Die 20 wichtigsten Rap-Alben der Dekade // Reviews

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2010
Haftbefehl – Azzlack Stereotyp
(Echte Musik/Universal)

Was war das 2010, als Haftbefehl plötzlich die Bildfläche betrat und polarisierte wie keiner zuvor. Klar: Savas hatte schon für geteilte Meinungen gesorgt, an Aggro Berlin hatten sich bereits die Geister geschieden, aber für solch einen Gesprächsstoff hatte noch niemand gesorgt. Spätestens als der reichweitenstarke YouTube-Lümmel JuliensBlog eine Hetzkampagne gegen Baba Haft startete, war das Thema in allen Bereichen der Rapcommunity angekommen. Auf der Straße erzählte man sich mit ehrfürchtigen Blicken von dem Zwei-Meter-Typen mit der echten Bazooka im HdF-Video, in den Hörsälen lachte man über ungelenke Gestammel im Intro desselben Videos. Doch dass Haftbefehl mit seinem Debüt »Azzlack Stereotyp« nicht nur die Raplandschaft, sondern auch die Sprache und den Habitus der deutschen Jugend prägen sollte, wie es zuvor höchstens ein Bushido geschafft hatte, das war wohl niemandem klar. »Kanackiş« nannte Haft seinen zweiten Langspieler nach dem Offenbacher Straßenslang, einem Potpourri aus Deutsch und diversen Fremdsprachen, der sich durch Haftbefehl wie ein Lauffeuer verbreitete. Dass Haftis Songs eines Tages in den Clubs rauf und runter laufen sollten, war zum Release von »Azzlack Stereotyp« allerdings noch undenkbar gewesen. Weiter weg von Clubmusik hätte kaum ein Album sein können: Die synthetischen Beats der zahlreichen Beatbastler waren düster und nicht besonders tanzbar, Straße halt. Die Themen waren schwere Kost, egal, ob kriminelles Verhalten oder die Schattenseiten vom Leben auf der Straße ungeschönt und schnörkellos, gerade dadurch aber bestürzend glaubwürdig geschildert wurden. Drogen, Gewalt und Knast wurden nicht zu popkulturellen Themen aufbereitet. Die Sprache war nicht greifbar, Inhalte so beinahe schon chiffriert. Das stieß vielen sauer auf, war aber ebenso spannend und einzigartig. Streber-Rapfans konnten damit wenig anfangen, ging es eben viel mehr um die Attitüde und die Atmosphäre als um bloße Skills. Selbst wenn »Azzlack Stereotyp« nicht besonders gut gealtert ist und heute ohne den Überraschungseffekt und Impact, den Haftbefehls Auftauchen damals hatte, aus der Zeit gefallen wirkt: Fast jeder Song ist ein allseits bekannter Klassiker, auch unter Leuten, die sich bis heute nie das gesamte Album angehört haben. Denn die gibt es, auch wenn Haftbefehl heutzutage einer der wichtigsten und besten deutschen Rapper ist.

Text: Skinny

2010
Kanye West – My Beautfiful Dark Twisted Fantasy
(Def Jam)

Anfang der gerade vergehenden Dekade herrschte hörbare Aufbruchsstimmung in der Szene. Überall auf dem amerikanischen Kontinent stellten sich neue Kollektive auf und entwickelten Konzepte gegen die rapgewordene Gleichförmigkeit der vorangegangen Jahre. Seit jeher Ideengeber dieser neuen Generation war Kanye West. Nach dem introvertierten und bahnbrechenden »808s & Heartbreaks« (2008) suchte der nun nach einer revolutionären Formel, um rohe HipHop-Kultur, unkonventionelle Indie-Einflüsse und hymnischen Pop erstmals auf einen Nenner zu bringen. Eingemietet in einer Luxusvilla auf Hawaii experimentierte er mit einer schier unglaublichen Riege an Superstars, Legenden und Megatalenten in Echtzeit. Bevor das große »My Beautiful Dark Twisted Fantasy« erschien, waren viele der Songs bereits in der »G.O.O.D. Friday«-Reihe als kostenlose Downloads getestet worden. Was sich bewährte, wurde weiter perfektioniert und in die Form gebracht, wie später auf dem Langspieler zu hören. Während die Freitagsserie noch rougher klang, war »MBDTF« aufpoliert. Auf dem Album bringt Ye es ernsthaft zustande, dass sich jeder einzelne Song zu einem epischen Moment entwickelt. Gleich der Einstieg auf »Dark Fantasy« stellt die Weichen, wenn eine theatralische Symphonie auf trockenes Beatmaking von Wu-Tang-Mastermind RZA sowie No I.D. treffen, getragen von Background-Vocals von Bon Ivers Justin Vernon und Nicki Minaj. Die Stadionmomente durchsetzen das Album, werden aber stets aufgefangen von puristischen Rap-Bangern und verfeinert durch verspielt-sensible Balladen und psychedelische Indie-Momente. Nicht zuletzt als Trump- Unterstützer machte sich der frischgebackene evangelikale Christ in den letzten Jahren oft unbeliebt. Dass Ye die öffentliche Meinung spaltet, ist aber nicht Neues. Bereits 2010 war Kanye kein Sympathieträger. Seine narzisstischen und frauenfeindlichen Tendenzen waren auch damals nicht von der Hand zu weisen. Nur: Das musikalische Genie seines Opus Magnum rückte die Diskussionen zum Jahreswechsel 10/11 kurz in den Hintergrund. Bald ein Jahrzehnt später kann man festhalten: Ein ähnlich stringentes Projekt konnte Kanye nie wieder produzieren. Doch die vollkommene Abstinenz von Genregrenzen und unprätentiöse Megalomanie setzte einen zuvor unerhörten Maßstab, der Alben wie Drakes »Take Care«, Kendricks »To Pimp A Butterfly« und Frank Oceans »Blonde« überhaupt erst ermöglichte.

