»’Southernplayalisticadillacmuzik‘ war größer als Outkast«, erinnert sich auch der Rapper Cool Breeze in einer jüngst erschienenen, exzellenten Dungeon-Reportage des »Vibe«-Magazins. »Es ging um Organized Noize und um diesen Sound.« Oder präziser: Es ging um die Dungeon Family und um diesen Keller. Einen der großen, stilprägenden Orte der HipHop-Geschichte, das Bassment von Outkast, der Bunker der Dungeon Family. Man hing ab, rauchte, rappte und schrieb nebenbei Geschichte. So kamen auch andere Mitglieder der Dungeon Family zu Gastbeiträgen auf »Southernplayalisticadillacmuzik«, darunter alle vier späteren Mitglieder des Goodie Mob, Big Gipp, T-Mo, Khujo und Cee-Lo Green, der Organized Noize-Ableger Society Of Soul, Patrick »P-Funk« Brown (alias Sleepy Brown) und das mysteriöse Skit-Girl »Peaches«. Scratches kamen von Mr. DJ, einem Scheibenreiter aus College Park und Cousin Rico Wades ersten Grades, der Outkast auch auf Tour begleitete. LaFace wollte direkt alle Cats in einem Sack einkaufen, eine endlose Reihe an Soloalben schimmerte gülden am Horizont East Points. Alles schien möglich, die Macht der Familie endlos. Wie deutlich Outkast letztlich alle anderen überschatten würden, konnte und wollte – bei allem Talent -keiner ahnen.
Tatsächlich begann die Abkapselung jedoch bereits in den unmittelbaren Folgejahren. Eine große Rolle spielte dabei Mr. DJ, ein eigentlich eher unscheinbares Steinchen im schillernden Dungeon-Mosaik. Hatte er sich in den Anfangstagen noch weitgehend auf Nadelarbeit beschränkt, so wuchsen er und Outkast in den vielen Wochen im Tourbus, die dem überraschenden Erfolg von »Southernplayalisticadillacmuzik« unweigerlich folgten, mehr und mehr zusammen. Nicht nur menschlich, sondern auch aus einer eher profanen Notwendigkeit heraus: Dre und Big Boi wollten auch unterwegs Musik machen, und was sich heute nach einem klaren Fall für die Sportskameraden MacBook und Logic anhört, bedurfte damals noch einer Brücke in die technischen Diffizilitäten. eines Aufnahmestudios. Mr. DJ war diese Brücke, Earthtones III die unweigerliche Folge: Unter diesem Namen produzierten Dre, Big Boi und Mr. DJ bis einschließlich »Stankonia« einen Großteil der Musik auf den Outkast-Alben, Big Boi arbeitet bis heute mit DJ zusammen.
Statt sich mit Pussy und Weed zu brüsten, gerierten sich Outkast als zeitreisende Krieger der Spiritualität, als Außerirdische mit ganz und gar irdischen Problemen, als Revolutionäre aus der Hood des 4. Jahrtausends
Parallel hatte Rico Wade daheim alle Hände voll zu tun. Neben bereits erwähnten Auftragsarbeiten für En Vogue und TLC gab es einen Blanko-Produktionsdeal mit LaFace abzuarbeiten, ein stetig wachsendes Geflecht an Dungeon-assoziierten Artists an den A&R zu bringen, ein Label namens Organized Noize Records aufzubauen, einen Musikmagnaten namens Jimmy lovine zu beraten – und nicht zuletzt eine Party nach der anderen zu schmeißen. Gemeinsam mit den befreundeten Großwesiren L.A. Reid, Jermaine Dupri, Dallas Austin und Puff Daddy sowie diversen anderen Emporkömmlingen der boomenden Industrie verbrannte er zünftig Geld auf Yachten und Strandorgien, drehte seine Runden durch Atlanta ausschließlich im Porsche Carrera und gab sich insgesamt recht haltlos dem Glauben an ewiges Wachstum und Glückseligkeit hin. »I can make $100.000 for every song I do«, vertraute er 1998 der New York Times an. »But one day I want to be Fortune 500. I want to seil this company in five or ten years for $500 million and have them hire me to run it for $10 million a year.«
Dass alles ziemlich anders kommen sollte, ist die eine Sache – Wade hatte sich in einer fatalen Mischung aus moralischer Integrität und mangelndem Geschäftssinn früh aus dem Publishing, Booking und Management seiner Künstler zurückgezogen, den letzten heute noch lukrativen Einnahmequellen der Branche, und in seinem Platin- und Kokain-induzierten Rausch schlicht übersehen, dass jeder noch so heiße Scheiß leider ein natürliches Verfallsdatum eingebaut hat in der schnelllebigen Rapwelt – dass vor allem André schon bald keinen Bock mehr hatte auf diesen Lifestyle, noch mal eine ganz andere. »I done changed totally«, vertraute er 1998 dem »Source«-Magazine an. Doch derlei Bekenntnisse hätte es kaum mehr bedurft, so offenkundig war sein Wandel. Zwar präsentierten sich, als das zweite Outkast-Album »ATLiens« im August 1996 erschien, noch immer »Two Dope Boyz In A Cadillac«. Doch hatten diese Dope Boyz ganz offensichtlich eine neue Bewusstseinsebene im Handschuhfach entdeckt. Statt sich mit Pussy und Weed zu brüsten, gerierten sich Outkast als zeitreisende Krieger der Spiritualität, als Außerirdische mit ganz und gar irdischen Problemen, als Revolutionäre aus der Hood des 4. Jahrtausends. »Revolutionary, scary/thought provoking, spoken/ words of a chain I don’t feel but I see/visions from me/at twenty-three making us free in my community«, heißt es auf »Mainstream«, einem Stück mit Khujo und T-Mo vom mittlerweile selbst zur Hausmacht für straßenweisen Conscious Rap angewachsenen Goodie Mob. Getrieben wurde all das von einem komplett neuartigen Funk-Sound: trippig, verspielt, tief im Blues und Soul geerdet, aber geradewegs einer radikalen Vision von Zukunft zugewandt, runtergebremst bis ins Laszive, gleichzeitig federleicht und massiert, staubig und blankpoliert, wie eine vierzigspurige Geisterautobahn mitten durch Decatur bei 360° im Schatten. In seiner Freizeit begann André zu malen und legte sich seinen charakteristischen Kleidungsstil zu, der bis heute Forenblut hochkochen lässt. Dass er parallel mit Erykah ging, ist selbstverständlich reine Koinzidenz. Big Boi jedenfalls züchtete für seinen Teil Pitbulls. Der Outkast-Dualismus, das Willy Wonka-Ticket zum Future-Funk-Wunderland, war geboren.
