20 Jahre Deutschrap: Die besten Songs, Alben und Künstler aus zwei Dekaden JUICE // Titelstory

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20 Jahre JUICE-Illu Christian Wegerich
Illustration: Christian Wegerich

Wer ist der beste Rapper? Welches die beste Platte? Das soll der beste Rapsong des Jahres sein!? Gluthitzige Streit­gespräche über die kulturimmanente Frage »Who’s best?« stehen in Auskennerrunden nach wie vor tagtäglich auf der Agenda und hoch im Kurs – in lebhaften Fankreisen und unsterblichen HipHop-Foren, an obstschalen­gedeckten Konferenztischen der Musikindustrie und natürlich auch in den Redaktionsräumen der JUICE. Im Zuge des 20-jährigen Heftjubiläums – und damit einhergehend auch zwanzig Jahren journalistischer HipHop-Berichterstattung – kristallisierte sich schnell heraus, dass es an der Zeit ist, diese Frage mal wieder zur Diskussion zu stellen. Und so haben wir für die Jahre 1997 bis 2016 in einem aufwändigen Prozedere sämtliche relevanten HipHop-Songs, -Alben und -Künstler zusammengetragen, redaktionsintern für jede Kategorie eine Vorauswahl getroffen und diese vor einer fachkundigen Jury aus den Bereichen Medien, Industrie und Kunst zur Disposition gestellt. Herausgekommen sind nicht nur weit erfreulichere Ergebnisse als bei der vergangenen Bundestagswahl, sondern auch ein spannender Rückblick auf zwanzig Jahre Deutschrap-Geschichte. Und ein neues, gemütererregendes Thema für den nächsten HipHop-Stammtisch.

1997


Als die erste JUICE erscheint, ist Rap auf Deutsch längst keine neue Idee mehr, wenngleich noch Welten von der heutigen Omnipräsenz entfernt. Nach Jahren unentspannter Realness-Debatten und simpler Untergrund-versus-Sellout-Dichotomie zeichnen sich aber 1997 endlich mehrere Strömungen ab, die auf nachhaltige Diversifikation schließen lassen. An der Oberfläche sind das mittelständisch-studentische Acts wie Freundeskreis oder Blumentopf, die dem Genre mal mit Liebeslied und belesener 68er-Deepness, mal mit Kiffer-WG-Weisheit in der Humortradition der Klasse von ’95 durch die Spätpubertät helfen. Nur was derweil in Berlin passiert, schneidet sonstwo kaum jemand mit: »Mein Leben« von 4 4 Da Mess läuft zwar im Musikfernsehen, kann aber ernst gemeinten deutschen Straßenrap noch lange nicht zum Trend machen. Und die Tape-Kleinstauflage von »Hoes, Flows, Moneytoes« (das Vinyl kommt erst ’99) ist fraglos ein Grundstein für brachialen Hauptstadt-Battlerap, bleibt aber zunächst eine Randnotiz im Deutschrap-Bewusstsein. Die Voting-Krone geht an »Fenster zum Hof«, den perfekt gealterten, unabsichtlichen Kurpfälzer Schlussstrich unter die Jam-Ära. Vorbehaltlos US-sozialisiert und doch mit unkopierbar eigener Attitüde und Lingo: So unterschiedlich waren die Stieber Twins und Westberlin Maskulin vielleicht gar nicht, es merkte bloß niemand. Die wichtigsten Voraussetz­ungen für das Wachstum, den Kollaps und die Runderneuerung der kommenden zehn Jahre lagen bereit.

Text: Ralf Theil

  • Bester Künstler: Stieber Twins
  • Bestes Album: Stieber Twins – Fenster zum Hof
  • Bester Song: Freundeskreis – A.N.N.A.

1998

Foto: Nils Müller

Das Jahr, in dem sich für Deutschrap alles veränderte. Zwar brodelte es schon eine ganze Weile in der Szene, wegweisende Alben wie »Kopfnicker« von den Massiven und »Fenster zum Hof« waren bereits auf Beats gespuckte Manifeste einer bevorstehenden pop- und HipHop-kulturellen Revolution, doch der Tropfen, der das vielbeschworene Fass zum Überlaufen brachte, das Land in der Folge mit Flows flutete und die Szene auf einer bis dato nicht gekannten Erfolgswelle schwimmen ließ, war »Bambule«. Eizi Eiz, Denyo und DJ Mad vermengten Phrasen nordfriesischer Punkrocklegenden mit Anleihen an 80s-Sci-Fi-Movies, sampleten kubanische Liedermacher genauso wie funky Panikrock und verknüpften das Ganze einerseits mit jugendlicher Unbedarftheit, andererseits mit hart erarbeiteten Erleuchtungsmomenten in Sachen Beats und Raps. Heraus kam ein Instant Classic, der die Beginner nicht nur aus den Jugendzentren in die Stadien spülte, sondern hiesigen Rap auch auf Heavy Rotation in die Player von jedem und seiner Mudder. Parallel dazu förderte die Ruhrpott AG mit »Unter Tage« schwarzes Gold und legte damit die Blaupause vor für Conscious Rap outta Germany, während Fünf Sterne deluxe ihr HipHop-Verständnis am anderen Ende der Skala mit »Sillium« Richtung »Dördichkeit« steuerten. Und spätestens als Eins Zwo mit ihrer EP aufzeigten, wie sich ganz großer »Sport« anhört, war auch dem Letzten im Lande klar: »HipHop als Pizza wäre ne große doppelt alles deluxe.«

