Das Rap-Album des Jahres heißt »Doris«, wie die verstorbene Großmutter von Earl Sweatshirt. Damit hat der 19-jährige Odd-Future-MC mal eben das geschafft, was der beinahe doppelt so alte Jay Electronica offenbar nicht zu liefern imstande war: ein innovatives, poetisches, versponnenes, düsteres und bretthartes HipHop-Manifest für die Generation Tumblr. Verrauscht, verstolpert und skizzenhaft wie »Madvillainy«, aggressiv und misanthropisch wie »Hell Hath No Fury«, geschrieben von einem hochbegabten, bipolaren Nerd mit Vorliebe für den Humor von Monty Python. Liebe Rap-Snobs, euer neuer Antiheld heißt … Sweatshirt.
Dabei ist der – ganz objektiv, versteht sich – beste Rapper der aktuellen Spielzeit eigentlich Kendrick Lamar. Da ist man sich in Liebhaberkreisen einig. Spätestens mit seinem »Control«-Verse nahm King Kendrick I. diese Anführerrolle auch selbst bewusst ein. Doch jeder strahlende Held braucht einen Gegenspieler: Nicht, dass Earl und Kendrick irgendeine Art von Beef hätten. Vermutlich kennen sich die beiden nur flüchtig. Beide stammen aus Los Angeles, einer von Earls besten Freunden ist Mac Miller, in dessen Gartenhaus hat er auch »Doris« aufgenommen; Mac wiederum ist mit Ab-Soul und Schoolboy Q aus Kendricks TDE-Posse befreundet. Unabhängig von solchen Verflechtungen stehen sie für zwei absolut divergierende Künstleridentitäten: Kendricks überlebensgroßem Post-Gangsta-Rap setzt Earl einen alternativen Leftfield-Entwurf entgegen. Er ist kein militanter Denker und kämpferischer Anführer, sondern ein nerdiger Outsider: »Too black for the white kids, too white for the black kids.« (»Chum«)
Earl mag Modest Mouse und Radiohead, seine Lieblingsrapper sind nicht die üblichen toten Helden, sondern Eminem, MF Doom, André 3000, Gucci Mane und Styles P. Er mag auch Jay Z, nur dessen jüngstes Album nicht besonders – was er via Twitter kundtat und dafür reichlich Gegenwind bekam. Nun kann man von Earl generell nicht behaupten, dass er sich in der Öffentlichkeit sonderlich geschickt bewegt. In früheren Interviews wirkte er in sich gekehrt, beinahe autistisch veranlagt. Meist war er angetrunken oder bekifft, verweigerte ernsthafte Gespräche über seine Musik mit intelligenter Skepsis und destruktivem Humor. Vielleicht ist es daher auch gar nicht so schlimm, dass meine von der Plattenfirma organisierten Telefontermine mit dem jungen Über-MC nicht zustande kamen – mal funkte ein TV-Auftritt dazwischen, ein anderes Mal hatte der Flieger Verspätung. Wenn man die kläglichen Interview-Versuche der Kollegen im Netz betrachtet, dann ist man auf ein persönliches Gespräch aber auch gar nicht mehr besonders scharf.
Dysfunkshunal Familee
Dabei erfolgte mein Zugang zu Odd Future über Earl. Sein erstes Video wurde mir vor drei Jahren per E-Mail geschickt – von einem Freund und Mitarbeiter, einem Skater mit Vorliebe für bayrisches Bier und maritime Tätowierungen, der den HipHop der letzten Dekade aus tiefster Überzeugung verachtet. Doch dieser 16-jährige kalifornische MC triggerte bei ihm Emotionen, die er seit güldenen Wu-Tang-Tagen im Rap vermisst hatte. Dass die OF-Bande keine AF1s, sondern Vans trug und zu allem Überfluss auch noch Skateboards schulterte, trug sicher zum positiven Gesamteindruck bei. Vielen Jugendlichen erging es offenbar ähnlich wie meinem Kollegen. Doch während die Wolf Gang ihren weltweiten Siegeszug feierte, befand sich Earl abgeschottet von der Welt und vom Internet in einer Erziehungs- und Entzugsanstalt auf Samoa. Diese Zeit verarbeitete der junge MC zunächst auf »Chum« und jetzt wieder, wenn er sich in der Hook von »Sunday« an seine Mutter richtet, die ihn nach Samoa geschickt hatte: »All my dreams got dimmer when I stopped smoking pot/nightmares got more vivid when I stopped smoking pot/and loving you is a little different, I don’t like you a lot.«
Wie schon bei seinem erklärten Vorbild Eminem ist die kaputte Familie eines von Earls Kernthemen. Wo der Detroiter jedoch den Trailerpark-Trash mit jedem Klischee verkörpert, scheint Earls familiärer Hintergrund vielschichtiger: Die Mutter ist Juraprofessorin und Rechtsanwältin, der Vater ein südafrikanischer Dichter, der nach der Trennung von seiner Frau in sein Heimatland zurückkehrte. Sechs Jahre war Earl da alt, fortan begann er seiner Mutter am Abend vorzulesen statt andersherum. Finanzielle Sorgen wird sich Thebe Neruda Kgotsitsile, so Earl bürgerlich, nie gemacht haben müssen. Doch dem hypertalentierten und hyperintelligenten Kind fehlte die väterliche Zuneigung und Anleitung. Einen großen Bruder fand er in Tyler, The Creator, den Familienersatz in jenem Zusammenschluss von Künstlern, Skatern und Slackern namens Odd Future. All das ist natürlich blanke Hausfrauenpsychologie, vermutlich aber auch die Wahrheit.
