Brown hat ein Album mit 45 Tracks produziert, nur weil das von Billboard als viereinhalb physische Einheiten gezählt wird. Wem kann der Konsument noch vertrauen?

Zwischen Kulturkonservatismus und gesunder kritischer Rezeptionshaltung sollte man nicht übersehen, dass die Online-Musikdienste des 21. Jahrhunderts Chancen bieten: Die Kommunikation mit einem Digitalvertrieb kann ein Künstler schneller abwickeln als den Gang zum Presswerk. Dadurch sind nicht nur Gratis-Mixtapes und Über-Nacht-Releases möglich geworden, sondern auch Neu-Interpretationen traditioneller Formate. Als Kanye West Anfang 2016 den Tidal-Link zu »Life Of Pablo« teilte, kündigte er an, fortlaufend Änderungen vorzunehmen. Das waren radikale Eingriffe wie der Gastbeitrag von Vic Mensa und ein neues Outro, aber auch subtile Edits an Adlibs, Beats und Mix. Der Hörer war gefordert und erhielt im Gegenzug Einblick in den Schaffensprozess des Künstlers. Früher ging das nur bedingt, wenn etwa Demo-Versionen von Tracks oder Making-Of-Videos veröffentlicht wurden. Aber: Dabei findet keine (annähernde) Gleichzeitigkeit statt. Wenn jemand vorführt, welche Drums, Basslines und Synthies er aufeinandergeschichtet hat, zeichnet das nicht die Entwicklung einer Idee nach, die zwischenzeitlich vielleicht noch ganz andere Elemente enthielt. Kanye verkündete mit »Life Of Pablo« das Ende des Albums als dominierendes Release-Format – und wurde gleichzeitig der erste Musiker, der ohne physische Tonträger die Chart-Spitze rulen konnte.

Ahzumjot wurde dadurch erstmals auf die Möglichkeit neuer Formate aufmerksam. Er veröffentlicht im Moment »Raum«, ein sogenanntes Playlist-Album. Die Platte erscheint nicht zu einem festgelegten Termin, sondern seit Mitte Oktober – eine dauernde, prozesshafte Veröffentlichung. Jede Woche geht ein neuer Song ins Netz, bis sich die Tracklist und das Puzzle im Kopf des Hörers vollständig zusammengesetzt haben. Das erste Mal, dass der Begriff »Playlist« den Output eines einzelnen Künstlers bezeichnete, markiert übrigens »More Life« von Drake.

Schon seit der Unterscheidung zwischen Alben und Mixtapes diskutieren Rap-Hörer, und das wurde mit »More Life« nicht besser. Zum einen war strukturell kein großer Unterschied zu einem Mixtape zu erkennen, zum anderen erschienen auch Singles vorab – für ein Mixtape eher ungewöhnlich. Aber warum eigentlich diese Schubladen? »Raum« ist der Selbstbedienungskompromiss zwischen klassischen und modernen Rezeptionsmodi. Einige Fans wollen trotzdem warten, bis alle Songs erschienen sind und das Album am Stück zu hören ist. Wer aber eh nur seine Favoriten laufen lässt, kann bereits ohne Verzug konsumieren. »Ich finde die Vorstellung geil, dass jeder anders hört. Vielleicht gibt es Chima-Ede-Fans, die nur sein Feature hören wollen. Ich kann das doch niemandem vorschreiben«, findet Ahzumjot. An dieser Stelle Shoutouts an Chris Brown, der seinem jüngsten Mammutwerk eine Anleitung beilegte, die Fans erklärt, durch welches Hörverhalten sie ihn am besten in die Charts hieven.

Das hat Ahzumjot nicht nötig. Aber er musste sich freispielen, hat vom Universal-Vertrieb zum DIY-Konzept zurückgefunden – auch weil ihn das für eine eigene Veröffentlichungspolitik qualifiziert. »Wenn ich Bock habe, kann ich heute einen Song machen und direkt hochladen. Da ist kein Label, das sich beschwert oder das unklug findet. Man sollte genau das machen, worauf man Bock hat.« Ahzumjot will kein Dienstleister sein.

