Kanye West: »Meine Beats waren auch mal Müll. Jetzt schreit alle Welt danach.« // #20JahreJUICE

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#20JahreJUICE – ein Jubiläum, das gebührend gefeiert werden will. Wir veröffentlichen deswegen Meilensteine der JUICE-Geschichte erstmals auch digital. Im Herbst 2003 kannte man Kanye West vor allem als Produzenten, der zwar Rap-Ambitionen hegte, aber vor allem durch seine Produktionen für Jay-Z zum gefragtesten Beatmaker Amerikas aufgestiegen war. Noch vor Release seines Debütalbums »College Dropout« traf JUICE-Autor Adrian Schräder den jungen Yeezus damals in einem New Yorker Studio zu einem seiner ersten Print-Interviews überhaupt – wahrscheinlich sogar sein erstes Interview mit einem europäischen Medium.

Er hat die Beats, nach denen derzeit jeder Rapper lechzt. Und neuerdings stehen neben so unterschiedlichen Kerlen wie Jay-Z, Ludacris oder Common auch millionenschwere Mädels wie Alicia Keys, Britney Spears und Janet Jackson für seine vom Soul durchtränkten Produktionen Schlange. Für Kanye West selber spielen solche Aufträge aber nur eine untergeordnete Rolle. Der 26-jährige Chicagoer bastelt eifrig an seiner Zweitkarriere als MC. Am 27. Januar erscheint endlich sein gleichsam von krassen Clubmackern wie zerzausten Backpackern sehnlichst erwartetes Album.

Nur sehr flüchtig begrüßt Kanye West den Journalisten aus Europa. Auch von seinen zahlreichen, schon seit Stunden wartenden Homies nimmt er kaum Notiz. Er lässt sich sofort auf einem Sessel im hinteren Teil des kleinen Studios nieder, wiegt den Kopf wie in Trance hin und her und murmelt unverständliche Sätze vor sich hin. Der Blick ist starr auf den Boden gerichtet. Dieser Zustand dauert etwa eine Viertelstunde. Geredet wird währenddessen kaum. Dann steht Kanye plötzlich auf, zieht seine Jacke aus und betritt schnurstracks den Aufnahmeraum. Er setzt die Kopfhörer auf, versinkt noch einmal für wenige Sekunden in Trance und wuchtet dann — während er den Soundengineer immer wieder blitzschnell zur gewünschten Stelle dirigiert — zwei Strophen samt Refrain ins Mikrofon. Wenige Minuten und einige kurze Wutausbrüche später ist die Aufnahme im Kasten und ein wesentlich entspannterer, nun durchaus zum Scherzen aufgelegter Kanye West wieder Inmitten seiner Manager, Freunde, Zudiener und Befrager. Das war wirklich eine beeindruckende Einführung in Roc-A-Fella-sche Arbeitsethik.

“Aha, Just Blaze hat einen weiteren Nachahmer gefunden”, dachte wahrscheinlich nicht nur der hier Berichtende, als die ersten Beats von Kanye die Runde machten. Bei genauerem Hinhören, oder aber spätestens mit der Veröffentlichung von “Dead Or Alive” auf Cam’rons letztem Album merkte man aber, dass Kanye West das Spielchen mit den schneller abgespielten Samples zwar beherrscht, sich bei der Beschaffung aber nicht auf Soulklassiker zu beschränken gedenkt. Da war schon immer mehr Raffinesse dabei als bei den anderen Hausproduzenten von Roc-A-Fella. Mittlerweile steht der Chicagoer Shooting Star, der sich soeben anschickt, das nächste Album von Common zu produzieren, und damit den Kreis, der mit den von Kanyes Mentor No I.D. produzierten Platten “Can I Borrow A Dollar” und “Resurrection” begonnen wurde, wieder schließen wird, für eine unglaubliche Bandbreite an Produktionsstilen. Natürlich bedient er sich mit Hilfe der Def Jam-Kassen gern im Motown-Fach, samplet die Jackson Five, pitcht sich Chaka Khan zurecht, versieht den Snareschlag gerne mit Claps und baut auch liebend gerne satte Drumbreaks und federnde Kicks in seine Beats ein. Aber wirklich gemeinsam ist seinen Beats nur eines: der Charakter. Es ist der Versuch, Musik zu machen, die wesentlich länger interessant bleibt als bis zum Verlassen der Tanzfläche. Musik, die wie alle wirklich guten Erzeugnisse im Bereich der Rapmusik Lust darauf macht, jene Stilrichtungen kennenzulernen, die ihr zugrunde liegen. Musik aber auch, die bald nur noch einem Rapper als Fundament für seine Erzählungen dienen sollen: ihm selbst.

