RAF Camora: Nenn ihn Primo // Titelstory

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Nie ohne mein Team

Das Konzert. RAF hat sein Publikum vom ersten Basslauf an voll im Griff, führt es versiert durch sein Set, als wäre er dafür geboren. Die Kids kennen jeden Text, feiern jede Hook, jede Geste. Die Luft riecht nach Schweiß und Serotonin. Es sind Abende wie diese, für die der Szeneterminus »Abriss« ersonnen wurde. Den ersten Teil der Show bestreitet RAF alleine, bereitet sein Publikum vor auf das Mehr, das noch folgen wird – als sei er eine Art Vorgruppe für sich selbst. Als die bekannte Synth-Line von »Palmen aus Plastik« einsetzt, wird die Konzertanlage des Docks durch das Jubelgeschrei der 1.500 Anwesenden in ihre Schranken gewiesen – und man wird tinnitusgefährdend daran erinnert, dass das Wort »Fans« eine Abkürzung von »Fanatics« ist. Als Bonez in seinem Trademark-Grimey-Outfit und orangefarbener Ralph-Lauren-Cap auf die Bühne springt, dreht die erste Reihe durch wie Fidget Spinner. Ein Mädchen muss von Rettungskräften gen Ausgang geleitet werden – frische Luft. Ihre beste Freundin hätte im Endorphinrausch fast nichts davon mitbekommen.

RAF und Bonez sind ein eingespieltes Team. Die unzähligen Konzerte im Zuge des »Palmen aus Plastik«-Hypes haben in den für den Bewegungsapparat verantwortlichen Hirnhälften alles abgespeichert. Die symbiotische Perfektion, die sie in ihren gemeinsamen Tonträger gegossen haben, konnten die beiden auch auf ihre Live-Show übertragen. Die beiden antizipieren formvollendet, agieren als Einheit, verstehen sich blind. Ein Security-Mann verteilt aus dem Graben heraus Wasser an die zerfeierte Meute in der Front Row.

Nachdem RAF seinen Part beim Song »Mörder« beendet hat – Break. Ekstase bis in die hinterste Hallenecke. Die Leute wissen, was kommt. Oder besser gesagt, wer: Gzuz. Er betritt die Bühne, einen Joint im Mund, schreitet erhaben zum Bühnenrand, zieht nochmal und lässt die Kippe mit einem gekonnten Fingerschnipp im Menschenmeer erlöschen. Dann breitet er in Zeitlupe die Arme aus, seine Hände formen zwei ausgestreckte Mittelfinger. Anhaltende »Einsachtsibööööön«-Sprechchöre. Er greift sich sein Mic: »Gzuz 187, das ein lebenslanger Hustle/N bisschen Sport und eine Jägermeisterflasche!« Dann setzt er zum Stagedive an, springt seinem Joint hinterher. Er findet ihn nicht. Doch das Publikum trägt ihn auf Händen.

Den Hit hat RAF sich – natürlich – für den Schluss aufgehoben: »Ohne mein Team«. Als die bekannte Melodie ertönt, ist das Docks vollends ein Tollhaus. Der Backstagebereich wird kurzerhand auf die Bühne verlegt, knapp fünfzig Leute stehen nun auf der Stage. »Ein bisschen Sekt für die Mädels«, singt Bonez – und der Schaumwein macht unter den feiernden Statisten auf der Bühne die Runde, und zwar direkt aus der Flasche. Als das Konzert nach berauschenden anderthalb Stunden vorbei ist, liegen sich unten im Backstage alle verschwitzt in den Armen. High Five. Alles gegeben. Alles aus.

Egal, welche Richtung, das Ziel ist der Weg

RAF Camora, der Name ist heute gleichbedeutend mit Erfolg. Alles, was der Wahlberliner heute anfasst, wird zu Gold. Oder gleich Platin. Doch das war nicht immer so – im Gegenteil. Es hat einige Jahre gedauert, bis RAF seinen Weg gefunden hat. »Es gab zwei schlimme Phasen in meinen Leben: eine war vor dem Release meines Mixtapes ’Therapie vor dem Album’ 2008, da hätte ich mich auch einliefern lassen können. Damals war ich paranoid – zu viele Drogen, zu viele Geschichten, zu viel Leben im 15. Erst als ich dann nach Berlin gegangen bin, habe ich mich langsam davon erholt«, erzählt RAF. »Die andere schlimme Phase war 2013. Die Veröffentlichung meines ’Hoch 2’-Albums war der Tiefpunkt meiner Karriere. Wenn ich könnte, würde ich die Platte aus meiner Diskografie löschen.«