Dem gegenüber steht das Konzept von Joshi Mizu, einem weiteren ­Wahlberliner Rapper, der sich an einem anderen ungewöhnlichen Release-Modell versucht. Sein 15 Tracks starkes Album erschien am angekündigten Tag X, soll sich aber für noch unbestimmte Zeit verändern: Jeden Monat werden die zwei am wenigsten gestreamten Tracks durch zwei neue ersetzt. Das Hörverhalten der Fans greift also direkt in den Finalisierungsprozess der Platte ein. Joshi Mizu möchte Dienstleister sein.

»Wenn ich Bock habe, kann ich heute einen Song machen und direkt hochladen.« (Ahzumjot)

Streamingdienste wie Spotify haben die Musikindustrie verändert. Aber auch mithilfe von Soundcloud werden Songs auf ihre kommerzielle Verwertbarkeit getestet, so geschehen bei »Antidote« von Travis Scott oder »XO Tour Llife3« von Lil Uzi Vert. Auch Playlists wie »RapCaviar«, kuratiert vom ehemaligen MTV-Programmierer Tuma Basa und mit über acht Millionen Followern die stärkste HipHop-Plattform auf Spotify, analysieren den Erfolg einzelner Tracks. Was häufig oder früh geskippt wird, fliegt raus. Was sich großer Beliebtheit erfreut, wird prominent platziert – und chartet. Der Playlist-Erfolg eines Songs kann Hypes starten – und beenden. Radio-Airplay 3.0.

Somit trifft die Bezeichnung Playlist-Album auf Joshi Mizus »Kaviar & Toast«-Release besser zu als auf »Raum« von Ahzumjot. Es ist eine zeitgemäße Idee, die am Ende möglicherweise eine Sammlung von Club-Hits und Feature-Parts hervorbringen wird, die auch ohne Albumkorsett funktionieren. Aus Fan-Sicht kann man das Fleißprojekt, jeden Monat zwei Bonus-Tracks zu produzieren, eh nicht kritisieren. Die ursprüngliche Version bleibt im digitalen Plattenladen stehen, in einer Playlist morpht eine Kopie vor sich hin. Ob durch diese Art von Interaktivität ein zweites »Album« entsteht, das im klassischen Verständnis als Gesamtwerk mit rotem Faden funktioniert: fragwürdig.

Ahzumjot möchte jedem Song eine möglichst gleich hohe Bühne bieten. Selbst ein Instrumentalstück erschien vorab und war eine Woche lang das einzige neue Material. Aber: Ein Skit oder Interlude kann zwar der Schlüssel zu einem Album sein, ist aber ohne Kontext möglicherweise unverständlich. Gleichzeitig erreichen Songs, die mit Video erscheinen, häufig höhere Klickzahlen. Das Playlist-Album ist eben noch in der Experimentierphase.

Kanye verkündete mit »Life Of Pablo« das Ende des Albums als dominierendes Release-FormaT.

Man kann darunter aber nicht nur die Neuerfindung eines »Release der dritten Art« verstehen, sondern auch eine positivistische Reduktion. Öffnet man »Raum« auf Spotify, findet man dort bis dato kein fertiges Release vor, sondern schlicht Lieder in einer Reihenfolge, eine Wiedergabeliste. In diese Richtung lässt sich auch der Titel interpretieren: »Der Raum ist leer, deshalb ist auch das Cover zur Playlist nur eine Farbfläche. Jeder Song hat ein eigenes, volleres Cover, denn die Songs haben Themen und füllen den leeren Raum.« Der titelgebende »Raum« bezeichnet nicht nur den realen Ort, an dem Ahzumjot sitzt und Musik macht, sondern steht auch als Metapher für eine Playlist.

Die neuen Chancen, die sich den großen und kleinen Protagonisten der Musikindustrie bieten, bilden einen noch recht kargen Raum. Ahzumjot und Joshi Mizu haben aber erkannt, dass dort noch keine Konventionen vorherrschen – und haben sich diese Freiheit auf unterschiedliche Weise zunutze gemacht. Das Spektrum ist somit weit offen, dank einer Demokratisierung der Mittel und Vereinfachung der Kommunikationswege.

Frank Sinatra galt damals als Innovator des Albums zu einer Zeit, als durch eine technische Neuentwicklung aus dem Hause Columbia die Produktion von Langspielern erstmals möglich wurde. Deshalb sagen wir es mit den Worten, die auf seinem Grabstein stehen:
The best is yet to come.

Foto: Laura Vanselow

Dieses Feature erschien erstmals in JUICE #184 (hier versandkostenfrei nachbestellen).

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