Kanye West ist für einen Produzenten ein außerordentlich guter Rapper. Aber wen interessiert das schon. Ihm fehlt noch eine gute Portion Konstanz, Solidität und Statik im Aufbau seiner Reime. Aber auch wenn seine Raps im Vergleich mit der Elite noch leicht verbesserungsfähig sind, so traut man diesem akribisch schuftenden Talent an Sample und Mikrofon doch so einiges zu. Kanye West hat eine rasante Entwicklung hinter sich, und wie stark, sehr stark zu vermuten ist, auch noch eine ebenso rasante vor sich. Wir weichen nicht von seiner Seite.

Ich bin immer noch ziemlich verwirrt von dem, was ich da gerade erlebt habe. Hältst du deine Texte nie auf Papier fest? Entstehen deine Stücke immer vollständig im Kopf?
Ja, ich habe seit sechs Jahren nichts mehr aufgeschrieben. Ich habe keinen Stift mehr in der Hand gehabt, seit ich aus dem College geflogen bin.

Beschäftigt dich der Umstand, dass du aus der Schule geflogen bist immer noch? Schliesslich hast du ja bereits bekanntgeben, dass deine Alben Titel Wie “College Dropout” “Late Registration” und “Graduation” tragen werden – alles Begriffe aus dem Schulalltag.
Nein, das hat mich nie groß beschäftigt. Aber als ich noch zur Schule gegangen bin, war ich schon ziemlich angepisst.

Was hat dich denn so genervt?
Es störte mich, dass ich nicht einfach das tun konnte, wozu ich Lust hatte. Den ganzen Tag Pornos gucken oder so. Aber ich‘ habe in der Schule auch eine Menge gelernt. Ich habe zum Beispiel Gesangsstunden genommen. Das hättest du nicht gedacht, was?

»Hell yeah, man! Ich werde denen durch meine Raps unglaublich viel Geld einbringen.«

Du hast Unterricht in klassischem Gesang genommen?
Nein, nein, wir haben etwa so schlecht gesungen, wie ich vorhin. Wir haben Lieder wie (singt) “You could be as good as the rest of them, or as bad as the worst, but don’t test me” gesungen. Am Ende des Schuljahre mussten wir den Song dann an der Abschlussfeier vorsingen. Als die Schulleiterin sagte: „und nun würden euch die Erstklässler gerne ein Lied vorsingen!” legten wir los und sangen aus voller Kehle “Grab your guns when you see Tupac!” (er lacht herzhaft)

Seit wann machst du Beats?
Ich mache Beats, seit ich in der 7. Klasse war. Damals kannte ich keinen einzigen anderen Produzenten. Mit 14 habe ich dann begonnen Beats zu verkaufen. Der Anfangspreis lag bei 50 Dollar.

Und wie hast du die Beats gemacht?
Ich hatte einen kleinen Computer, mit einem Grafik- und einem Musikprogramm. Damals hatte ich noch keine Ahnung, was Sampling ist. Ich habe dann einfach die ganze Zeit mit diesem Ding rumgespielt. Anfangs habe ich vor allem Housebeats gemacht.

Hast du je mal was in die Richtung veröffentlicht?
Nein! Das hat sich alles ziemlich scheiße angehört. Aber genau das versuchte ich den Leuten zu erklären, als ich darum gekämpft habe, einen Plattenvertrag zu bekommen: “Du kannst meinen Rapstil sogar scheiße finden, aber pass gut auf! In ein paar Jahren werde ich verdammt gut rappen.” Ich bin fokussiert. Meine Beats waren auch mal Müll. Und jetzt schreit alle Welt danach. Aber die sagten damals bloß: “Ja, ja, erzähl du nur.”

