Die 20 wichtigsten Rap-Alben der Dekade // Reviews

Die Redaktion hat für jedes Jahr der Dekade das jeweils beste deutsche und internationale Album gekürt und in einer Re-Review besprochen.

0
182422

2019
OG Keemo – Geist
(Chimperator)

Das einflussreichste Album 2019 zu bestimmen, ist zu diesem Zeitpunkt eine schier unmögliche Aufgabe, schließlich sind nicht einmal JUICE- Redakteure mit dem dritten Auge gesegnet – eine Prognose kann man dennoch abgeben. Drei Chimperator-Releases stellten die finale Auswahl, schlussendlich konnte »Geist« sich klar durchsetzen. Das verdankt Keemo nicht zuletzt den hoch frequentierten Highlights, die meist eher erzählerischer Natur sind. Bereits zu Beginn trägt Keemo auf einem reduzierten Skelett aus verwaschenem, ungestimmtem Piano und knarzig-rohen Drums seine eigene Geschichte vor. Ohne zu klagen oder sich allzu sehr in der Opferrolle zu suhlen, berichtet er auf »Nebel« nüchtern von elterlichen Streitereien, seinen ersten Rassismuserfahrungen in der Grundschule und mündet in der Erzählung von einem 17-jährigen Tunichtgut-Karim, der Autos für den Nervenkitzel stiehlt. Dass Keemo ein überragender Erzähler ist, sollte spätestens seit seinem Signature-Track »Vorwort« außer Frage stehen. Wenn dem hünenhaften Mannheimer etwas auf der Seele brennt, kann er aber auch anders: »216« beschäftigt sich aus einer weniger distanzierten Perspektive mit seinen Erfahrungen als schwarzer Mann in Deutschland: Als zorniger »Zulu-Krieger mit ner scharfen Toolie« verzichtet Keemo auf Erklärungen oder Appelle. Stattdessen gibt es eine mitreißende Hymne der Selbstermächtigung voller echter Emotionen. Wenn der kämpferische Keemo gerade mal kein relevantes Thema zur Hand hat, spielt er eben seine zweite große Stärke aus: Seinen Swagger, der nicht nur das Präfix OG rechtfertigt, sondern auch den so ziemlich coolsten und kredibilsten Trap ermöglicht, den die heimische Raplandschaft je hervorgebracht hat. Der schmutzig-kantige Sound seines kongenialen Partners Funkvater Frank mag zwar auch in diese Schublade nicht so recht passen, die stilsichere Hood-Attitude und -Ästhetik lassen sich mit diesem Terminus aber schlichtweg am besten vereinbaren. Dieses Paket, das den restlichen Deutschrap beinahe schon corny, allenfalls aber uncool wirken lässt, schnürt Keemo mit ungezwungen souveräner Reimtechnik, griffiger Bildsprache und jeder Menge Wortwitz in Zeilen wie »Deine Tür ist nicht unknackbar, ganz in schwarz, seh aus wie’n freizuspielender Charakter«. Deutschrap hätte diesen Künstler schon viel früher gebraucht.

Text: Skinny

2019
Tyler, The Creator – IGOR
(Smi Col/ Sony)

Lange wurde diskutiert, ob Tyler, The Creator nicht einer dieser nischigen Kritikerlieblinge sei und man lieber ein greifbares Album, das nicht nur Nerds in ihrer Rap-intellektuellen Echokammer hören, auszeichnen sollte. Doch »Igor« hat auch die empirischen Argumente auf seiner Seite und machte sich an der Spitze der Billboard Top 200 breit. Dass ein derart extravagantes Album Mainstream-Erfolge feiern kann, war eine schöne Überraschung. Schon wegen der inhaltlichen Ausrichtung: Alle Songs auf »Igor« hängen zusammen. Zwar funktioniert jeder einzelne Track für sich, wie auch Hitsingle »Earfquake« bewies, doch erst im Zusammenspiel wird die Geschichte von »Igor« auserzählt, für die Tyler eine Figur erdacht hat, aus deren Perspektive er (womöglich) spricht. Ganz klar wird dank eleganter Umschiffung nie, ob hier Tyler zugange ist, oder diese fiktive Person, die beinahe deckungsgleich mit dem Odd-Future-Flaggschiff ist. Auf »Igor« kokettiert Tyler weiterhin mit den Gerüchten um seine Homosexualität, die schon seit Jahren kursieren und immer wieder klug, provokant und humorvoll von ihm aufgegriffen werden. Nun wird letztlich eine ganze Geschichte ausgerollt, in der Igor sich in seinen besten Freund verliebt, der diese Zuneigung aber nicht erwidern kann. Zu konkret wird Tylers Erzählung dabei nie, das Geschlecht des Freundes (engl. einfach »a friend«) oder Igors sexuelle Ausrichtung werden angedeutet, aber nie explizit erwähnt, jeder Song erzählt als eigenständiges Kunstwerk von einer der Stationen der Tragödie, verkommt aber nie zum Storyteller. Die Produktion, die entgegen dem Zeitgeist wie ein riesiger Flickenteppich aus Samples und Einflüssen verschiedenster Genres anmutet, ist nerdy, verspielt, zuweilen weird, aber immer melodisch und spannend, mal gefällig, mal fordernd, aber nie öde oder gewöhnlich. Passend dazu gibt es haufenweise Featuregäste aus der A-Riege, die nicht einfach Parts spitten und zum Selbstzweck verkommen, sondern, meistens geradezu grotesk verzerrt und kaum erkennbar, manchmal nur in Form von Adlibs, als einzelnes Puzzleteil in diesem meisterlich arrangierten Album fungieren. Ja, »Igor« ist ein Kritikerliebling, aber ein sowohl musikalisch als auch erzählerisch und emotional derart bombastischer, origineller und mutiger, dass Tyler es weit über die Liebhaber-Bubble hinaus schafft.

Text: Skinny