Die späte Nachmittagssonne taucht die Spitzen der Berliner Hochhäuser an diesem Frühlingsfreitag in ein goldenes Licht. Es ist fast schon einer dieser Tage, die RAF Camora in der Hook von Sillas »Jeder Tag« besingt. Aus einem offenen Fenster des tristen Gebäudekomplexes am Rande von Friedrichshain schallt auch jetzt wieder der urtypische Gesang des Österreichers über die Straße. Hinzu gesellt sich der wuchtige Wiener Slang von Nazar. Nicht verwunderlich, arbeiten die beiden in RAFs Studio doch gerade am gemeinsamen JUICE Exclusive. Aus den angrenzenden Proberäumen dröhnt das Schlagzeug einer Metal-Band herüber. Tua hat es sich in seinem Studio ein Stockwerk weiter oben gemütlich gemacht. Man hört, sieht und fühlt: Hier wird Musik gemacht – auch oder gerade bei einem Straßenrapper wie Nazar.
Das Jahr 2011 hat für sein Genre gut begonnen. Massiv und Farid Bang landeten im oberen Drittel der deutschen Albumcharts, und auch Nazar könnte eine Menge Rückhalt bekommen, wenn er Anfang Mai sein drittes Soloalbum »Fakker« über D-Bos Wolfpack-Label releaset. Seit drei Jahren geht es für den Österreicher steil bergauf: ein mehr als gutes Standing inner- und außerhalb der Szene, an der Spitze von MTV TRL, Werbeverträge, ein eigener Kinofilm und im letzten Sommer auch die Zusammenarbeit mit der Sozialdemokratischen Partei Österreichs im Rahmen einer Wahlkampfkampagne.
»Als ich anfing zu rappen, hatte ich keine Vorstellung davon, dass ich mal auf so einem Level ankommen würde«, erinnert sich Nazar. »Auf ‚Kinder des Himmels‚ waren zum Teil ja die ersten Texte gelandet, die ich überhaupt in meinem Leben geschrieben habe.« Den Künstler Nazar gab es da in den Augen des heute 26-Jährigen noch gar nicht. »Vielleicht war ich ein kleines Talent mit halbwegs vernünftigen Texten.« Eine Vorstellung davon, wie die eigene Musik klingen sollte, bekam Nazar erst so richtig bei den Arbeiten an ‘Artkore’, dem gemeinsamen Album mit RAF Camora, das ihn auch in Deutschland einem größeren Publikum vorstellte. »Das war das erste Album, bei dem wir uns richtig ausgetobt haben, was Gesang, Rap und Arrangements anging. Denn auch wenn man das vielleicht nicht von mir denkt, bin ich ein sehr musikalischer Mensch.«
Auch wenn man meint, in den letzten Monaten einen Trend zu organischer, handgemachter Musik im Rap ausmachen zu können, können wenige ihre verhältnismäßig neue Linie so präzise begründen wie Nazar. »Ich bin ein Riesenfan von echten Künstlern wie Casper oder Manuellsen. Wann man Musik macht, muss man sich auch mit der Materie auskennen. Das ist für mich selbstverständlich.« Dementsprechend wendet Nazar enorm viel Zeit auf, um Musikalität und Straßeninhalte auf höchstem Niveau zusammenzuführen. »Geschrieben habe ich ‘Fakker’ in gut zweieinhalb Wochen«, erinnert sich Nazar. »Danach haben RAF und Hamudi von The Royals aber bestimmt noch mal drei Monate an den Songs gebastelt und von manchen Instrumentals zehn neue Versionen angefertigt. Ich wusste schon, dass ich den beiden tierisch auf den Sack gehen würde«, lacht er. »Aber ich wollte, dass aus den beiden eine richtige Band wird. Das Ergebnis sollte nach High End und 3D klingen.«
»Ganz großes Kino eben«, ergänzt RAF lachend – und das ist der Sound auf »Fakker« definitiv. Neben RAF und Hamudi haben auch Gee Futuristic, X-Plosive, Hookbeats und Tua mitproduziert. Letzterer verschneidet auf »Sprinten & Fallen« typische Dubstep-Bässe mit verhaltenen Akustikgitarren zu einem aggressiven Stück Rap-Step. »Tua ist für mich eines der größten, aber auch unterschätztesten Talente in Deutschland. Es war schon länger mein Wunsch, mit ihm zusammenzuarbeiten, aber ich gehe nicht unbedingt auf Leute zu, wenn ich sie nicht kenne. Dann kam der Kontakt über RAF zustande und Tua hat sich auch total gefreut, weil er meine Musik sehr mag«, berichtet Nazar von der Zusammenarbeit mit dem Neu-Berliner. Nicht nur diese auf den ersten Blick etwas befremdliche Kollaboration macht deutlich, dass »Fakker« die Idee hinter »Artkore« behände weiterspinnt. »Keinen Bock« mit Manuellsen etwa bricht nach gut dreieinhalb Minuten alle verkrusteten Rap-Songstrukturen auf und hat seinen ganz eigenen »Devil In A New Dress«-Moment, in dem RAF den Song mit einer Runde Basszockerei zu einem großen Stück Musik aufbläst.