Text: Daniel Schieferdecker

  • Bester Künstler: Beginner
  • Bestes Album: Beginner – Bambule
  • Bester Song: Eins zwo – ich so, er so

1999


Als im Mai 1999 Massive Töne und Freundeskreis die Album-Top-Zehn direkt neben Rosenstolz und Sasha erreichten, wurde der nationale HipHop-Hype endlich auch nummerisch sichtbar. Eine aufgestachelte Popindustrie ohne Szenebezug versuchte schon seit Monaten, mit TV-Spots im Rap-Slang und H&M-Kollektionen auf Baggy Look einen neuen Markt zu erobern. Der Sell-Out begann. Schon damals, auf dem Zenit der Ära um die Rap-Achse Hamburg/Stuttgart, wirkte das schlagartige MTViva-Videofieber eher belastend. Doch gerade weil auch der dritte Charterfolg dieses sagenumwobenen Monats, nämlich »Gefährliches Halbwissen« von Eins Zwo, mit beiden Cinch-Kabeln in der Kultur steckte, läutete 1999 einen Einschnitt in der hiesigen Rap-Historie ein. Denn die mehrsilbigen Wortspielkalauer in Dendemanns Selbstironie-Talks auf Rabaukes Funk-Bummtschack definierten nicht bloß die Inhalte des deutschen Mittelstandsraps der kommenden Jahre, sondern markierten auch einen Realness-Ruck in Pop-Deutschland. Die Beginner-Single »Füchse« unterstrich diesen hanseatischen Siegeszug mit dem wichtigsten Rap-Song der Ära und erfand auf der B-Seite »K2« mal eben den Mammut-Remix, bevor man ihn so nannte. So mag ein damaliger Underground-MC namens Kool Savas eine schockierende 12-Inch namens »LMS« veröffentlicht und damit die Machtübernahme aus Berlin eingeleitet haben, doch das Jahr 1999 wird immer shouten: »Hamburg-City rult! Wer behauptet was anderes?!«

Text: Fionn Birr

  • Bester Künstler: Eins Zwo
  • Bestes Album: Eins Zwo – Gefährliches Halbwissen
  • Bester Song: Kool Savas -LMS

2000


Im Jahr 2000 war deutscher Rap auf seinem ersten richtigen Peak. Einerseits erkannte der Markt das immense kommerzielle Potenzial des Genres, während die Protagonisten ander­erseits erstmals auf breiter Ebene in der Lage waren, diesem Potenzial auch künstlerisch Ausdruck zu verleihen. So entstanden an vorderster Front soundsystematische Sprachstilbibeln wie das großspurige Albumdebüt von Dynamite Deluxe sowie die feuerflüssige und alles versengende Emo-Rap-Hitze von Curse (»Feuerwasser«). Direkt dahinter brachten sich schon die nächsten MCs in Stellung: Die kongenialen »Partner« Creutzfeld & Jakob spuckten sich vom Pott aus die Rußpartikel von der Lunge und gleichzeitig ein unfickbares Vocal-Cut-Arsenal auf staubige Beats. Azad ließ von Mainhattan aus verbales »Napalm« und damit zum ersten Mal kompromisslosen Straßenrap auf die Nation niederregnen und Savas ernannte sich und Taktlo$$ nicht nur nach roher Westberliner Art zu »Battlekings«, sondern sich selbst auf einem der wohl besten deutschen Rapsongs ever zum »King Of Rap« – eine selbsterfüllende Prophezeiung, die noch über viele Jahre Bestand haben sollte. Im Herbst des Jahres droppte zudem Oldschool-Legende Torch endlich sein langerwartetes Solodebüt, einen mitreißend vielschichtigen Meilenstein, der sich tatsächlich wie »Blauer Samt« auf eine zu Ende gehende Ära von HipHop in Deutschland legte und sie damit zu einem würdigen Abschluss brachte.

Text: Daniel Schieferdecker

  • Bester Künstler: Dynamite Deluxe
  • Bestes Album: Curse – Feuerwasser
  • Bester Song: Plattenpapzt ft. Kool Savas – King of Rap

2001


Ein Jahr, das den bevorstehenden Umbruch ankündigt. Kool Savas veröffentlicht die EP »Haus & Boot« sowie mit seiner damaligen Crew M.O.R. das Album »NLP« – noch ist längst nicht jedem klar, dass der anfangs noch belächelte, harte und kompromisslose Style des Berliners der Beginn einer neuen Ära ist. Schon bald wird die Dominanz der neuen Hauptstadt-Supermacht fast erdrückend sein. Noch aber gibt es soundmäßig wie inhaltlich Alternativen: Curse’ zweites Album »Von Innen nach Außen« ist ein Meilenstein für Conscious Rap auf Deutsch. Azads Debütalbum »Leben« setzt indes neue Maßstäbe: Noch nie war Straßenrap in Deutschland so authentisch und gleichzeitig lyrisch anspruchsvoll. Der Frankfurter liefert damit die Blaupause für intelligenten Streetrap Made in Germany. Apropos: Das gleichnamige zweite Album von Afrob, in dem dieser mutig die Faust gegen Rassismus in Deutschland hebt, wird von Deutschrap fast komplett ignoriert. Mehr Gehör mit politischem Rap findet Samy Deluxe: Sein Song »Weck mich auf« gehört bis heute zu den meistzitierten Rapsongs und fängt die Stimmung kurz nach der Jahrtausendwende ziemlich treffend ein. Eißfeldt von den Beginnern schließlich ist seiner Zeit um Lichtjahre voraus: Als Jan Delay veröffentlicht er das Reggae-Album »Searching For The Jan Soul Rebels« – für die sechs Kronen-Wertung muss sich die JUICE einiges an Kritik anhören. 15 Jahre vor »Palmen aus Plastik« ist man halt noch nicht so weit in Germanien.