Dabei chartete das Album damals auf Eins – auch wenn davon nur 11.000 Einheiten über den Ladentisch gingen. Die anschließende Tour wurde dennoch groß gedacht: Band, Lichtshow, Nightliner – doch die großen Hallen, die gebucht wurden, blieben leer. »Das schlimmste Konzert war im Rosenhof in Osnabrück – eine Location für locker 1.000 Leute. Am Ende waren aber bloß 160 da. Ich stand da auf der Bühne in dieser fast leeren Halle und hab einfach nur gehofft, dass es bald vorbei ist – eine ganz schlimme Zeit.« Ein Jahr zuvor hatte RAF mit dem »RAF 3.0«-Album schon erfolgreich und mit viel Props aus der Szene Rap und Reggae zusammengebracht – und damit bereits den Grundstein für das gelegt, was ein paar Jahre später »Palmen aus Plastik« werden sollte. Doch bei »Hoch 2« versuchte RAF stattdessen, seine musikalische Vorliebe für Grunge mit HipHop zu mixen. »Ich dachte damals wirklich, ich sei Kurt Cobain.« Er lacht heiser. Heute weiß RAF: »Manche Sachen sind in Kombination einfach nicht cool. Ich wusste damals halt noch nicht, wer ich bin.«

»Ich stand da auf der Bühne in dieser fast leeren Halle und hab einfach nur gehofft, dass es bald vorbei ist – eine ganz schlimme Zeit«

Doch wie es eben so ist: Man lernt aus solchen Erfahrungen, entwickelt sich weiter. RAF legte erst mal eine kleine Pause ein, um sich zu sammeln, durchzuatmen, neu auszurichten. Damals signte er Sierra Kidd und nahm mit Chakuza das Spaßprojekt »Zodiak« auf – bis er sich künstlerisch wieder gefunden hatte. »Wenn ich heute einen Künstler unter Vertrag nehme, sage ich dem zuerst: Erkläre mir dich in drei Worten! Wenn du das nicht kannst, meld dich erst wieder bei mir, wenn du es kannst«, verrät RAF. »Und wenn du diese drei Worte hast, dann sei diese Worte. Lebe das! Sei in diesen drei Worten der Allerbeste! Keiner darf darin besser sein als du!« Auch für sich selbst hat RAF diese drei Worte definiert. Sie lauten: Rabe. Dancehall. Wien.

Der Rabe ist seit jeher das Symboltier RAF Camoras. Über die mythologische Bedeutung des Vogels und die Parallelen zum Wesen des Rappers könnte man vermutlich ganze Doktorarbeiten verfassen, doch Fakt ist: Das Weitsichtige, Wilde, Unheilvolle, das der Rabe repräsentiert, war stets auch ein wichtiger Teil im Kreativkosmos von Raphael Ragucci. In der nordisch-germanischen Mythologie galten Raben als Symbol der Weisheit, im Mittelalter als Todesbringer und in der Traumdeutung als Boten, die als Luftwesen aus anderen Sphären (und dem Unterbewussten) berichten. Perfekt für einen Rapper – zumal RAF als Meister des geflügelten Worts schon immer geredet hat, wie ihm der Schnabel gewachsen ist.

Auch Dancehall war stets nicht nur taktgebende Kraft für RAFs Œuvre, sondern auch elementarer Teil seiner musikalischen Sozialisation. Natürlich rotierten in den Neunzigern auch die einschlägigen HipHop-Klassiker auf RAFs Anlage, aber eben auch die stilprägenden Platten jamaikanischer Dancehall-Kings wie Bounty Killer und Beenie Man. Interessanter Side Fact: Bereits im JUICE-Interview 2009 zu RAFs Debütalbum »Nächster Stopp Zukunft« steht in der Einleitung, »Raphael geht es laut eigener Aussage darum, mit origineller, authentischer Musik zwischen HipHop und Reggae auf sich aufmerksam zu machen« – ein Umstand, an dem sich bis heute offensichtlich nichts geändert hat, der aber erst jetzt, knapp eine Dekade später, unabdingbarer Teil seiner Erfolgsformel geworden ist. Es ist eben immer eine Frage der richtigen Zeit und des richtigen Ortes.

