Dieses Jahrzehnt war vermutlich das spannendste, das Deutschrap bis dato erleben durfte: Die musikalische Diversifizierung der Szene, die rekordverdächtigen Erfolge, die wichtige und hoffentlich nachhaltige Etablierung von vielen weiblichen Künstlerinnen. Ohne Frage: Es war eine gute Zeit – und eine, die Maßstäbe für die Zukunft setzt.
Als Aggro Berlin 2009 seine Schließung bekanntgab, endete eine Ära. Sechs Jahre lang hatte das Label mit dem Sägeblatt Deutschrap seinen Stempel aufgedrückt, nun war Schluss. Viele Beobachter wollten daran erkennen, dass damit auch Straßenrap erledigt sei. Und nicht wenige von ihnen dürfte dieser Gedanke sogar mit Erleichterung erfüllt haben. Endlich waren diese nervigen Typen weg! All diese Kleinkriminellen und Türsteher, die nach Bushidos bahnbrechendem Erfolg Mitte der Nullerjahre plötzlich auf der Matte standen und was von Beton, Asphalt und Blut erzählten. Klar war das für viele eine Zeitlang unterhaltsam und witzig (zu »Ironisch Gangsta-Rap hören« später mehr), aber jetzt war doch auch mal gut. Oder?
Nope. Sie hätten falscher nicht liegen können. Straßenrap war alles andere als tot. Er gönnte sich höchstens eine kurze Verschnaufpause, um danach stärker denn je zurückzukommen. Man kann das konkret an zwei Alben festmachen: »Asphalt Massaka 2« von Farid Bang, mit dem der Düsseldorfer erstmals breitere Aufmerksamkeit für seinen aggressiv-zugespitzten Humor erlangte, und natürlich »Azzlack Stereotyp«, das Debütalbum von Haftbefehl, mit dem der Frankfurter musikalisch und künstlerisch komplett neue Standards setzte.
Beide Alben erschienen 2010, beide Alben definierten auf ihre Art Straßenrap auf Deutsch neu. Und bei allen stilistischen Unterschieden gab es dabei eine wichtige Gemeinsamkeit: War das Genre bis dato hauptsächlich von Berlinern wie Bushido, Fler und Massiv geprägt worden, deren Style sich durch eine Ernsthaftigkeit auszeichnete, zog nun ein bisher unbekannter Humor ein, der allerdings keineswegs zu Lasten der Härte ging – ganz im Gegenteil. Diese Härte, diese Aggressivität und Wut, die aus vielen Zeilen sprach, sorgte auch dafür, dass der Mainstream deutschen Rap weiter skeptisch sehen konnte. Gerade erst hatte man dort wohlwollend eine Neue Schule um Marteria und Casper ausgemacht, da kamen die bösen Ausländer, von denen man gedacht hatte, die wäre man endlich los, mit noch mehr Vehemenz und Nachdruck um die Ecke als ihre Vorgänger.
Endlich waren diese nervigen Typen weg! All diese Kleinkriminellen und Türsteher, die was von Beton, Asphalt und Blut erzählten. Weit gefehlt!
Auch in der Rap-Szene schlug dem neuen Straßenrap viel Verachtung entgegen. Die HipHop-Polizei (damals noch eine feste Größe) monierte in Internet-Foren (Vorläufer von Social Media), dass die Reime zu unsauber seien. Nicht selten drückte sich darin Herablassung und Blasiertheit gegenüber der ungefilterten Perspektive aus der Unterschicht aus, sanft umschwebt von rassistischen und klassistischen Untertönen.
Am ekelhaftesten war es, wenn diese Herablassung zu einer ironisierten Affirmation führte, dem berühmt-berüchtigten »Ironisch Gangsta-Rap hören«, das mein Kollege Skinny auf rap.de schon 2015 treffend auseinandergenommen hat: »Ihr, in eurem Elfenbeinturm aus Oberflächlichkeit, latenter Xenophobie und Geltungsbedürfnis […] wollt eure Überlegenheit gegenüber diesen ›dummen, ungebildeten Kanaken‹, für die ihr sie haltet, zelebrieren, ohne dass man euch daraus einen Strick drehen kann.«
Der Vollständigkeit halber sei angemerkt: Die JUICE-Redaktion, der solche Arroganz auch gerne mal unterstellt wird, reihte sich nicht in diese unrühmliche Phalanx ein. »Humorvoll, eigenständig und glaubwürdig« sei »Azzlack Stereotyp«, Haftbefehl reanimiere damit das »totgesagte Genre Straßenrap«. Farid Bang wurde mit »AM2« eine »eindrucksvolle Weiterentwicklung« attestiert – sein nachhaltiger Einfluss auf Deutschrap wurde jedoch nicht prophetisch vorhergesehen. Hinterher ist man immer schlauer. Mit Haftbefehl zog ein kreativer Umgang mit arabischen, türkischen, kurdischen, bosnischen und albanischen Spracheinflüssen in Deutschrap ein. Künstler wie Celo & Abdi, Xatar, Kurdo und SSIO etablierten sich in der Folge. Farid Bang hielt die Sprache einfacher und den Humor plakativer, ahnte jedoch als einer der ersten den Autotune-Trend und brachte KC Rebell und Summer Cem an den Start. In aktuell erfolgreichen Straßenrappern wie Eno, Capital Bra, Luciano, Ufo361 bis hin zu Mero, die Modus Mio weitgehend unter sich ausmachen, vereinen sich die Einflüsse.
Das Straßenrap-Jahrzehnt kann aber nicht erzählt werden ohne die kleineren und größeren Geschichten neben diesen beiden Hauptsträngen. Zum Beispiel der dritte Frühling von Fler, der sich nach einigem Hin und Her endlich endgültig von seinem Ex-Partner Bushido löste und mit »Vibe«, »Epic« und »Flizzy« sein ganz eigenes Soundbild definierte. Oder der schnelle Aufstieg der 187 Strassenbande, die wie aus dem Nichts mit sehr klassischem Straßenrap ohne Schnörkel bis ganz nach oben stürmten. Oder Massivs Neuerfindung als erster Straßenrapper ohne Schimpfwörter.
Lustigerweise haben wir jetzt, am Ende des Jahrzehnts, eine vergleichbare Situation wie vor zehn Jahren: Straßenrap hat das Genre neu definiert, nie für möglich gehaltene Erfolge gefeiert, Grenzen eingerissen, den seltsamen Sonderweg von Deutschrap im Vergleich zu den USA, England oder Frankreich, wo Straßenrap noch nie so gesondert betrachtet wurde wie hierzulande, zum größten Teil beendet – und wird doch immer noch von vielen herablassend belächelt. Mit Prognosen ob der weiteren Entwicklung bin ich daher lieber vorsichtig. Klar ist: Rap kommt, auch wenn das oft genug gesagt wurde, von der Straße. Und dort wird er auch weiterhin bleiben. Alles andere wird man sehen.
Text: Oliver Marquart
Illustration: Henrike Ott
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