Text: Oliver Marquart

  • Bester Künstler: Azad
  • Bestes Album: Azad – Leben
  • Bester Song: Samy Deluxe – Weck mich auf

2002

Foto: Katja Kuhl

Trümmerhaufen will man jetzt nicht sagen, aber mal ehrlich: 2002 herrscht die erste große Katerstimmung in Rapdeutschland. Die Haltbarkeit der Hamburg-Stuttgarter Vorherrschaft ist zumindest fragwürdig, die Boom-Protagonisten haben ihrem eigenen Erfolg nur noch wenig hinzuzufügen, Rap will ganz gerne in den Club, kann aber nicht (»Cruisen«, »Bounce mit uns«). Trotz all des wehmütigen Umherschauens übersieht man noch geflissentlich, was mit immer mehr Druck aus dem Untergrund quillt: Nach Jahren des Inseldaseins bringt Berlin sich in Stellung und greift nach der Aufmerksamkeit derjenigen Hörer, denen ein bisschen glaubhafte Respektlosigkeit neuen Spaß an der Materie gibt. Bushido und Fler, Sido und Prinz Porno, Frauenarzt und einige mehr sind zwar allesamt noch nicht ganz fertig mit der stilistischen Suche, dafür aber umso fertiger mit dem Warten. Dass Kool Savas, über dessen Humor und Vokabular noch zwei, drei Jahre vorher verbittert gestritten wurde, zum Jahresende mit seinem Debütalbum auf Platz 6 chartet, lässt Teile der Hauptstadtszene fortan noch etwas breitschultriger auftreten. Nur wie es nach der Gangstarap-Blaupause »Carlo Cokxxx Nutten« weitergehen würde, ist 2002 noch kaum absehbar. Für viele, die Zivildienst und Studium mit Dynamite Deluxe und Eins Zwo verbracht haben, ist der Spaß trotzdem allmählich vorbei. Berlin ist gekommen, um deine Mutter zu ficken.

Text: Ralf Theil

  • Bester Künstler: Kool Savas
  • Bestes Album: Kool Savas – Der beste Tag meines Lebens
  • Bester Song: Sonny Black & Frank White – Cordon Sport Massenmord

2003


Es war 2003, ich 15 und mein musikalischer Horizont nicht sehr groß: Entweder du kamst aus West-Berlin und machtest Rap wieder hart oder du warst’n Opfer. ASD, Beginner, Curse – ich hab’s ignoriert, weggeschaltet, alle wack. Ich hatte ungefähr sechs überspielte Kassetten, die hatte mir en älterer Schüler gegeben: zweimal Die Lätzten, der »Bassboxxx Sampler«, »Obscuritas Eterna« von MC Basstard, »Album Nr. 3« von A.i.d.S., »King Of Kingz« und »Carlo Cokxxx Nutten«. Diese Kassetten waren mein wichtigster Besitz, mein stiller Widerstand gegen die Gesellschaft, die sich mir gymnasial in den Weg gestellt hatte. Als ich »Vom Bordstein bis zur Skyline« in die Finger bekam, war ich gerade fast sitzengeblieben, es waren Sommerferien, und ich hatte Schiss vor den Typen mit den Cordon-Jacken in meiner Nachbarschaft. Trotzdem identifizierte ich mich mit dem Erzähler dieser streckenweise menschenverachtenden Lyrik – was mir damals selbstverständlich nicht bewusst und eh völlig egal war. Der Reiz des Bösen, des Verbotenen; Musik, die die Welt so zeigte, wie sie sich mir präsentierte: beschissen. Darüber, wie dieses Jahr, wie »Vom Bordstein bis zur Skyline« und das Label mit dem Sägeblatt Deutschrap für immer veränderten, müssen andere schreiben. Bei mir sind die Superlative größer: Das streckenweise noch heute unfassbar dichte Storytelling von Bushido (und Fler), die grandios dreisten Samples, der gesamte Vibe des Berlins dieser Tage haben mein Leben verändert.

Text: Sascha Ehlert

  • Bester Künstler: Bushido
  • Bestes Album: Bushido – Vom Bordstein bis zur Skyline
  • Bester Song: Bushido – Bei Nacht