Text: Jonathan Nixdorff

29 Kommentare

  1. Juice was da los?? Mit raop hat cro den heutigen sound so verändert. Das ist mit abstand das wichtigste/einflussreichste Album der letzten 10 jahre. Nach diesem album hat jeder irgendwelche gesgangshooks gehabt.

  2. Schwache Liste, was für ein Witz.

    Und was geht mit der TPAB review, wo spekuliert wird warum wohl Kendrick diesen künstlerischen Weg nach GKMC eingeschlagen hat – „die Antwort bleibt unklar“. Nein, die Antwort ist literally im Album und eine konzeptionelle Essenz von TPAB.
    Ums kurz zusagen, too long didn’t listen: Er will nicht gepimped werden von der Musikindustrie.
    Hat sich der Autor überhaupt mit dem Album beschäftigt?

  3. Cardie B passt meiner Meinung nach nicht wirklich rein:/ Sie hat sich im Bereich Entertainment einiges erabeitet aber das wars auch. Das Cro allerdings nicht dabei ist finde ich komplett verständlich. Keins seiner Alben war wirklich prägend…

  4. PNL mit QLF oder dans la légende? Diese Alben haben den Rap verändert und spätestens mit deux fréres sollte das auch in Deutschland angekommen sein!

  5. Jeder der sich auch nur ansatzweise mit Rap auseinandersetzt wird diese Liste ( wie nahezu jeden Scheiss! den ihr so auskackt ) mindestens auslachen!!! Kann mich Hans-Wurst nur anschließen bezogen auf die Printausgabe. Ihr pusht eh nur diejenigen die euch am besten entlohnen.

  6. Kein clipping., kein Death Grips, kein lil Peep, kein Prezident, kein Ho99o9, kein Degenhardt, wo ist Rotten Monkey ach und Dope D.o.d.?
    Ich kann die Liste tatsächlich ewig weiter führen.
    Und 20 Alben sind für dieses Jahrzehnt wirklich zu wenig. Allein der englischsprachige Bereich hat eine 100er Liste zu gebrauchen.
    Im deutschen könnte man das wiederum etwas runterbrechen, dank immer ewig gleichbleibend klingenden Künstlern die über immer das selbe Sprechen. Schablonenrap. Lel. Aber ja. Selbst ich muss sagen, ein Cro fehlt hier eindeutig. Selbst Alligatoah hat mit Triebwerke wichtiges abgeliefert.

  7. Das Album von Cardi B sozusagen als bestes Female rap album des Jahrzehnts zu bezeichnen finde ich unmöglich. Wenn man Delivery, Flow und Wordplay mit Nicki Minaj in The Pinkprint, Pink Friday oder in Queen vergleicht, ist diese Entscheidung nicht nachzuvollziehen. Rap-technisch ist Nicki einfach um Welten stärker. Außerdem war sie es die Femalerap wieder Mainstream gemacht hat, nachdem es seit Lil Kim keine erfolgreichen Females mehr gab.

  8. King von Kollegah?? Ich weiß ja dass die Juice ihn boykottiert, aber ohne wenn und aber war King eines der Alben die Deutschrap geprägt haben in den letzten 10 Jahren.

  9. Wird die JUICE nach der Einstellung des Printmagazines jetzt nur noch von Praktikant/innen betrieben? Was für eine in jeder Hinsicht beschränkte Auswahl…

  10. MHD gehört mit seinem ersten Album definitiv dazu. Von wegen RAF Camora & Bonez MC mit Palmen aus Plastik – Scheiß. Wer von den Beiden war zuerst mit dem Style am Start?

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