Kitschkrieg & Trettmann: »Im HipHop fühlen wir uns Zuhause« // Titelstory

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In den letzten drei Jahren ­haben KitschKrieg und Trettmann deutschsprachige Popmusik in die Zukunft geführt und sich vom Underdog zum Konsensphänomen hochgearbeitet. Mit ihrer ersten Nummer-eins-Single »Standard« und dem Nummer-zwei-Album »Trettmann« unterwanderten sie 2019 auch noch den Mainstream. Wie die DIY-Clique über sich hinauswuchs und ihrer Vision treu blieb – eine überfällige Titelstory.

Der Kiez am Paul-Lincke-Ufer wirkt noch verschlafen. Es ist ein winterlicher Novembersamstag, als sich die Tore des KitschKrieg-Pop-up-Stores zum ersten Mal öffnen. Im vergangenen Jahr wuchs der Onlineshop und Merchandise-Umsatz so rasant, dass die Kreuzberger größere Räumlichkeiten anmieten mussten, ja, fast zum Start-up anwuchsen – und schon jetzt quillt das neue Lager über. »Wenn das so weitergeht, müssen wir uns in zwei Monaten wieder was Neues suchen.« Awhodat sagt das ohne jede Überheblichkeit, während sie durch das enge Kellergeschoss führt. An den Wänden stapeln sich Shirts und Schals, Hoodies, Tonträger und Awards. Die Wahlberlinerin ist Fotografin und Art Director, kurz: das Auge der Crew und für die prägnante Schwarz-weiß-Optik des Brands verantwortlich.

Gemeinsam mit Haustätowiererin KottiCane hat die Berliner Gang zu einem limitierten T-Shirt-Drop und öffentlicher Ink-Session geladen. Im Erdgeschoss, hinter der improvisierten Ladentheke, bringt sich FIJI Kris schon in Position. Er liegt oberkörperfrei in der Horizontalen und verkneift das Gesicht. Die Tinte auf seinem Rücken ist noch feucht, der Schriftzug gut lesbar: Standard – in Anführungszeichen. Fizzle und awhodat schütteln grinsend den Kopf. Als wäre dieser nächste Meilenstein erst jetzt, in Haut gestochen, wirklich greifbar.

Es ist die Woche eins nach der Eins – und noch keine Ruhe ist eingekehrt, seit die erste KitschKrieg-Single mit Starthilfe von Gzuz, Gringo, Ufo361 und der »Standard«-Challenge viral ging und zweimal in Folge die Charts anführte. Das Gipfeltreffen von vieren der gefeiertsten Rapper der Stunde geht als Tune des Jahres ins Rennen. Die Tretti-Hook wird man nicht mehr los, und sie profitiert von der Meme-würdigen Gzuz-Catchphrase. Deutschrap landete 2018 unwirkliche 13 Nummer-eins-Hits, doch keiner davon wird das Genre ähnlich prägen und im kollektiven Popbewusstsein kleben bleiben wie dieser Odd-Posse-Track im Dancehall-Gewand. »Standard« rotiert im Radio – und stellt den nächsten Evolutionsschritt im Portfolio der Berliner dar: vom Produzententrio hinter den Kulissen zu eigenständigen Künstlerpersönlichkeiten zur wertvollsten Marke im Spiel.

»Die deutsche Reggaeszene hat uns immer genervt«

Fiji Kris

Trettmann hat den Schritt zum Genre-Superstar schon gemeistert, auf dem Marsimoto-Feature »Immer wenn ich high bin« als The Walking Trett doch tatsächlich den Part des Jahres geliefert und überhaupt: seit seinem Reboot mit den Noten so ziemlich alles richtig gemacht. Das Trio produzierte für den mehrfachen MVP seit Januar 2016 die »KK«-Trilogie, das »Herb & Mango«-Tape mit Megaloh, eine »Palmen aus Plastik«-EP. Dazu gelang ihnen mit der »Toxic«-EP und »Montenegro Zero«, drei EPs für Joey Bargeld, dem Major-Debüt »Lince« für den Schweizer Stereo Luchs und Produktionen für Cro, Dendemann und die 187ers ein Hit-and-Run, der in der hiesigen Rapgeschichte seinesgleichen sucht (Gzuz Voice). Erst eroberten sie die Straße, nach Trettmanns »#DIY«-Opus – dem ersten deutschsprachigen 6-Kronen-Album in der JUICE seit »Russisch Roulette« – hat es auch der letzte Feuilletonwächter verstanden: Standard ist an dieser Erzählung so ziemlich gar nichts.

»VORBOTEN EINER NEUEN EISZEIT«

Denn darauf gesetzt, dass die DIY-Saga ein Happy End nimmt, hatte erstmal niemand. Im Herbst 2015 hielt sich awhodat noch mit Aushilfsjobs über Wasser, Fizzle betrieb ein recht aussichtsloses Dancehall-Label und FIJI Kris schraubte mit seiner Future-Bass-Band Symbiz an der Neuerfindung des Drops. Trettmann, der damals noch Ronny hieß, drehte mit über vierzig seine eigentliche Ehrenrunde als angeschlagener Dancehall Direx und spricht heute von einer Phase des Scheiterns. »Ich war traurig, weil die Musik, die ich liebte, sich erschöpft hatte«, sagt er. »Das war der totale Nullpunkt, privat wie künstlerisch«, ergänzt Fizzle am Tag des Cover-Shoots in seiner großzügigen Westberliner Wohnküche. »Bei meinem Vorgängerprojekt lief nichts mehr. Und für Tretti kam gerade der legendäre Anruf der Booking-Agentur: ‚Wenn sich jetzt nichts Grundlegendes ändert, können wir euch nächstes Jahr nicht mehr buchen.‘ Live zu spielen war unsere einzige Einnahmequelle. Das hat wirtschaftlich keinen Sinn mehr gemacht – und war gleichbedeutend mit dem Karriereende. Der Anruf war wirklich hart.«

Um den Mythos der Fam zu ergründen, muss man allerdings noch früher einsteigen: auf dem splash! 2014, beim Clash gegen die Kölner Indie-Band OK Kid. Als der sächsische Rude Boy dafür Die Orsons, Samy Deluxe, die Beginner, K.I.Z und Megaloh anfragt, wird er von der Resonanz überrascht. »Ich wusste gar nicht, ob die überhaupt meinen Namen auf dem Schirm haben«, gesteht er. Doch alle steuern Dubplates bei, mit denen sein Soundsys-tem, bestehend aus Fizzle und Teka, auch zugezogener Roots-Reggae-Producer und Label-Betreiber aus Berlin, die Massive für sich gewinnt. Am Bühnenrand stehen FIJI Kris und awhodat, die kurz davor gerade erst in die Hauptstadt gezogen ist und sich an den Crew-bildendenden Moment als »ersten Familienausflug, ein Mini-Projekt« erinnert.

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