2004

Foto: Murat Aslan

2004 geht unter dem Terminus »das Sido-Jahr« in die Annalen der hiesigen HipHop-Historie ein. Als Siggi damals die »Maske« aufsetzte, bot er damit die perfekte Identifikations- und gesellschaftliche Reflexionsfläche – ob für sensationsgeile Mittelstandskids oder das abgehängte Klientel, deren Bild der Junge ausm MV so wortgewaltig im ikonischen »Mein Block« gezeichnet hatte. Es war vor allem die Reibung durch das Spiel mit Gegensätzlichkeiten, die von Berlin aus ein neues Feuer entfachte und Deutschland damit ein Sägeblatt-Brandzeichen auf den Arsch sengte: Ernsthaftigkeit und Humor, schonungslose Direktheit und subtile Sozialkritik, offensiv zur Schau gestellter Abfuck, aber alles auf Hochglanz präsentiert in allerbester Aggro-Manier. Durch die aufs Maximum reduzierte Simplifizierung des gesprochenen Worts wurde Sidos scharf skizzierte Unterwelt für jedermann zugänglich, und alle traten ein – so wie Sido die Türen von HipHop-Hausen. Gegen »Maske« und die darauf enthaltenen Singles verblassen im Rückblick alle anderen Releases des Jahres – obwohl auch Ex-Sägeblättler-Bushido mit Universal-Para vom »Electro Ghetto« aus zur Geiselnahme des Mainstreams ansetzte, Azad mit »Bozz«-Move sein bestes Album nach »Leben« ablieferte und Melbeatz auf »Rapper’s Delight« nicht nur mit Kanye kollaborierte, sondern auf »Ok« auch die beiden Top-MCs ihrer Zeit auf einem Track vereinte: Kool Savas und Samy Deluxe. 2004, was bleibt also übrig? »N Fick geben natürlich.«

Text: Daniel Schieferdecker

  • Bester Künstler: Sido
  • Bestes Album: Sido – Maske
  • Bester Song: Sido – Mein Block

2005


Und noch so ein Savas-Jahr. Und eins voller Beef. Oder beides gleichzeitig. Nachdem Eko Fresh Ende 2004 mit »Die Abrechnung« den Zwist zwischen sich und seinem einstigen Mentor Savas öffentlich machte, schlug dieser im Februar 2005 mit »Das Urteil« zurück – die gefickte deutsche Mutter aller Promo-Beefs war geboren und Ek (jedenfalls im dazugehörigen Video) begraben. Noch heute lässt die lebhafte Diskussion über den vermeintlichen Gewinner des Battles ganze HipHop-Stammtische beben, aber Essah hatte schon längst den nächsten Pfeil im Köcher: »One« mit Azad – inklusive Hits für die Heads (»Monstershit«) und fürs Herz (»All 4 One«). In Düsseldorf gründete sich derweil Selfmade Records und brachte mit Kollegah »Deutschlands einzigen Zuhälterrapper« auf Spur, dessen vielsilbiger »Angeberprollrap« bei der Realness-Polizei zwar durchfiel, mit seinem bosshaften Metaphernreichtum aber genreverändernde Wege einschlug, deren Ausmaße auf sämtlichen Ebenen damals noch nicht im Ansatz zu erahnen waren. Olli Banjo hingegen agierte auf seinem zweiten Longplayer technisch versiert zwischen »Schizogenie« und Wahnsinn und »zerstückelte (Rap-)Deutschland, als wär’s ne Nagelbombe«. Möglicherweise war auch Tone unter den Opfern. Zumindest war seine »Zukunftsmusik« das most underrated Album des Jahres.

Text: Daniel Schieferdecker

  • Bester Künstler: Kool Savas & Azad
  • Bestes Album: Kollegah – Zuhältertape
  • Bester Song: Kool Savas – Das Urteil

2006


Das Jahr nach der Streetoffensive und Royalbunker ist back. Zumindest ein bisschen. Nach mehreren Jahren, in denen das Label vom stadtinternen Konkurrenten Aggro abgehängt worden war, rappelte sich das einstige Tape-Label wieder auf und besann sich auf seine alten Stärken. Scheiß auf den Sound. Scheiß auf die Verpackung und das große Marketing. Keine Tapes zwar, dafür CDs im Pappschuber. So entstanden zeitlose Klassiker wie »Nacht« von Tua, »Pöbeln mit Stil« von Cattee und eben »DasRapDeutschlandKettensägenMassaker« von K.I.Z. »Böhse Enkelz« war der Nachfolger und laut der Aussage eines ehemaligem Labelmanagers von 3p »das lustigste Album, das jemals im Deutschrap veröffentlicht wurde«. Nach seiner Angabe musste er mehrmals rechts ranfahren, weil er vor lauter Lachen nicht mehr Auto fahren konnte. Dieser Effekt stellt sich auch heute noch ein, und Royalbunker ist den Urgesteinen Torch, Eißfeldt, Savas & Co. bis heute dankbar, dass sie sich mit den GEMA-Rechten zufrieden gaben und »Böhse Enkelz« als Coverversionen akzeptierten – die Mutter aller sarkastischen Deutschrap-Platten war geboren. Die CD, die Trailerpark, 257ers und Zugezogen Maskulin erst möglich gemacht hat, war da. Der Tonträger, der die ganze Stoneface-ich-bin-härter-als-du-Attitüde in den Arsch fickte und humoristische Aggression zurück ins Game brachte, erblickte die Welt. Eine Sternstunde für deutschsprachigen Rap – auch wenn das Cover gekonnt scheiße gestaltet war.