Wie bist du dann trotzdem zu einem Plattenvertrag bei Roc-A-Fella gekommen? Über Beanie Sigel, oder?
Ja bis zu einem gewissen Grad. Nein, eigentlich über meinen Manager HipHop [Kyambo Joshua, der A&R von Roc-A-Fella; Anm. d. Verf.], der einer von Jay-Zs besten Freunden ist. Seine Aufgabe ist es, nach den verschiedensten Beats zu suchen. Er hörte meine Beats und anscheinend hatte er das Gefühl, dass sie etwas Spezielles an sich haben, das das Gesicht der Musik verändern könnte. Und so war und ist es ja auch. War das zu dick aufgetragen? (zu seiner Managerin; diese antwortet mit einem beruhigenden Kopfschütteln) HipHop hörte den Beat zu “The Truth” auf einer meiner Beat-CDs und wählte ihn aus. In der Nacht, in der wir den Track aufnahmen, spielte ich ihm noch ein paar andere Sachen vor. Unter anderem auch mehrere Tracks, auf denen ich rappte. Danach wollte er mich managen, wusste aber nicht, wie er mich für diesen Deal gewinnen sollte. Ich glaube, er fragte deshalb seinen alten Freund No I.D. [der Mann, der uns u.a. “Resurrection” von Common beschert hat; Anm d. Verf.], der mir beigebracht hat, wie man Beats macht. Dieser sagte ihm, dass er mir einfach sagen solle, er möge meine Raps. Deswegen sagte er mir schliesslich, er wolle mich als Produzent und Rapper unter Vertrag nehmen. Ich war sofort einverstanden, denn mein damaliges Management wollte mich als Rapper nicht vermarkten.

Ist denn dein jetziges Management wirklich glücklich über deine Rapkarriere?
Hell yeah, man! Ich werde denen durch meine Raps unglaublich viel Geld einbringen.

Ich meine nur, weil die Veröffentlichung deines Albums schon u-n-z-ä-h-l-i-g-e Male verschoben wurde…
Ach, das meinst du. Das war ganz meine Entscheidung. So steigert sich‘ die Nachfrage. Ich habe im Moment so viel Publicity, ich bin oft im Fernsehen, ich rappe auf der ersten Single von Twista, auf der ersten Single der Dilated Peoples, und, und, und. Damit steigert sich die Erwartung der Leute immer mehr.

Was unterscheidet die Zusammenarbeit mit Jay-Z oder anderen Künstlern von Roc-A-Fella mit…
Jay-Z schreibt seine Raps verdammt schnell und du weißt, dass die Tracks mit ihm automatisch Hits werden. Deswegen ist es der einfachste Job der Welt, für ihn zu arbeiten. Leider wird dieser Job nach dem nächsten Album beendet sein. Es wird also wieder hart werden.

Der Satz sollte eigentlich noch weitergehen. Ich wollte dich nach den Unterschieden zwischen der Zusammenarbeit mit anderen Roc-A-Fella-Künstlern und derjenigen mit Independent Artists wie Talib Kweli, Mos Def oder den Dilated Peoples fragen. Schließlich würde jemand wie Jay-Z so etwas eher weniger machen…
Jay-Z? Aber sicher! Wieso sollte er nicht? Meines Wissens hat er seinen Part auf dem “Get By”-Remix von Talib Kweli umsonst eingerappt.

Okay, aber das war doch eher die Ausnahme, oder?
Hm, ich glaube, viele der Schranken zwischen HipHop und Gangsterrap existieren inzwischen nicht mehr. Jetzt geht es um gute Musik. Die Leute haben viele Vorurteile gegenüber Jay-Z. Er ist reich und kann machen, was immer er will.

»Sie dachten wohl, ich sage das so einfach dahin, im Stil von: “Yeah, I almost lost my life! Exclusive! DJ Clue!” So, als ob der Song völlig unbedeutend für mich wäre. Das war schon enttäuschend.«

Eben war eine Geigerin hier und hat eine Sequenz für einen deiner Tracks eingespielt. Wann hast du angefangen, auch diese Möglichkeit zu nutzen?
Erst als ich mehr Geld zur Verfügung hatte. So etwas kostet verdammt viel. Ich habe erst damit begonnen, mir gute Beziehungen zu einigen Musikern aufzubauen.

