Battle Of The Ear: Kanye West – ye // Review

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(G.O.O.D. Music)

PRO

Wertung: Viereinhalb Kronen
Die Chronik der öffentlichen Wahrnehmung des Kanye West lässt sich in Stichworten zusammenfassen: Produzent, Rapper, Superstar, Arschloch. Spätestens bei seinen Tweets über Sympathien für Donald Trump, seinen haarsträubenden Äußerungen zur US-amerikanischen Sklavengeschichte und all den anderen Bemerkungen seit April 2018, diagnostizierte die Popwelt, dass er wohl den Verstand verloren habe. Eigentlich war man sich schon beim Ausraster auf der »Saint Pablo Tour« 2016 sicher: Kanye ist irre. Dabei ist es, genauer betrachtet, völlig unerheblich, ob er nun in visionärer Genialität die hysterische Empörungsbe­reitschaft der Kommentarleisten im Vorfeld von »ye« absichtlich triggern wollte oder wirklich krank ist. Oder ob das Drumherum, wie seine obskure Stockbrotparty in Wyoming, seine Musik überstrahlt – denn »ye« ist kein Album, »ye« ist ein Happening. Auf das Jahrhundertepos »MBDTF« folgte die Antithese »Yeezus« und daraus resultierte die Internet-Collage »TLOP«. Nun »ye«, dessen schlichter Titel eine Bibel- und zugleich Selbstreferenz ist. Typisch Kanye. Natürlich sind da die obskuren Sample-Nerderein zwischen Eighties-HipHop, Seventies-Gospel und Berliner Electro-Fricklern, die opulente Gästeliste von R’n’B-Legen­den bis Hipsterlieblingen, die seine Alben seit »MBDTF« prägen, sein kindlicher Wortwitz und diese grundehrlichen Emotionen, die den überdrehten Narzissten letztlich doch irgendwie nahbar machen. All das hat Kanye allerdings längst durchgespielt und könnte es etliche Male wiederholen – deswegen erscheint eine Woche später »Kids See Ghosts«, darauf das Nas-Album und so weiter. Wäre seine Motivation rein monetärer Natur, hätte er »The College Droput II« produziert. Doch seine Vision entsprach schon bei »808s & Heartbreak« nicht mehr dem klassischen Konsummechanismus. In einer Welt allgemeiner Übersättigung steht Kanye für die ultimative Opferungsbereitschaft in der Kunst. »ye« ist persönlicher als die meisten Rapalben der letzten zehn Jahre, es ist waghalsiger, intelligenter und verstörender. Denn hier wird keine Performance inszeniert, Kanye ist die Performance. Um etwas über eine Gesellschaft zu erfahren, muss man sich ihre Helden anschauen. Die Frage ist also nicht, was du mit »ye« machst, sondern: Was macht »ye« mit dir?

Text: Alexander Vlad

CONTRA

Wertung: Zweieinhalb Kronen

Lässt man Twitter-Bullshit, Äußerungen zu Gesellschaftspolitik, Haute Couture und Beyoncés Recht auf Musikpreise beiseite und fokussiert sich auf die Musik, wird schnell klar: Auf Albumlänge hatte Kanye West bislang immer recht. Mit »Jesus Walks«, »All Falls Down« und »Through The Wire« formte er aus Demos, anhand denen ihn keiner signen wollte, ein Klassikerdebüt. Auf »808s & Heartbreak« lieferte er die Blaupause für den emotionalen Offenbarungseid der Generation Uzi Vert. Auf »Dark Twisted Fantasy« gelang ihm die Puzzlegroßtat, an der sich DJ Khaled auch bei einer Million Versuche die Zähne ausbeißen würde. Aber bevor das hier den Rahmen sprengt: Es gibt noch gefühlt zwei Trilliarden weitere Gründe, weswegen man Kanye als bislang einflussreichsten und wichtigsten Musiker des 21. Jahrhunderts einstufen muss. Leider ist nun seine achte LP, die zuerst »Love Everyone« und jetzt doch »ye« heißt, ein Wendepunkt, weil sie die Fehlbarkeit des Genies Kanye Omari West deutlicher denn je aufzeigt. Gleich auf »Yikes«, dem zweiten der nur sieben Tracks, spricht West zum ersten Mal von ­seiner bipolaren Störung – und versucht prompt, diese in eine Superkraft umzudeuten. »That’s why I fuck with Ye!«, krächzt er über sich selbst in dritter Person – und plötzlich kann man nicht anders, als an die ganzen Gehirnfurz-Tweets, die von Trump signierte »MAGA«-Kappe und die Aussagen zur Sklaverei zu denken, mit denen der Kardashian-Gatte die Klatschredaktionen der westlichen Welt über die vergangenen Wochen in Atem hielt. Da hilft auch der eigentlich clevere Move nicht, die in Calabasas dampfende Kacke links liegen zu lassen, 200 Influencer (Gruß an Rooz) in einen Jet zu packen und das neue Opus bei einem Saufgelagerfeuer mit Rocky-Mountain-Backdrop irgendwo im Nirgendwo uraufzuführen. Nicht, dass »ye« der totale Griff ins Klo wäre, aber trotz der überschaubaren Länge fehlt eine Dramaturgie, wie man sie von Wests Releases gewohnt ist. Mehr noch liegt die Vermutung nahe, dass die selbst auferlegte Deadline und die bis wenige Stunden vor besagter Listening Session andauernden Arbeiten am Album hier als hindernde Faktoren agieren. Abgesehen von 070 Shake und deren Outro auf »Ghost Town« fehlen die echten Gänsehautmomente. Da hilft auch kein Reibeisen-Falsetto von Ty Dolla, das Gecroone von Jeremih und PartyNextDoor oder die bislang stets bewährten Assist-Geber Cudi und Charlie Wilson. Eingereiht in die West’sche Diskografie ist »ye« eher lauwarmer Möwenschiss denn das »Spiritual Awake­ning«, als das er es uns verkaufen will.

Text: Jakob Paur

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