Text: Marcus Staiger

  • Bester Künstler: K.I.Z
  • Bestes Album: K.I.Z – Böhse Enkelz
  • Bester Song: K.I.Z – Hurensohn

2007


Ein Jahr zwischen allen Stühlen, das verdeutlichen die Releases: K.I.Z. veröffentlichen ihr Albumdebüt »Hahnenkampf« und machen da weiter, wo sie letztes Jahr mit dem Mixtape »Böhse Enkelz« aufgehört haben: Punchlines zwischen Ironie und Sarkasmus, hinter denen oft mehr steckt als beim ersten Anhören ersichtlich. Andere Crews werden die Vorlage aufgreifen, aber noch genießen die Berliner ihr Alleinstellungsmerkmal ohne Konkurrenz. Kool Savas indes hätte ebenfalls Künstler des Jahres werden können – hat er doch mit »Tot oder lebendig« eins der stärksten Alben seiner Rapkarriere am Start. Und auch Olli Banjo kann dem Game seinen Stempel aufdrücken: »Lifeshow« ist seine dritte Platte – und nicht ohne Grund Album des Monats in der Juli-Ausgabe der JUICE. Bass Sultan Hengzt wiederum vollzieht seine erste, vorsichtige musikalische Neuerfindung – und schlägt auf »Der Schmetterlingseffekt« deutlich sanftere Töne an als bisher. Wer gedacht hatte, der Berliner könne nur auf die Fresse geben, hat sich getäuscht – die BPjM findet das Album trotzdem noch zu hart und indiziert es im darauffolgenden Mai. Und dann passiert noch das: Der Berliner Battlerap der Jahrtausendwende erfährt eine Renaissance – dieses Mal aber im Boombap-Gewand. Huss und Hodn stehen auf knarzige Jazz-Samples – und auf übergriffige, ignorante Punchlines. Die Message ist klar: Du bist wack. Egal, wer du bist. Das Debütalbum »Jetzt schämst du dich!« wird zum Standardwerk der »Hurensohnologie«.

Text: Oliver Marquart

  • Bester Künstler: K.I.Z
  • Bestes Album: K.I.Z – Hahnenkampf
  • Bester Song: K.I.Z – Geld Essen

2008


Als die JUICE zur Listening Session von Peter Fox’ »Stadtaffe« eingeladen wird, ist die Redaktion skeptisch. Textlich hinkt Dancehall-Deutschland den Rappern doch merklich hinterher. Und ob der Seeed’sche Signature-Sound überhaupt ins Heft passt – fraglich. Doch als die ersten Tracks das Kreuzberger Studio fluten und die anwesende Journaille vom orchestrierten Geniestreich des Gastgebers an die Wand gedrückt wird, ist klar: Hier passiert etwas Großes. Dass der vertonte »Stadtaffe« jedoch verdammt nochmal King Kong ist, die Charts erklimmt wie ein Hochhaus und die gesamte deutsche Poplandschaft verändern wird wie ein Besuch auf Skull Island, das war unvorhersehbar. Die musikalische Kombination von klapprigen Drums und pompösem Orchester, gehüllt in urbane State-of-the-Art-Produktionen im Zusammenspiel mit den Krauts war gewagt, ungewohnt und anders, aber gerade deshalb auch so mitreißend, einnehmend und fresh. Inhaltlich eine identitätsstiftende Standortbestimmung, stets on point, generationsübergreifend infektiös. Sprachlich leicht genug, um nicht verkopft zu wirken, aber mit genug Köpfchen, um nicht belanglos zu sein. Ein Quantensprung für deutsche Popmusik, vor allem textlich. Und auch Deutschrap profitierte von diesem einzigartigen Rapalbum ohne Rapinhalte. Nur Peter Fox selbst war nach 1,3 Millionen verkaufter Platten der Rummel um seine Person zu viel und er zog sich zurück. Klappe zu, »Stadtaffe« tot.

Text: Daniel Schieferdecker

  • Bester Künstler: Peter Fox
  • Bestes Album: Peter Fox – Stadtaffe
  • Bester Song: Peter Fox – Alles neu

2009

Foto: Nico Wöhrle

Es ist alles da im Schlandrap des Jahres 2009: Deutsch-Dipset-Überreste (»II« von Snaga & Pillath) und frühe Alben von Riesentalenten (»Zuckerbrot & Peitsche« von Mädness), wohlinszenierter Marketing-Rap (»Jung, brutal, gutaussehend«), Routine-Blockbuster (»Aggro Berlin«, »Sexismus gegen Rechts«), Straßenpathos (Massiv, Vega, Xatar, Azad …), Heimatpathos (»Dis wo ich herkomm«) und die Untergrundklassiker »Apokalypse jetzt« und »Zwei Herrengedeck, bitte«. Die zwei ganz großen Alben des Jahres sind aber weder besonders großspurig noch echte Verkaufserfolge: »Grau« von Tua und »Versager ohne Zukunft« von Kamp & Whizz Vienna vereint vor allem die Ehrlichkeit und Dunkelheit, der Mut zur restlosen Entblößung. Die Auseinandersetzung mit Wut, Trauer, Einsamkeit und Depression, bei Tua fast technisch-kühl, bei Kamp in hysterisch galgenhumoriger Abgefucktheit, als Doppelspitze im Album-Voting vermag sicher nichts Allgemeines über 2009 als Rapjahr auszusagen. Aber dass solche Platten mit ihrer Themenwelt nicht mehr zur absoluten Obskurität verdammt sind, darf schon als wichtige Entwicklung gelesen werden. Rap muss sich nicht mehr ausschließlich zwischen Härte, Witz und Szeneinterna abspielen. Erst mit dem Schritt zum Menschlichen in all seinen Facetten und Kaputtheiten ist Rap groß genug geworden. »Grau« und »Versager ohne Zukunft« und die Ausnahmekünstler, die sie zu verantworten haben, spielen eine unschätzbar wichtige Rolle für diese Öffnung.