Apropos Ort: Auch die Verbundenheit zu seiner Heimatstadt Wien – genauer: zum 15. Bezirk (Fünfhaus), in dem er aufgewachsen ist – hat RAF als dritte Säule ins Zentrum seiner kunstpersondefinierenden Trias erkoren. Hier liegen seine Wurzeln und die Ursprünge dessen, wer er heute ist. Der 15. ist daher heute auch zunehmend Teil jeder urbanen RAF-Saga, auf »Anthrazit« hat er seinem Viertel mit »Vienna« und »Andere Liga« sogar gleich zwei musikalische Monumente errichtet. »Der Song ‚Andere Liga‘ ist so was wie ein Kulturgut vom 15. Bezirk. Wenn du das Lied hörst, das Video siehst, kannst du fühlen, wer wir sind«, findet RAF, der sich im Herzen des Barrios im letzten Jahr eine Eigentumswohnung gekauft hat. »Oberflächlich ist das zwar ein Liebeslied für eine Balkan-Chica, in Wahrheit aber ein Liebeslied für meinen Bezirk.« Und diese dritte Säule gibt nicht nur RAF kreativen Halt, sondern verändert auch das Selbstverständnis der Menschen vor Ort. »Ich kann den Stolz in ihren Augen sehen, wenn alle singen: ’Sie ist aus Fünfhaus, Bruder!’«

Die Welt oder gar nix

Heute ist RAF Camora ein Künstler, der weiß, was er will. Und was er kann; der durch sämtliche Höhen und Tiefen des Musikgeschäfts gegangen ist, sich zwischendurch auch mal verstrickt und verloren, aber nun, mit etwas Schützenhilfe von der Elbe, endlich gefunden hat. Nicht nur »größter Artist Wiens seit Falco«, sondern hallenfüllender Popstar im gesamten deutschsprachigen Raum und Sprachrohr einer ganzen Generation, die zwar ausgelassen unter »Palmen aus Plastik« feiern, deshalb aber nicht voll und ganz auf inhaltliche Deepness verzichten will. RAF Camora ist angekommen, um zu bleiben – zumindest noch für zwei Alben.

Der Backstagebereich leert sich merklich, die Stimmung ist ausgelassen. Bonez steht oben ohne an der Bar und feixt mit dem Tourmanager, Gzuz unterhält eine Runde von fünf, sechs Leuten: »Ich bin besoffen, Alter! Ich rede mich um Kopf und Kragen!« Gelächter, Ghettofaust, die nächste Runde. RAF kommt aus seiner Garderobe. Er sieht zufrieden aus. Und erleichtert.

Die Anwesenden machen sich fertig, um weiterzuziehen. »Eigentlich geh ich ungern feiern nach einem Konzert. Aber in Hamburg, Berlin und Wien geht das nicht anders – sonst enttäuschst du alle.« Er seufzt. Dann lächelt er: »Gestern vorm Club wie ein Sandler/Heute nehmen wir ihn auseinander.« Seine Jungs und ihn zieht es jedoch nicht auf den Kiez, sondern weiter raus nach Hamburg-Eilbek ins H1, einen Nachtclub, der sich vor allem mit R’n’B- und EDM-Events einen Namen gemacht hat. Am nächsten Tag wird RAF den Alkohol verfluchen und erzählen, dass er sein Hotelzimmer nicht mehr gefunden hat, seine PIN nicht mehr eingeben und nicht mehr sprechen konnte. Nun, er hat seine Stimme wiedergefunden. Ein exzessiver Abend.

Als ich das Docks verlasse, kurz bevor die Gang zum H1 aufbricht, und aus dem Backstagebereich in die anthrazitfarbene Nacht trete, steht eine Horde aufge­hübschter Teeniemädels auf der Straße und sieht mich hoffnungsvoll an. Dann sagt eine gelangweilt: »Nee, der gehört nicht dazu.« Sie hat recht.

Text: Daniel Schieferdecker

Diese Titelstory erschien erstmals in JUICE #185. Back Issues können versandkostenfrei im Onlineshop bestellt werden.

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