Und wie wird das auf deinem Album sein?
Ich habe für zirka 80 Prozent der Tracks echte Streicher verwendet. Außerdem sind auf dem Album etliche Chorstimmen, Bassläufe, Gitarren und auch live eingespielte Percussionelemente zu hören.

In “Through The Wire”, der ersten Single, die ja bereits erschienen ist, erzählst du die Geschichte von einem Unfall, der dich fast das Leben gekostet hätte. Was ist da genau passiert?
Letzten Oktober, kurz vor Halloween, hatte ich einen Autounfall und brach mir meinen Kiefer an drei verschiedenen Stellen. Den Track habe ich zwei Wochen später aufgenommen, als mein Kiefer noch von unzähligen Drähten fixiert war. Deswegen heißt der Track “Through The Wire”. Der Song war quasi mein Fluchtweg aus dem Tal der Tränen. Ich habe versucht, über alles zu lachen. Ich droppe Rhymes wie “My dawgs couldn’t tell if I, I look like Tom Cruise in ‚Vanilla Sky’”.

»Ich sollte eigentlich bald den Titel des bestangezogenen Rappers zugesprochen bekommen.«

Und wie geht es dir jetzt?
Ich bin immer noch ziemlich im Arsch, aber ich habe es trotzdem geschafft, “Honey Of The Month” im “Honey Magazine” zu werden. Stell dir mal vor, was los wäre, wenn mein Kiefer sauber ausgerichtet wäre…

Stimmt es, dass du den Videoclip zu “Through The Wire” selber bezahlen musstest?
Ja, das stimmt. Mein Label dachte, der Track sei nur für ein Mixtape gedacht. Sie dachten, der ganze Text sei ein Freestyle, obwohl ich am Anfang sogar sage “I’m giving an account of how I almost died”. Sie dachten wohl, ich sage das so einfach dahin, im Stil von: “Yeah, I almost lost my life! Exclusive! DJ Clue!” So, als ob der Song völlig unbedeutend für mich wäre. Das war schon enttäuschend.

Du hast für dein Album einen Song mit Jay-Z aufgenommen, der “Never Let Me Down” heißt. Worum geht es in dem Tune?
Oh wow, dieses Lied macht mich jedes Mal fertig, wenn ich es höre. Du musst wissen, dass etwa 95 Prozent des Albums auf realen Begebenheiten, auf meinen persönlichen Erfahrungen basiert. Das ist einer der Raps, der dem wirklichen Leben am allernächsten kommt. Und er bedeutete mir eine Menge. Aber da sich gewisse Dinge in meinem Leben geändert haben, muss ich einige Passagen in dem Text anpassen…

Kannst du mir schon was über den Track erzählen, den du für Jay-Zs “Black Album” produziert hast?
Ähm, um ehrlich zu sein… (guckt auf die Uhr) Damn. Ist es wirklich schon fast elf? Ich muss jetzt gleich rübergehen und an dem Stück arbeiten. Ich habe drei Beats für ihn gemacht. Wir sind noch nicht sicher, welchen wir verwenden werden. Vielleicht kommen auch zwei aufs Album. Mir gefallen die Beats sehr, sie sind richtig dramatisch geworden. Wenn man sie das erste Mal hört, kriegt man fast eine Gänsehaut und denkt: “Wow, das ist das letzte Mal, dass ich Jay-Z rappen höre.”

Okay, dann danke ich dir für das Gespräch!
Wie? Das war’s schon?

Ja, oder wolltest du noch was sagen?
Äh.. .. ach ja! Ich sollte eigentlich bald den Titel des bestangezogenen Rappers zugesprochen bekommen. Vielleicht hast du es noch nicht bemerkt, aber die Louis-Vuitton-Jacke, die da hinter dir liegt, ist meine; Sie hat einen echten Pelzkragen und wurde von meinem Lieblingsdesigner Marc Jacobs entworfen.

Text: Adrian Schräder
Fotos: Berry Behrendt

Dieses Interview erschien erstmals in JUICE #59 (Dezember 2003). Weitere legendäre Features aus 20 Jahren JUICE-Geschichte findet ihr hier.

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