Text: Ralf Theil

  • Bester Künstler: Tua
  • Bestes Album: Tua – Grau
  • Bester Song: Casper, Kollegah, Favorite – Mittelfinger hoch

2010


Als »Zum Glück in die Zukunft« Ende August in den Top Ten chartet, können Label-Offizielle und Medienvertreter ihr Glück kaum fassen. Marteria gelingt es mit Eleganz, Ehrlichkeit und Endboss-haftem Soundbild, eine neue Poppigkeit im Rap auf Deutsch salonfähig zu machen. Der erste wirkliche Klassiker der Zehnerjahre ebnet den Weg für einen neuen Mittelstandsrap – eine Vorlage, die Casper und Cro in den kommenden Spielzeiten volley nehmen. Selbst der zum Ende der Ära Aggro am Boden liegende Straßenrap erhält eine Frischzellenkur: Nate57 beweist mit Halsbrecher-Flows und schonungslosem Storytelling über das Leben als kleinkrimineller Hansestädter, dass die Maxime »Rap ist Wrestling« für dope Musik aus der Hood auch ignoriert werden darf. Einige hundert Kilometer südlich erfindet ein gerade pleite gegangener Wettbürobetreiber mal eben die deutsche Sprache neu: Haftbefehl zeigt mit seinem beeindruckenden Debüt »Azzlack Stereotyp«, wie das heute usus gewordene Asphalt-Esperanto einer ganzen Szene neues Leben einhauchen kann. So entsteht eine Aufbruchstimmung, die das Fundament der bis heute anhaltenden Dominanz von deutschem HipHop legt. Nach Youtube hat Deutschrap nun auch Facebook vollends erschlossen. Über das neue Social Web erreichen Rapper ihre Käufer kostengünstiger denn je und sind in der Lage, die eigene Zielgruppe kontinuierlich auszubauen. Nur eins fehlt noch zur vollkommenen Glückseligkeit (und den vordersten Chart-Rängen): teure Deluxe-Boxen.

Text: Jakob Paur

Bester Künstler: Marteria
Bestes Album: Marteria – Zum Glück in die Zukunft
Bester Song: Marteria ft. Yasha – Verstrahlt

2011


Heute wollen es alle gewusst haben: Fans, Musikjournalisten und andere Hobbyexperten tun so, als hätte schon vor Juli 2011 festgestanden, dass Caspers lange herbeigesehntes (Quasi-)Debütalbum »XOXO« die komplette deutsche Poplandschaft verändern würde. Als hätte es kein ermüdendes Label-Schachspiel gegeben, und als wäre der Erfolg mit ein paar Filesharing-Vorschusslorbeeren unter Rasierklingenteenies sicher gewesen. Als wäre es kein Risiko gewesen, noch die letzten Szene-Props als ewig belächelter Emo-Rapper mit der Sound-Romantik von Neunziger-Proberaumbands zu verspielen – Post-Rock war ja immer für Young-Jeezy-Adlibs geeignet und Cora-E.-Zitate oder How-To-Dress-Well-Samples eine Selbstverständlichkeit im gleichen Jahr, in dem »Mietwagentape«, »Aura« und »Urlaub fürs Gehirn« erschienen. Jeder Mittelstandsrapper hat sich plötzlich in Skinny-Jeans gezwängt, seine Indierocker-Freunde angerufen und schon immer gewusst, wer The xx, Mogwai und The Smiths sind. Normal, dass sich die fast 40-jährige Rockgröße Thees Uhlmann zu einem Hook-Beitrag auf einer Rap-LP überreden lässt und sich damit innerhalb eines Sommers zum coolsten Deutschrapper, der nicht rappt, trällert. Und alle haben gewusst, inklusive einem damals 29-jährigen Studienabbrecher aus Bielefeld selbst, dass sich mit kryptischem Schlagwort-Songwriting Zitate für Teenagergenerationen prägen lassen und dass daraus ein genre- wie karrieredefinierendes Album hervorgeht, das platinveredelt zur Rock-am-Ring-Prime-Time laufen wird. Tut mal nicht so.

Text: Fionn Birr

  • Bester Künstler: Casper
  • Bestes Album: Casper – XOXO
  • Bester Song: Casper – Der Druck steigt

2012


Das »einflussreichste Stück Gangsta-Rap in 2012« werde »Hinterhofjargon« werden, schrieb Marc Leopoldseder damals über das Debütalbum der Frankfurter Celo & Abdi und prognostizierte ihnen eine Subgenre-prägende Rolle. Er sollte Recht behalten: Knappe zwei Jahre nach »Azzlack Stereotyp« und eins vor dessen Nachfolger »Blockplatin« schob sich Deutschraps unterhaltsamstes Duo mit ihrem Magnum Opus zwischen Haftis prägende Klassiker und zeigte damit, dass Straßenrap 2012 in FFM stattfindet. Mit in multinationales Vokabular verpackte Straßenstorys kreierten C & A eine Deutschrap-Dramödie, die die Ecken und Kanten vom »Miet­wagentape« etwas runder machte, ohne Authentizität einzubüßen. »Hinterhofjargon« war das Straßen-»Esperanto« im Jahr dreizehn nach dem FK-Classic. Doch weiter südlich passierten derweil ganz andere Dinge: Ein Typ mit Pandamaske tauchte auf und lockerte die von Casper’schem Daseinsfrust und bierernstem Ticker-Rap verkrampfte Deutschrap-Muskulatur. Mit Supreme-tragenden Schönheiten im Video, einem flockigen Sample-Beat und ganz viel Unbekümmertheit zog Cro Deutschland das Obey-Shirt über – die neue Leichtigkeit war gefunden. Ende Zwonullelf traf Cro damit den so oft beschworenen Zeitgeist, bevor er nach dem Chimperator-Signing zwischenzeitlich in Pathos-Pop abrutschte. »Easy« bündelte das Lebensgefühl der Generation-Y-Cool-Kids in drei Minuten, machte Cro zum Raop-Superstar und Deutschrap endgültig massenkompatibel.

