20 Jahre Autotune: Geschichte eines Gefühlszustands // Feature

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Illustration: Andreas Denzer

1997 war das Jahr, das die Produktion marktkompatibler Populärmusik für immer veränderte, angestoßen von einem Wissenschaftler, der zuvor für den US-amerikanischen Erdölkonzern Exxon gearbeitet hatte. Dr. Harold Hildebrand, genannt »Andy«, erfand auf Basis jahrelanger Recherchen und Berechnungen ein Software-Plugin, das im Studio falsch intonierende Sänger automatisch auf den richtigen Weg brachte, also direkt zum nächsten Radiohit. Als der Mainstream 1997 das neue Tool begeistert aufnahm (bis heute bringt Autotune so gut wie jeden erfolgreichen Popstar auf die richtige Tonhöhe), erschienen diverse HipHop-Klassiker: Biggies »Life After Death«, »Wu-Tang Forever« und »One Day It’ll All Make Sense« von Common zum Beispiel. Damals ahnte niemand, dass dieses kleine Studiotool zwanzig Jahre später auch HipHop dominieren würde.

Niemals lag HipHop-Monarch Sean C. Carter so falsch wie im Juni 2009, als er »D.O.A. (Death Of Auto-Tune)« veröffentlichte. Was aus heutiger Sicht klingt wie das miesepetrige, aber gleichzeitig verzweifelte Grummeln eines alternden Mannes, traf im Jahr seines Erscheinens allerdings durchaus einen Nerv. Ein bisschen war es so wie letztes Jahr, als plötzlich überall frustrierte Herren vor Mikrofone traten, um Lil Yachty und Lil Uzi Vert zu Verantwortlichen für den Untergang des HipHop-Abendlandes zu erklären. 2009 waren die Adressaten andere: zum Beispiel Lil Wayne, der ebenfalls im Juni 2009 mit »Lollipop« wochenlang Charts und Radio-Playlists weltweit flutete, Snoop Dogg und seine 2007 erschienene »Sexual Eruption« und natürlich Kanye West, der 2008 für »808s & Heartbreak« noch überwiegend gehatet wurde. Als »Hauptschuldiger« für die mutmaßliche Zerstörung der HipHop-Kultur galt aber der 1985 geborene Faheem Rashad Najm, besser bekannt als T-Pain, aus Tallahassee, Florida.

Faheem interessierte sich schon früh für Musik und verwandelte sein Schlafzimmer bereits als Jugendlicher in ein Aufnahmestudio, inklusive Keyboard, MPC und Vierspur-Aufnahmegerät. Später wurde er Teil der Gruppe Nappy Headz und wollte Rapper werden, aber das Singen lag ihm offenkundig mehr. Als sein Cover der Akon-Hitsingle »Locked Up« die Runde machte, entdeckte der Originalinterpret des Stückes ihn und holte ihn auf sein Label Konvict Muzik. Der damals gerade omnipräsente Akon garantierte T-Pain die nötige Aufmerksamkeit, um seine erste Single »I’m Sprung« in die Radios zu bringen. Der Song, eine inhaltlich relativ unspektakuläre Ballade, schaffte es bis in die Top-Ten der US-Charts. Was T-Pain damals von anderen erfolgreichen R’n’B-Künstlern unterschied, war neben der Tatsache, dass er rein optisch eher wie ein gemütlicher, humorvoller Sympathieträger als ein neuer R. Kelly wirkte, vor allem eins: Autotune. Mit hochartifizieller Roboterstimme, die erst mal jedes Gefühl aus der Stimme wegzudrücken schien, croonte er irgendwas von Shawtys, Beziehungen und Hood-Romantik. Auf die Lyrics hörten damals die Wenigsten, aber wahnsinnig catchy war sein Sound auf jeden Fall.

Und so ging es dann weiter: »I’m In Luv Wit A Stripper« stieg nochmal höher in die Charts ein und sackte außerdem Remix-Strophen von unter anderem Pimp C, Too Short, Twista und Mike Jones ein, und das dazugehörige Album »Rapper Ternt Sanga« ging in den Staaten natürlich Gold. Genauso wie das zweite T-Pain-Album »Epiphany«, das 2007 auf der Eins in die LP-Charts einstieg und mit »Buy You A Drank« (Feature-Gast damals: der längst verschollene Young Joc) ebenfalls die Nummer Eins der Single-Charts erreichte. Zu diesem Zeitpunkt war Autotune längst überall, hauptsächlich wegen T-Pain, der sein patentiertes Roboter-Gecroone jedem zweiten Rapper zur Verfügung stellte und Radiohits am Fließband produzierte. 2009 erschien dann das dritte T-Pain-Album, das zwar ebenfalls Gold ging, aber nicht so gut war wie das auch aus heutiger Sicht extrem abwechslungsreiche und trotzdem konsistente »Epiphany«. Seine letzte Top-Ten-Single war dann »I Can’t Believe It« mit Lil Wayne. Damals, also 2009, hatten die beiden zu dieser Zeit omnipräsenten Figuren im US-HipHop auch eine gemeinsame Platte angekündigt, aber nie veröffentlicht: »T-Wayne«. Nach dem Sommer 2009, also tatsächlich kurz nach Jay-Zs konservativer Kulturkritik, verschwand T-Pain langsam aus den Charts und der Öffentlichkeit, obwohl er hier und da noch auf radiokompatiblen Songs auftauchte (am prominentesten: »All I Do Is Win« von DJ Khaled). Jahre später erzählte er dem New Yorker, dass ihn die Omnipräsenz von Autotune und der damit verbundene allgegenwärtige Backlash in eine Depression trieben, von der er sich künstlerisch bis heute nicht ganz erholt hat; zumindest nicht, wenn man mit kommerziellen Maßstäben auf die Angelegenheit blickt. Heute ist T-Pain eher was für Nerds als für den Mainstream: Für den US-Radio-Sender NPR spielte er 2014 ein Unplugged-Konzert (die Erkenntnis: T-Pain ohne Autotune – auch das funktioniert) und 2017 veröffentlichte er auf seinem Soundcloud-Kanal, endlich, eine Handvoll Skizzen aus der T-Wayne-Zeit, an denen der Zahn der Zeit längst zu nagen begonnen hat.