Mit versierten Produzenten wie RAF und Hamudi im Rücken kann die Weiterentwicklung des Nazar-Sounds für Nazar eigentlich nicht schief gehen: »Wir waren wahnsinnig glücklich, dass ‘Artkore’ so gut angenommen wurde. Viele sind danach zu uns gekommen und wollten einen Beat oder eine Hook von RAF oder ein Feature mit mir haben. Irgendwann kommt man eben an den Punkt, an dem man Inspiration braucht. Ich höre mir ja auch alles an. Und neben 5.000 schlechten Sachen höre ich dann auch die eine, die ich auf meinen Stil umarbeiten will. Ich denke, jeder Künstler braucht dann und wann diese Inspirationen. Auch jemand wie Eminem fängt jetzt an, Sachen zu samplen, die vor 15 Jahren erfolgreich waren. Die Black Eyed Peas‚ machen nur Coversongs. Aber ich verurteile das nicht. Wenn man da seine eigene Note einbringt, kann das sogar noch besser werden.«
Wenn Nazar von seiner Musik spricht, wirkt er ruhig und reflektiert. Ein sympathischer junger Mann mit realistischen Vorstellungen und Visionen von seiner Kunst – aber er ist auch ein ehrgeiziger Kontrolleur. »Ich hatte schon immer den Vorteil, dass ich unabhängig war. Vielleicht hat es dadurch länger gedauert, nach vorne zu kommen, aber ich kann mich mittlerweile komplett ausleben.« Das beweist auch der Rohschnitt der Splitvideos, die im Rahmen der Veröffentlichung von »Fakker« das Licht der Welt erblicken sollen. Hochauflösende Bilder, atemberaubende Optik und durchdachte Storyboards, die im One-Take-Einheitsbrei der Deutschrap-Videolandschaft ihresgleichen suchen. Nazar hat bei Konzept und Dreh tatkräftig mitgewirkt. So lange, bis er seinen Kopf endlich durchgesetzt hatte, wie er selbst zugibt.
Im Video zu »Meine Fans« ist ein Muslim mit langem Bart, orangefarbener Gefangenenkluft eines Guantamo-Inhaftierten und Gebetskäppchen zu sehen. Der Hintergrund: Im letzten Jahr wirkte Nazar im Rahmen der Landtagswahlen in Österreich gemeinsam mit RAF, Chakuza und Kamp im Video »Meine Stadt« mit und machte sich auch darüber hinaus für die SPÖ stark. Es dauerte nicht lange, bis die FPÖ um HC Strache Nazars Texte auseinandernahm. »Es lief eine Anklage gegen mich, ich wurde von der Presse als Islamist bezeichnet. Ich dachte mir, wenn sie den Islamisten wollen, dann bekommen sie ihn auch«, schmunzelt er. Dabei hängt der Skandal Nazar kein Stück mehr nach. »Dadurch, dass ich auf so primitive Art und Weise angegriffen wurde, sind viele Leute erst auf mich aufmerksam geworden. Und viele, die mich vorher verurteilt und meine Musik nur mit Klischees verbunden haben, waren plötzlich auf meiner Seite. Auch die SPÖ hat mir später noch mitgeteilt, dass sie die Jugendwahlen gewonnen haben«, lacht Nazar. »Ich war froh, ein Teil des Ganzen zu sein.«
Seine Bekanntheit bringt Nazar mittlerweile auch außerhalb der Musik enorme Vorteile. Gerade erst hat er einen Werbevertrag mit einem Energydrink-Hersteller abgeschlossen. »Es gab auch vorher schon einige Anfragen für Produkte, hinter denen ich aber einfach nicht stehen konnte«, erklärt Nazar. »Geld ist zwar wichtig, aber ich habe so dafür gekämpft, meinen Namen zu etablieren, dass ich ihn jetzt nicht für alles hergeben will. Ich verstehe mich gut mit dem Inhaber und er hat mir bei der Gestaltung der Spots freie Wahl gelassen.« Eine ähnlich glückliche Verquickung von Bekanntschaften brachte Nazar auch seine erste Filmrolle ein. »Schwarzkopf« heißt der Film von Arash Riahi, einem iranischstämmigen Regisseur, den Nazar schon seit seiner Kindheit kennt. Anstatt sich auf Nazars Biografie zu beschränken, erzählt der Doku-Spielfilm, der laut Nazar »pädagogisch wertvoll ist und einen Einblick ins wahre Leben« gibt, von drei Generationen von Migrantenkindern in Österreich. Ende März feierte »Schwarzkopf«, in dem auch Chakuza und RAF Camora zu sehen sind, beim Filmfestival »Diagonale« Premiere und soll dann auch bundesweit laufen.
Werbeverträge, Wahlkampfkampagnen und Kinofilme sind es, womit Nazar mittlerweile sein Geld verdient – trotzdem liegt der Fokus noch auf der Musik: »Ich hoffe natürlich, dass ich mit meiner Musik weiter erfolgreich bin – und vor allem auch in Deutschland mal richtig Fuß fasse. Sonst werde ich mich in Zukunft auf Videoproduktionen spezialisieren. Man darf nicht vergessen, dass ein Album in dem Umfang, wie ich es produziert habe, unfassbar viel Arbeit, Zeit und Geld kostet. Zwar habe ich mit anderen Dingen viel Geld verdient, habe das aber direkt wieder in die Musik einfließen lassen, da ich ja nie Vorschüsse von Labels bekommen habe.« Nazar überlegt kurz. »Ich muss langsam auch erwachsen denken, was das Geld betrifft und vielleicht mal in die Anzahlung eines Hauses investieren. Ich werde dieses Jahr schon 27 und habe keine Lust, mit 35 immer noch von Ghettos und dem ganzen Kram zu erzählen. Da muss man ein bisschen wirtschaftlich denken. Dieses Album und sein Erfolg ist sehr ausschlaggebend für das, was mit Nazar passieren wird.«
Text: Jan Wehn
Foto: Murat Aslan