Text: Juri Andresen

  • Bester Künstler: Cro
  • Bestes Album: Celo & Abdi – Hinterhofjargon
  • Bester Song: Cro – Easy

2013


Im Jahr eins nach »Easy« rückte Rap endgültig zurück in die Mitte der Gesellschaft, fand im Stadion statt (Casper, Max Herre, Sido) und im Schnitt alle fünf Wochen auf Platz eins der Albumcharts (»JBG 2«, »Kompass ohne Norden«, »D.N.A«, »Hoch2«, »NWA«, »Triebwerke«, »Eksodus«, »Hinterland«, »Rich Kidz« und »30-11-80«). Umsatzstarke Fan-Boxen machten aus Deutschrap das kommerziell erfolgreichste Musikgenre nach Schlager. Gefestigte Indie-Infrastrukturen und ein boomendes Live-Geschäft boten Untergrundkünstlern sichere Arbeitsplätze. Das prägende Album lieferte Ssio, der auf »Bb.u.m.ss.n.« rheinländische Rotlichtromanzen als Stand-Up-Comedian performte und Straßenrap in D eine neue Dimension eröffnete. Weniger witzig gemeint, verselbständigte sich Haftbefehls »Chabos wissen wer der Babo ist«-Claim vom Schulhof-Slang zu seinem karrieredefinierenden Moment. Der Azzlack landete mit der Single acht Wochen in den Charts, im Bierzelt und auf CSU-Wahlplakaten. Auf seinem später indizierten dritten Album »Blockplatin« zeigte der Azzlack neue, verwundbare Facetten, läutete als herausragender Texter einen Paradigmenwechsel in der Wahrnehmung von Ganstarap im Feuilleton ein und legte die Diskussion um nicht existierende Ghettos in Deutschland endgültig ad acta. Die eindringlichste, härteste Hook der Dekade funktionierte vor allem im Club und trug ihren Teil dazu bei, dass abendfüllende Deutschrap-Partys heute überhaupt vorstellbar sind.

Text: Carlos Steurer

  • Bester Künstler: Haftbefehl
  • Bestes Album: SSIO – BB.U.M.SS.N
  • Bester Song: Haftbefehl – Chabos wissen wer der Babo ist

2014


Ich hätte nicht gedacht, dass elf Jahre nach »Vom Bordstein bis zur Skyline« nochmal ein Album eine ähnliche Wirkung auf mich haben könnte – doch dann kam »Russisch Roulette«. Dabei war die Grundsituation denkbar anders: Ich leitete die Print-Redaktion der JUICE, mochte mittlerweile aber auch »braven« Rap, hatte hunderte Longplayer gehört und gemocht, die nichts mit Gangstarap zu tun hatten, und saß gerade in einem Büro einer Plattenfirma namens Universal Music. Dort betreute man seit Kurzem das »Thema« Haftbefehl, den ich damals schon eine Weile lang mochte: Dennoch war ich nicht darauf vorbereitet, was man mir da zeigte, nämlich die härtesten und traurigsten Rapsongs in meiner Muttersprache, die ich seit einem guten Jahrzehnt gehört hatte. Auch heute gilt noch: Es gibt kaum deutschsprachige Texte, die es in Sachen Dichte und Grausamkeit mit Stücken wie »Schmeiß den Gasherd an« oder der »1999«-Trilogie aufnehmen können. Jetzt, wo der Feuilleton-Hype vorüber ist, kann man das ja nochmal sagen: Aykut Anhan ist ein verdammt guter Dichter, und gegen sein »Russisch Roulette« verblasst alles andere, was in diesem sehr guten Rapjahr erschienen ist – auch das beste Bushido-Album seit Jahren, eine großartige Marteria-Platte und der Anfang der groß angelegten Übernahme deutschen Raps durch die 187 Strassenbande. Wenn ich mich heute also frage, ob es richtig war, damals für ein Haftbefehl-Cover zu kämpfen, lautet die einzig mögliche Antwort: Auf jeden Fall.

Text: Sascha Ehlert

  • Bester Künstler: Haftbefehl
  • Bestes Album: Haftbefehl – Russisch Roulette
  • Bester Song: Dexter ft. Audio88 & Yassin – Dies Das