Diese einzigartige chemische Verbindung münzten Outkast zwischen 1996 und 2000 in drei komplett unfickbare Chefalben um, die nur deshalb nicht in HipHops Klassikerkanon gelistet sind, weil die beiden zwischendurch einfach keinen Bullshit abliefern wollten, der offenbar immer nötig ist, um eine LP gründlich zu verklären. »ATLiens«, »Aquemini« und »Stankonia« sind meisterhafte Demonstrationen der Kunstform, wonnige Popproppen und komplett geisteskranke Exkurse in die dunkelsten Randzonen der (schwarzen) Musikgeschichte zugleich. Gemästet mit Einflüssen aus Voodoo Blues, New Jack Swing und Space Jazz, aber dennoch von edler Eleganz. Wichtig, aber gleichzeitig so verdammt arschcool. »Return Of The ‚G’«, »Aquemini«, »Da Art Of Storytellin«, »Two Dope Boyz (In A Cadillac)«, »Wheelz Of Steel«, »Mamacita«, »Jazzy Belle«, »West Savannah«, »Skew lt On The Bar-B«, »Liberation«, »Synthesizer«, »So Fresh, So Clean«, »Elevators (Me & You)«, dazu die bis zum Exzess bemühten, aber irgendwie immer noch nicht so richtig nervigen Studentenparty-Staples »Rosa Parks«, »ATLiens« und »Whole Worldq – alles Killer, ohne eingekauftes Talent, sondern ausschließlich produziert von Mr. DJ, Organized Noize und Outkast selbst, bestückt mit Stimmen, Klängen und genuinem Wahnsinn aus den finstersten Ecken des Dungeons.
Während »Aquemini« in der Rückschau das wahrscheinlich vollkommenste Album ist, eine nach Selbstauskunft perfekte Schnittmenge aus der musikalischen Stringenz des ersten und dem lyrischen Freigang des zweiten Albums, so eignet sich doch besonders »Stankonia« als Kritikerfutter und Fallbeispiel. »Stankonia is Outkast’s masterpiece«, urteilte damals etwa der »Rolling Stone«. »Brainy, socially aware, flexible funk akin to Sly and the Family Stone’s 1971 opus, ‚There’s a Riot Going On‘.« Und ordnete für die Periphärinteressierten direkt auch den Outkast-Dualismus musikgeschichtlich ein: »Andre and Big Boi have deftly married two sides of hip-hop: Andre’s way-out, third-eye consciousness harkens back to the freewheeling intellectualism of groups like Public Enemy and De La Soul, while Big Boi represents the streets and the gangsta tradition, albeit with a dose of conscience.« Noch augenscheinlicher als dieser Gegensatz ist auf »Stankonia« aber das Wechselspiel zwischen mundgerechten Gefälligkeiten und haarsträubenden Extravaganzen, die anderen Major-Acts schon mal das Einlassrecht in den Büro-Tower ihres Brötchengebers gekostet hätten. Während dem gemeinen Antenne Bayern-Freund sein »Ms. Jackson«— ein grandioses Stück detailverliebten Hoovercraft-Souls mit feiner Sozialkritik übrigens, trotz der Kanye-Steil-Vorlagen und allem Und-jetzt-alle-Potenzials — auch nach dem siebten Weißbier noch ohne nennenswerte Probleme über die Lippen geht, gehören Stücke wie »Humble Mumble«, »Slum Beautiful« und »Stankonia (Stanklove)« oder auch die Albumdramaturgie an sich, mit ihren zahllosen Skits, Skizzen und sonstigen Stankereien, schlicht zum Fordernsten, was im Mainstream-Rap je zu hören war. Perfekt vereint finden sich die beiden Seiten schließlich in einem Track wie »B.O.B.«: Der ganze Irrsinn an wild gewordenem Irgendwie-Viererfuß, E-Gitarren-Licks, Rave-Signalen und Störgeräuschen wird zusammengehalten von einer doppeldeutig catchy Hookline, die auch der Soulja Boy-Fan von nebenan versteht. Oder eben nicht.