Das Timing seines Rehab-Ausflugs hätte man dennoch nicht besser inszenieren können: Das lyrische Genie, das auf »Earl« bereits aufblitzte, wurde durch die Elternwelt daran gehindert, seiner wahren Bestimmung nachzukommen. Bis er zurückkehrte. Neben seinen wenigen Songs und dem Schaffen innerhalb der Wolf Gang waren es vor allem zwei Gastauftritte, die aus dem talentiertesten OF-Rapper einen echten Hoffnungsträger für die ganze Kunstform machten: Der Verse auf Frank Oceans »Super Rich Kids« und »Between Friends«, der Song mit Flying Lotus’ rappendem Alias Captain Murphy. Überhaupt hat sich Earl bislang ferngehalten von industriegesteuerter Feature-Huberei: Seine Gastparts beschränken sich auf die erweiterte Clique, zu der auch Mac Miller und Vince Staples gehören. Jener Vince Staples, der nun am Ende vom »Hive«-Video mit eiskaltem Killerblick in Kurupt-Tonfall rappt: »If this was ’88, I would’ve signed to Ruthless.« Doch dafür wären beide viel zu schlau gewesen.
The Cool Kid
Während sein erstes Album beinahe komplett von Tyler produziert (und von ihm mal als besseres »Illmatic« bezeichnet) worden war, lieferte der große Mentor bei »Doris« nur zwei Beats, bei gut der Hälfte der Instrumentals hatte Earl hingegen selbst unter dem Pseudonym Randomblackdude die Finger im Spiel. Der ästhetische Bezugsrahmen spiegelt daher zum ersten Mal seine eigene Sozialisation: Staubige Stolperbreaks wechseln sich ab mit bösen Trap-Variationen. In »Chum« vergleicht er sich mit Mobb Deep, die 1996 mit dem tiefschwarzen Doom-Rap von »Hell On Earth« Gold gingen. Die BMX-Räder im »Hive«-Video erinnern an »Black Mags« von den Cool Kids. Die Beats kommen von den Neptunes und von Samiyam, von The RZA und dem kanadischen Jazz-Trio BadBadNotGood. Eine klassische Radio-Single gibt es genauso wenig wie auch nur einen einzigen Track, den man im Club spielen könnte. Angeblich soll Earl jeden Song mit einem Anflug kommerzieller Verwertbarkeit direkt wieder vom Album geworfen haben.