2015


Nach drei fetten Jahren zeigte die Industrie 2015 erste Übersättigungsanzeichen: Hoffnungsträger der vielzitierten neuen Reimgeneration floppten trotz Major-Rücken, Online-Battle-Turniere hatten ihren Peak erreicht und Click-Bait-Plattformen beschleunigten die Boulevardisierung des Genres. In der Alpenrepublik kündigten DIY-Künstler, die sich explizit auf Money Boy beriefen, in der Cloud eine Rebellion an. Deutschrap war künstlerisch differenzierter und hochwertiger denn je. K.I.Z feierten den Weltuntergang mit Goldauszeichnung – und inmitten des rauen gesellschaftlichen Klimas kündigte sich mit Zugezogen Maskulin, Fatoni und der Antilopen Gang die nächste linke Opposition an. Das wichtigste Album veröffentlichten Audio88 & Yassin, die auf »Normaler Samt« ihren grantigen Anti-Rap-Entwurf in einem genialen Insider-Manifest bündelten. All das wurde überschattet von Einsachtsiebööön-Sprechchören, die lauthals das Land beschallten. Über zehn Jahre hatte sich die Strassenbande von Hamburg aus eine loyale Fangemeinde aufgebaut. Der Erfolg von »Sampler 3« und »Obststand« leitete den endgültigen 187-Durchbruch ein. Das Über-Nacht-Release von »Ebbe und Flut« stellte die bewährten Promophasen-Gesetze auf den Kopf und enthielt mit dem Titeltrack und einer Scratch-Hook (!) die Hymne zum Zeitgeschehen. Die beeindruckendste Machtübernahme, die Rapdeutschland je erleben sollte, war längst im Gange.

Text: Carlos Steurer

  • Bester Künstler: 187 Strassenbande
  • Bestes Album: Audio88 & Yassin – Normaler Samt
  • Bester Song: Gzuz ft. Xatar & Hanybal – Ebbe & Flut

2016


Es ist eine vermeintlich kleine technische Änderung, die die GfK Entertainment GmbH im Februar 2016 umsetzt. Doch als sogenannte Premium-Streams fortan auch in die Wertung der Album-Charts einfließen, hat das für deutschen HipHop weitreichende Folgen: Die Zeiten, in denen Chartplatzierungen allein mit teuren Deluxe-Boxen mit geringer Gewinnmarge geschönt werden können, sind vorbei. Bei »Labyrinth« von Kontra K oder »High & hungrig 2« von Gzuz & Bonez MC werden Bezahlstreams das Zünglein an der Waage, das zwei ordentlich verkaufte Tonträger zu Goldplatten macht. Apropos Bonez und Edelmetall: Das ursprünglich als Mixtape angedachte Kollaboprojekt mit RAF Camora adaptiert geschickt den spätestens seit Drakes »One Dance« grassierenden Hype um afrokaribische Rhythmen und katapultiert die beiden Protagonisten in ungeahnte Sphären. Auch mithilfe von massivem Radio-Airplay und einem pünktlich zum Vorweihnachtsgeschäft getimten Re-Release als »Tannen aus Plastik« erreichen bis heute sechs Songs Gold-, und zwei weitere Tracks, wie auch das Album selbst, Platin-Status. Überhaupt zeigt sich Deutschrap massiv verändert vom Einfluss aus Atlanta sowie den Nachwehen dessen, was man 2015 ungelenk »Cloud­rap« tauft: Nimo, Ufo361 und die KMN Gang zelebrieren ihre Aufstiege allesamt mit einer eigenen Symbiose von Autotune-Vocals und 808-Instrumentierung. Auch so entsteht (mal wieder) ein bis heute andauernder Generations- und Wertekonflikt innerhalb der Hörerschaft.

Text: Jakob Paur

  • Bester Künstler: RAF Camora & Bonez MC
  • Bestes Album: RAF Camora & Bonez MC – Palmen aus Plastik
  • Bester Song: Yung Hurn ft. RIN – Bianco

Die Jury
Ahzumjot, Juri Andresen, Matthias Arfmann, Asadjohn, Audio88, Florence »Lupa« Bader, Sebastian Berlich, Fionn Birr, Danny Bokelmann, Jan Burger, Sascha »Busy« Bühren, Curse, Miriam Davoudvandi, Davide Bortot, Wenzel Burmeier, DJ Stylewarz, Marc Dietrich, Sascha Ehlert, Selcuk Erdogan, Fizzle, Mikis Fontagnier, Daniel Gerhardt, Götz »GG« Gottschalk, Artur Kasper, Ronald Seibt, Niko Hüls, Kristof Jansen, Dennis Jungfleisch, Dani Fromm, Claudia Kamieth, Tobias »Toxik« Kargoll, Shana Koch, Ralf Kotthoff, Philipp Kunze, Sherin Kürten, Arne Lehrke, Marc Leopoldseder, LGoony, Vincent Lindig, Patrick Lublow, Katrin Melchior, Martin Merkt, Max Mönster, Aria Nejati, Jonathan Nixdorff, Elvir Omerbegovic, ­Jakob Paur, Timo Pieper, Dennis Pohl, Andreas Purzer, Kevin Ruhländer, Falk Schacht, Daniel Schieferdecker, DJ Ron, Skinny, Julius Stabenow, Carlos Steurer, Michael Stockum, Claus Schwartau, Sebastian Schweizer, Stephan Szillus, Tereza, Ralf Theil, Patrick Thiede, Ilke Ulusoy, Stephan Velten, Johann Voigt, Wasi, Daniel Welsch, Markus Werner, Jan Wehn.

Dieses Feature erschien erstmals als Titelstory in JUICE #183 (Back Issues hier versandkostenfrei nachbestellen).

1 Kommentar

  1. So viele fähige Leute in der Jury und vermeintlich auch in der Redaktion, aber wie das 2. Album von Curse wirklich heisst fällt niemandem auf. Oder man wollte den Marquart auf nem anderen Portal vor die Wand fahren und hats ihm extra nicht gesagt.

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