Als Tightill und Doubtboy Mitte letzten Jahres ihr Tape »RnB Anarchie« releasten, war schnell klar: Diese Jungs sind anders. Aus anfänglichen Spielereien ist mit Erotik Toy Records nun ein Kollektiv entstanden, das unaufgeregt Genregrenzen ignoriert und doch durch und durch HipHop ist. Im Zentrum des Schaffens von Tightill, Doubtboy, Skinnyblackboy & Co. steht der Ort, wo alles angefangen hat: Bremen. Ein Besuch in der Hansestadt.
»Ich hab ein bisschen die Befürchtung, dass das voll das besoffene Chaos wird«, sagt Tightill, während wir durchs Bremer Viertel schlendern. Der Kiez nahe des Hauptbahnhofs ist Szenetreffpunkt und Hipster-Mekka. Und wer hätte es gedacht: Das war nicht immer so. Wo in den Siebziger- und Achtzigerjahren noch der Punk in den Fassaden hing, reihen sich nun Cafés mit hölzernem Interieur und sanierte Altbauwohnungen aneinander. Der ganz normale Gentri-Wahnsinn eben. Die Mieten für Neubauten sind im innerstädtischen Bereich in den vergangenen fünf Jahren um fast zwanzig Prozent gestiegen, der Mangel an sozialem Wohnraum ist ein großes Thema in Bremen. Das Viertel steht sinnbildlich für den Wandel im Wohnmarkt, die wenigen übriggeblieben porösen Wände sind Relikte aus der Anarcho-Phase, auf ihnen Graffiti und Sticker, Statements gegen die Schickeria. Tightill kennt hier jeden Kiosk wie die Tasche seiner Raiders-Collegejacke. Das von ihm befürchtete Chaos? Der Auftritt seiner Crew Erotik Toy Records, die am Abend im Bremer Kulturzentrum spielen wollen. Um fünf Uhr nachmittags ist Soundcheck, die Kollegen Doubtboy und Yung Meyerlack sind um zehn Uhr morgens schlafen gegangen, das eine oder andere Haake-Beck soll wohl geflossen sein. Tightill wird mit seiner Befürchtung recht behalten – und das ist gut so. Aber von vorne.
Wie alles begann, ist im Falle von Erotik Toy Records schwer zu sagen. Dafür ist der Kreativhaufen noch zu frisch zusammengesetzt, zu planlos und zu zerstreut. Mit Sicherheit bildet aber das letztjährige Tape »RnB Anarchie« von Tightill und Doubtboy eine der ersten Momentaufnahmen in der Labelgeschichte. Während in Deutschraphausen die Kuh mit Rekord-Rap und Streaming-Wahnsinn bis auf den letzten Tropfen leergemolken wird, stellten Tightill & Doubtboy mit ihrem Tape die wichtige Frage nach der Selbstironie im deutschen Rap. Und beantworteten sie gleich selber: Ja, verdammt, Deutschrap braucht mehr zwinkernde Augen. Gerade in Zeiten, wo in vorhersehbaren Zyklen immer wieder mit Karacho auf den nächsten Peak zugesteuert wird, weil Rap eben jetzt Pop ist und sich Geld damit verdienen lässt. Mit Herbert-Grönemeyer-Hooks, Gratwanderungen zwischen Parodie und Progression und einem Soundbild, das sich aus aufgefrischten Gassenhauern der NDW-Ära speist, leierten sich die beiden zum Untergrundtipp. Einige Realkeeper und Humorlose fühlten sich vor den Kopf gestoßen, erste Youtube-Kommentatoren erhoben die Stimme und schon fand sich das Lover-Duo in der Meme-Rap-Ecke wieder. Die Frage steht im Raum: Sind Erotik Toy Records tatsächlich nur ein paar gelangweilte Kunststudenten, die sich auf Kosten der Kultur einen Jux machen?
Die Antwort darauf liegt auf den Straßen Bremens. Während wir mit Tightill durch das Viertel spazieren, trifft er jeden: Skater-Homies, Werder-Ultras oder einfach ganz normale Typen, die augenscheinlich nichts mit Rap am Hut haben. »Das ist typisch für hier. Dieses etwas Provinzielle hat gute Seiten. Zwischendurch hier chillen ist einfach perfekt«, sagt er und fügt an: »Ich kann mich hier konzentrieren, die Leute haben Zeit füreinander.«
Tightill wächst in Bremen auf, ist als Jugendlicher Skater, Punk und Sprüher: »Ich hab so viele Szenen mitgemacht in meinem Leben, dass ich auf Szenen scheiße. Und Engstirnigkeit ist mir überall heftig auf den Sack gegangen.« Auch Rap wird irgendwann ein Thema. Zunächst auf Englisch und beeinflusst vom Memphis der frühen Nullerjahre, stellt sich Tightill irgendwann die Elementarfrage: Was willst du überhaupt erzählen? Wer bist du? »Mir hat es voll widerstrebt, Rap über mich selbst zu machen«, erinnert er sich. Also fängt er an, von seinem Alltag zu erzählen, seinem »Freak-Leben«, das ihn von Barcelona über Zürich und Berlin wieder nach Bremen zurückführt. Die insgesamt neun Jahre, die er nicht in seiner Heimatstadt verbringt, sind essenziell für den Punkt, an dem er mittlerweile steht; und für die Freiheit, mit der er jetzt Musik machen kann. Als er Bremen damals Richtung Barcelona verlässt, besetzt er zweieinhalb Jahre leerstehende Gebäude, lebt in katalanischen Kommunen mit Leuten aus der ganzen Welt. Als er nach Berlin zieht, findet er sich im Georg-von-Rauch-Haus in Kreuzberg wieder, das bis heute als selbstverwaltetes Wohnkollektiv gilt. Was das mit dem künstlerischen Ansatz von ihm und seiner Crew zu tun hat? Alles, denn bei Erotik Toy Records spielen verschiedene Lebensentwürfe genauso wenig eine Rolle wie unterschiedliche Genres.