Wie T-Pain damals zu seinem Sound kam? Durch Jennifer Lopez. Auf ihrer 1999 erschienenen Debütsingle »If You Had My Love« hatte einer ihrer damaligen Produzenten, Rodney »Darkchild« Jenkins, für knappe zwei Sekunden den Autotune-Effekt aufgedreht, und einem Interview zufolge war T-Pain hiernach klar (ohne zu wissen, wie er diesen Effekt herstellen kann): »So möchte ich klingen!« Ob J. Los Kurzausflug ins Autotune-Land damals aus einem Unfall heraus entstand oder aus künstlerischer Kalkulation, ist nicht überliefert. Am wahrscheinlichsten ist aber die These, dass sich ihr Team hierbei von Cher inspirieren ließ, die ein knappes Jahr zuvor für »Believe« erstmalig auf einem kommerziellen Hit das Plug-in überproportional aufgedreht hatte.

Auch wenn Dr. Hildebrand, der Erfinder der Technologie, das Plug-in damals tatsächlich aus der Motivation heraus entwickelt hatte, kleine Unsauberkeiten automatisch korrigieren zu können, war das Kind damit in den Brunnen gefallen – wobei Cher natürlich keinesfalls als Erfinderin verfremdeter Gesangsstimmen zu bezeichnen wäre. Die Düsseldorfer Elektronikmusikpioniere Kraftwerk etwa benutzten den sogenannten Vocoder schon weit früher als stilbildendes Element, um sich selbst klingen lassen wie einen künstlichen Computerchor. Westcoast-Rap-Pate Roger Troutman wiederum liebte die Talkbox, ein Effektgerät, mit dessen Hilfe man elektronisch erzeugte Signale mit dem Mund zu Sprache verformen kann, indem man in ein mit E-Gitarre oder Synthesizer verbundenes Mundstück aus Plastik hineinsingt. Als Mitglied der legendären Funkgruppen Parliament und Funkadelic beeinflusste er maßgeblich das, was wir heute G-Funk nennen. Der berühmteste Einsatz der Troutman-Talkbox: der Refrain von »California Love« von 2Pac und Dr. Dre. All das macht selbstverständlich klar: HipHop hatte schon immer eine Affinität, quasi als Geschenk zur Geburt seiner Vorväter, zur Verfremdung von Stimmen. Autotune vereinfachte diese Technik bloß – und machte sie deshalb massenkompatibel.

Offen bleibt die Frage: Was ist so faszinierend daran, die eigene Stimme klingen zu lassen, als käme sie direkt aus der Maschine? Möchte Quavo damit ausdrücken, dass er seine Stimme verliert, dass sie nicht mehr zu ihm gehört, wenn er sie im Studio in ein Mikrofon hinein rappt? Möchte uns Future mittels seines exzessiven Autotune-Gebrauchs verklickern, dass er auf der Straße verlernt hat, wie echte Gefühle funktionieren? Will er deshalb blechern und leiernd klingen wie einer, dem die sogenannte Menschlichkeit abhandengekommen ist? Will er suggerieren, dass er darüber trotzdem so etwas wie Melancholie empfindet? Sang Kanye West »808s & Heartbreak« nicht nur deshalb mit aufgedrehtem Autotune ein, weil er schlicht nicht singen kann, sondern weil er die Welt nach dem Tod seiner Mutter und dem Ende seiner langjährigen Beziehung nur noch als apokalyptisches Gefühls-Wasteland wahrnahm? Die Antwort auf alle drei Fragen lautet: Vermutlich ja. Auch wenn die allermeisten Rapper sich heute dieses technischen Mittels vor allem deshalb bedienen, weil es ziemlich günstig, verdammt effektiv und vor allem: en vogue ist, lässt sich in der Autotune-Flut, die spätestens 2016 auch Deutschland erreichte (und 2017 kaum noch jemandem auffiel, weil fast jeder millionenfach geklickte Rapper auf Autotune war), doch vor allem ein großes Stück Zeitgeist erkennen. Will heißen: Liebe Freunde von harten Rap-Stimmen und Bars-Gewittern, ihr werdet stark bleiben müssen.

In Zeiten digitaler Einsamkeit und gleichzeitig analog gelebtem und digitalmedial verwertetem, spätkapitalistischem Hedonismus regiert Autotune ganz folgerichtig als Symptom eines gesellschaftlichen Zustands. Ein Performance-Verbesserungs-Plug-in als Kern-Insignie digitaler Kälte sozusagen. Übrigens wurde im selben Jahr, in dem Dr. Hildebrand Autotune fertigstellte, der WAP 1.0-Standard veröffentlicht, also das Internet erstmals aufs Handy gebracht. Will heißen: Als Spiegel der Gesellschaft, der HipHop nun mal ist, ist es schlicht folgerichtig, dass diese Kultur auf die immer schneller voranschreitende Digitalisierung mit einer Technisierung der Stimme reagiert hat, die diese Entwicklung künstlerisch aufzeigt und außerdem den Produktionsprozess von Rapmusik beschleunigt hat. Und so wurde ein Wissenschaftler die wichtigste Person der HipHop-Gegenwart.

Dieses Feature erschien erstmals in JUICE #183. (hier versandkostenfrei nachbestellen)

Illustration: Andreas Denzer

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