Auge auf »Watch The Throne«: Track-by-Track-Analyse von Kanyes & Jay-Zs Klassiker // Review von 2011

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Hinweis: Dieses Feature erschien erstmals am 20. August 2011.

Gestern wurde »Watch The Throne« veröffentlicht. Das erste Album der Internet-Zeitrechnung, das nicht vor seinem Release geleakt ist. Das Album, das schon jetzt wegen seines wirtschaftlichen und kulturellen Impacts als eines der Wichtigsten in einem ohnehin schon unglaublich starken HipHop-Jahr gelten muss. Da wir es in unserer neuen Ausgabe #138 aufgrund schlechten Timings noch nicht berücksichtigen konnten, beginnen wir mit dem heutigen Tag, die Tracks der »Deluxe Edition« einer täglichen Track-by-Track-Rezension durch die JUICE-Redaktion zu unterziehen.

1. »No Church In The Wild«

Unglaublich, wie sehr man sich bereits an Frank Ocean und die sonderbare Stimmung seines melancholischen R&B-Updates gewöhnt hat. Nur wenige Monate nach seinem wahnsinnig starken Download-Tape »Nostalgia, Ultra« erscheint es gar nicht mehr unerwartet, wenn ausgerechnet seine Stimme das Erste ist, was man auf »Watch The Throne« zu hören bekommt. Der Moment gehört Frank Ocean. Bis Hova einsetzt und eindrucksvoll die Szenerie darlegt: »Tears on the mausoleum floor/blood stains the colosseum door…« Schon nach Sekunde 41 ist klar: Genau so muss sie klingen, die »Castle Music«, die Kanye im Vorfeld bereits in Aussicht gestellt hatte.

Weniger opulent als gedacht eröffnet »No Church In The Wild« das HipHop-Album des Jahres 2011. Doch es ist die Ruhe vor dem Sturm. Nur eine Bassdrum und eine Bassline wummern stoisch vor sich hin, darüber wandern zerhackte Synthie-Akkorde. Für die geschmackvolle Auswahl der Samples dürfte laut Credits der New Yorker Beatdigger 88-Keys verantwortlich sein: Ein Solostück des Roxy Music-Gitarristen Phil Manzanera von 1978, eines von der obskuren britischen ProgRock-Band Spooky Tooth und eines von James Brown. Den Rest haben Kanye und sein Engineer Mike Dean klargemacht. Letzterer wird bei Wikipedia als »Dirty South Rap Pioneer« geführt, war tatsächlich ein wesentlicher Bestandteil der Rap-A-Lot-Dynastie, bis zu seiner Beteiligung an »Watch The Throne« jedoch medial kaum präsent. Und das, obwohl er seit »Late Registration« einer der engsten Verbündeten und als Engineer ständiger Studiobegleiter von Mr. West ist.

»No Church In The Wild« macht genau das, was ein guter Opener macht. Seine Aufgabe lässt sich mit der Vorbereitung des ersten Dates in der eigenen Wohnung vergleichen. Man dimmt das Licht, lüftet ordentlich durch, entzündet ein Räucherstäbchen, macht die richtige Musik an. Man erzeugt eine Stimmung, in der sich die erhofften Ereignisse gut anfühlen werden. Das bedrohlich ruhige Instrumental und Frank Ocean tun dies auf ihre Weise. Doch auch Jay und Kanye erfüllen diesen Anspruch, indem sie gleich mal ein paar lyrische Fässer aufmachen, die sich andere MCs nicht mal auf dem emotionalsten Moment ihres Albums anzurühren trauen. Wer da noch ernsthaft wegen des zaghaften Einsatzes von Auto-Tune rumheult, folgt einem Pawlow’schen Underground-Beißreflex und ist eigentlich nur zu bemitleiden, weil er die Schönheit dieser Kunst niemals verstehen wird. Einsatz Kanye: »Coke on her black skin make her striped like a zebra/I call that jungle fever.«

Eine der wichtigsten Feststellungen über »Watch The Throne« ist jene, die schon A-Trak via Twitter getroffen hat: Es ist ein »deepes« Album. »Deep« nicht im Sinne von weinerlicher Creative-Writing-Kurslyrik, sondern »deep« im Sinne von Scarfaces »In My Time«. Kanye und Jay erliegen nicht der allzu naheliegenden Verführung, ausschließlich in eleganter Selbstherrlichkeit zu baden. Wir sollen den Thron nicht bloß anschauen und uns daran ergötzen, sondern ihn beobachten – im wahrsten Sinne des Wortes. Wir sollen hinter die Kulissen und Fassaden schauen, Kanye und Jay geben uns die Gelegenheit dazu. Ja, es ist »Luxury Rap«, aber mit Seele und musikalischem Weitblick. Und »No Church In The Wild« lässt diesen Horizont erahnen, ohne zuviel zu verraten.

Am Ende des Songs wird 20 Sekunden lang ein Break angespielt, das zum zweiten Song »Lift Off« mit Beyoncé überleitet. Hier bezieht sich Kanye West auf eine Tradition, die Pete Rock seinerzeit begründet hat: Auf seinen beiden Alben mit CL Smooth wurden zwischen den Tracks immer kurze Interludes angespielt (die er freilich nicht als solche bezeichnet oder im Tracklisting ausgewiesen hat). Dabei handelte es sich um Loops, Breaks oder Samples, die ihm als Idee für einen kompletten Song nicht reichten, die aber etwas für die Stimmung des Albums im Gesamtkontext bedeuteten, uns den musikalischen Horizont des Protagonisten vor Augen führten und gleichzeitig doper waren als vieles, was andere Produzenten dieser Zeit als reguläre Tracks verbraten hatten. In dieser verschwenderischen Großzügigkeit im Umgang mit Ideen ähneln sich Pete Rock und Kanye West mehr, als das der durchschnittliche »J Dilla-Wichser« (DJ Stylewarz) wahrhaben will.

Eine Maxime für »Watch The Throne« lautete: Keine Emails. Jeder Song wurde von Kanye und Jay gemeinsam im Studio aufgenommen. Aufgrund der zum Bersten gefüllten Kalender zweier Superstars liest sich die Liste der Aufnahmeorte wie die Weltreiseroute eines Millionärs: Südfrankreich, Bath/England, Australien, Paris, Abu Dhabi, New York und Los Angeles. Angesichts solcher Opulenz in der Ausführung wirkt es um so aufregender, dass »No Church In The Wild« ein leiser, fast schon zurückhaltend selbstsicherer Opener ist. Kurz nicken Kanye und Jay hier anerkennend der Beatdigger-Tradition von Marley Marl bis Madlib zu, driften dann aber mit Warp-Geschwindigkeit in neue musikalische (Atmo-)Sphären, die Doc McKinney und Noah »40« Shebib auf dem Fundament dessen erbaut haben, was Kanye selbst zusammen mit Jeff Bhasker und No I.D. vor wenigen Jahren initiiert hat. Das ist Zitatkunst auf allerhöchstem Niveau und damit nicht weniger als: verdammt doper HipHop.

On to the next one.

Text: Stephan Szillus

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