Was bislang in der JUICE ein wenig fehlte, ist die Lust am Blick über den Tellerrand der Plattendecks deiner Lieblings-DJs hinaus. Hiermit soll in den Mittelpunkt gerückt werden, was abseits von Raps und Beats geschieht. Diese Rubrik verlangt nach Offenheit und Neugierde, verzichtet aber auf erhobene Oberlehrerzeigefinger. Alles Wichtige, was im Umfeld von HipHop-Hausen passiert, findet hier Erwähnung.
Fangen wir bei dem Typen an, der bereits von Travis Scott, J. Cole und A$AP Rocky gesampelt wurde: Lee Fields – eine der letzten Konstanten im Soul- und Funk-Game. Seit mehr als fünfzig Jahren steht der Mann auf der Bühne und ist ein G der alten Schule. Trotz rasanter Entwicklungen im Musikgeschäft blieb der Sänger aus Wilson in North Carolina stets ein Original. Als 17-Jähriger zog er mit zwei Dollar in der Tasche in das New York der Sechzigerjahre: alles gesehen, alles erlebt. Nicht nur deswegen sind seine Songs so grundtief gefühlvoll und authentisch. Mit dem Album »It Rains Love« erhält Fields zum fünften Mal Rücken von seiner Band The Expressions. In retroromantischen Schick gehüllt, strahlen die Tracks eine tiefe positive Wärme aus, der man nur schwer entkommen kann. Klar, hier geht es zwangsweise auch um charakterliche Reife, die man erst mal einordnen können muss. Das ist gleichzeitig aber die Herausforderung: ein Gefühl für die eigene Comfort Zone zu bekommen.
Die verlässt man beispielsweise mit »Moonwalks Over Dilla-Beats«. »Modern Flows, Vol. 2« ist so etwas wie das konsequentere Jazzmatazz, das Kendrick wohl nie machen wird. Transzendenz ist ja immer etwas, was Jazz so fern und abstrakt wirken lässt – dabei geht das völlig losgelöst und unkompliziert, auch abseits vom massiven Sun-Ra-Vermächtnis. Marquis Hill ist Trompeter aus Chicago und versammelt auf dem Album seine Entourage aus der »Windy City«. Das Ganze klingt bei all den unausweichlichen Afrofuturismen selbst für eine Kalkleiste aus Ostwestfalen immer noch einigermaßen indigen und daher höchst frisch, unbeeindruckt und – um das Wort zu bemühen – »relatable«. Stilistisch hat Hill auf alles Bock, wohl auch, weil er unterschiedliche Einflüsse mühelos zusammenhalten kann. Zwischen Consciousrap, Spoken Word, Modal Jazz und Vibraphon-Gewittern fühlt man sich stets abgeholt, selbst wenn man »A Love Supreme« nie verstanden hat.
Komfortzonenmäßig können Fokn Bois hingegen vielleicht kein Lied singen – zumindest kein konventionelles. »Afrobeats LOL« ist das metakulturelle Antistatement zur aktuellen Lage des begrifflichen Ungetüms Afrobeat. Kollege Mathis Raabe hatte dazu im vergangenen Heft bereits ausgeführt, dass der Erfolg der »kapitalistischen Kulturindustrie« unweigerlich zu Kulturkolonialismus führt (C-C-Combobreaker). Dass die Jungs aus Ghana jedoch gar nichts mit deutsch-verwaschener Afrikaverwurstung zu tun haben, merkt man ihrem Album in jeder Sekunde an. Hier geht es um Selbstermächtigung, -bestimmung und vor allem -verteidigung. Wen geht es an, was M3nsa und Wanlov in ihrem durchaus kosmopolitisch motivierten Anspruch umtreibt? Natürlich darf man das musikalisch bewerten. Dass sie dabei persiflierend Pidgin rappen, weiß ich aber nur, weil ich Promotexte paraphrasieren kann. Ist das dabei nicht genau das Problem?
Zum Schluss nochmal was zum Wohlfühlen: »Natural Sci-Fi« ist eigentlich so weit draußen, dass es schon gar nicht mehr in diese Rubrik passt. Zu futuristisch, orbitumkreisend und zumeist elektronisch erzeugt, scheinen die Soundkonstrukte auf den ersten Blick. Dass Steve Spacek es aber dennoch schafft, die Einzelteile zu einer organisch-homogenen Masse zusammenzuführen, ist nicht zuletzt auch seiner fast 20-jährigen Erfahrung geschuldet. Irgendwo Mitte der Nullerjahre verlor sich plötzlich seine Spur. Nach mehreren Gruppenprojekten als Spacek war Steve White bereit für Größeres. Sein Solodebüt »Space Shift« lud umgehend Klassikerappeal auf, flog jedoch unter dem Radar der eigenen Möglichkeiten. Aus heutiger Sicht unverständlich, immerhin waren an der Produktion J Dilla, Leon Ware und ein blutjunger Thundercat beteiligt. Das Folgealbum war schon fast fertig, da nahm sich White eine längere Auszeit. Das jetzt vorliegende Werk ist also seit zwölf Jahren in der Mache gewesen, erinnert aber vor allem an das Soulquarian-Einmaleins: quantisierungsresistente Clap-Patterns, warme Synth-Flächen und latent offbeat schwimmende Vocals. So klingt derzeit niemand: Steves Meisterstück.
Text: Tim Tschentscher