Dass ein Album wie »Doris« in letzter Konsequenz zwar über Earls eigenes Imprint Tan Cressida, aber dennoch beim Major-Label Sony erscheint und dabei das Odd-Future-Logo trägt, sagt viel über den aktuellen Stellenwert von Authentizität im HipHop aus. Wieder einmal befinden wir uns mitten im Glaubenskrieg zwischen Puff Daddy und Company Flow, nur dass Gruppen wie Odd Future heute die Gegenbewegung zum überproduzierten Glamour-Rap der Young-Money-Dynastie darstellen. Und genau wie Co-Flow damals emsig betonten, dass sie auch Biggie oder Redman mögen, gibt Earl bei jeder sich bietenden Gelegenheit Props an Gucci Mane oder Lil B. Der ganz normale Reflex eines 19-Jährigen, der sich nicht mit der nächsten 19-jährigen Flachpfeife gemein machen will, nur weil sie beide zufällig »Operation: Doomsday« mehr lieben als den Dreck, der auf Hot 97 läuft. Als Backpack-Onkel Peter Rosenberg jedoch in einem Interview über »real hip-hop« sprechen will, bepissen sich Earl und Domo beinahe vor Lachen. »Doris« ist mit Sicherheit alles, aber keine kulturbewahrerische Retro-Platte. Dafür ist Earl viel zu ambitioniert. Wie schon Tylers Alben ist »Doris« Teil einer Trilogie, die mit »Earl« begann und mit »Gnossos« enden soll. Auf der Platte begegnen wir Earls Über-Ich (analog zu Dr. TC aka »Tyler’s Conscience«) und einem Alter Ego mit heruntergepitchter Stimme, der bösen und destruktiven Seite des bipolaren Protagonisten. Earl reanimiert den Kanye-Trick, indem er zu Beginn von »Hive« rappt: »Promise Heron I get my fist up/after I get my dick sucked.« Völlig nachvollziehbare Ansage eines 19-jährigen Rappers. Gleichzeitig signalisiert er denjenigen, die große Erwartungen an ihn stellen: Eigentlich bin ich einer von euch. Ich bin nicht wie Chief Keef. Aber ich könnte mir gut vorstellen, erst mal eine Zeit so wie er zu leben, wenn diese Rap-Sache funktioniert. Eine klassische Flucht vom Sozialen ins Private, angesichts der ersten großen Erkenntnis, wie unfassbar kaputt alles ist.
Tristesse Royale
Bei einem Hausbesuch im April erfuhr das »Fader«-Magazin, wie der junge Rapper lebt: in einem typischen Studentenapartment. Earl schläft lange, kifft und trinkt schon tagsüber, ernährt sich von koreanischem Fast Food und hängt mit seinem neuen besten Kumpel Mac Miller herum. Ein bisschen was erzählt er von seinem Aufenthalt in Samoa, wo er hauptsächlich putzen und zur Psychotherapie musste. Und schließt mit der aufgeweckten Selbsteinschätzung, dass er auf »Doris« zum ersten Mal etwas Relevantes sagt. Diese Relevanz kommt vor allem in kleinen Bomben zu tragen, die Earl zwischen all dem wortreichen Bragging und Boasting platziert. Einfache Dinge (»Ich rappe besser als du«) werden bis zur Unkenntlichkeit verklausuliert, während er komplexe Dinge (»Ich liebe meinen Vater, obwohl er mich verlassen hat«) ganz einfach und unprätentiös ausspricht – woraufhin Tyler ihn anbrüllt, er sei eine sensible Schwuchtel.
In der »L.A. Times« wird die Geschichte erzählt, wie Earl seine Managerin Leila Steinberg kennen lernte, die früher einmal Tupac betreut hatte, eigentlich längst aus der Musikbranche ausgestiegen war und inzwischen eine Non-Profit-Organisation leitete. Earl suchte primär eine Vertrauensperson, Steinberg hatte ausschließlich positive Intentionen. Was der Künstler liebevoll herablassend als »Mutter-Teresa-Komplex« bezeichnet, ist vor allem ehrliche Sympathie: Sie habe sich in diesen »brillanten Jungen« verliebt, der »einen Künstler, einen Aktivisten und einen Rechtsanwalt« in seinem Kopf sitzen habe. Noch einmal wird man auf seine Kindheit verweisen dürfen. Nachdem er seinen Vater in diesem Frühling nach vielen Jahren wiedergetroffen habe, wisse er nun, dass er ein »saucooler Typ, aber ein richtig schlechter Dad« sei. Er sei ihm deswegen aber nicht mehr böse, weil er keinen Vater brauche. »Vaterprobleme sind super, wenn du versuchst, beklemmende Musik zu machen.«
Wenn Earl über seine Zukunft spricht, lässt er sich so einige Türen offen: Vom Immobiliengeschäft bis zur Schauspielerei reichen seine vagen Pläne. Vor allem jedoch will er »richtig gut in dieser Musikscheiße« werden. Momentan schlägt er sich die meisten Nächte mit Vince Staples und Mac Miller in dessen Heimstudio in den Hollywood Hills um die Ohren. Dort samplen sie Can-Drums, legen dissonante Synthies drüber und rappen sich den sprichwörtlichen Arsch ab. Tyler ist ja ohnehin die meiste Zeit unterwegs. Und während der die Marke Odd Future da draußen repräsentiert und sein Geld mit Socken und TV-Shows verdient, bleibt Earl jede Menge Zeit, ein immer besserer Rapper zu werden. »Doris« legt von dieser Entwicklung beeindruckendes Zeugnis ab.
Text: Stephan Szillus