Seiner Musik wurde im Laufe der vergangenen Jahrzehnte vieles nachgesagt. Sie sei aufmüpfig, revolutionär, tiefsinnig und wegweisend. Eines ist Gil Scott-Herons Kunst mit Sicherheit: herausfordernd. Stets speiste sich seine Künstlerpersona aus den Herausforderungen im Umgang eines Individuums mit seiner Biografie. Realität und Fiktion entladen sich in seiner Poesie gleichermaßen. Sein kreativer Output erklärt sich am besten mit einem Zitat aus dem Titeltrack seines jüngsten Albums »I’m New Here«: Sein Werk ist »hard to get to know. And near impossible to forget.«
Gil Scott-Heron ist eine der wichtigsten Stimmen des schwarzen Amerikas. Der gesellschaftliche Einfluss des Kulturphänomens HipHop, das sich immer noch dezidiert am artistischen Fundus des 60-Jährigen bedient, behält seine Relevanz, auch 37 Jahre nach Kool Hercs erster Blockparty in der South Bronx. Deswegen bleibt auch Gil Scott-Herons Name im Jahr 2010 von gesamtkultureller Bedeutung. Vielleicht sogar mehr denn je, in einer Zeit, in der nicht nur der kulturelle und soziale Wert der Kunstform immer wieder zur Debatte steht, sondern in der Feuilletonisten dem ganzen Genre in regelmäßigen Abständen den Totenschein ausstellen wollen. Auf XL Recordings, dem einflussreichsten Indielabel der letzten zehn Jahre, das Künstler wie M.I.A., The Prodigy, Dizzee Rascal und The White Stripes berühmt machte, veröffentlicht der Patenonkel des Rap nach 13 Jahren Studioabstinenz sein neues Album »I’m New Here«.
Gil Scott-Herons Poesie ist das direkte Produkt seiner Biografie, einer amerikanischen Lebensgeschichte zwischen Segregation, Bürgerrechtsbewegung und Crack-Ära. Als einer der ersten schwarzen Schüler auf einer weißen Schule in Tennessee durchbrach er die Realität der Rassentrennung im amerikanischen Süden, nicht ohne tagtäglich die harschen Auswirkungen der Jim Crow-Ära am eigenen Leib zu spüren. Das politische Engagement seiner Mutter bescherte dem Heranwachsenden Zugang zu einer Bildung, die vielen Afroamerikanern seiner Generation verwehrt blieb. Scott-Heron folgte als Student Wegbereitern wie Langston Hughes und Thurgood Marshall auf die Lincoln University in Pennsylvania, wo er seinen langjährigen musikalischen Begleiter Brian Jackson kennen lernte. Doch trotz der schnellen gegenseitigen Wertschätzung und erster fruchtbarer musikalischer Zusammenarbeit zog Gil nach nur einem Jahr das Leben als Sänger, Autor und Dichter in den sozialen Brennpunkten New Yorks dem bildungsbürgerlichen Studentenleben vor. In der Zwischenwelt von politisch-kreativem Engagement und den Herausforderungen der urbanen Realität avancierte er dort zur gefeierten wie umstrittenen Stimme des schwarzen Amerika.
Sein musikalisches Schaffen bewegt sich inhaltlich und stilistisch seitdem in dieser Schnittmenge. Seine Klassiker wie »The Revolution Will Not Be Televised«, »The Bottle«, »Whitey On The Moon« und »Johannesburg« geben noch heute ein akkurates Abbild gesellschaftlicher Ungerechtigkeiten. Es sind teils soziale Milieustudien, teils Aufarbeitungen allgemeingültiger Jedermanns-Probleme. Scott-Heron signte schließlich als erster Künstler bei Clive Davis’ Arista Records. Aus aufmüpfig-intelligenten Spoken Word-Songs schuf er unter Mitarbeit seiner Midnight Band Musikproduktionen im Geiste Coltranes, Aretha Franklins und Al Greens. Gemeinsam mit The Last Poets offerierte er der breiten Öffentlichkeit in den frühen Siebzigern eine dezidiert afrozentristische Formel zwischen Musik und Poesie und ebnete somit den Weg für die Public Enemys, Boogie Down Productions, Native Tongues und Dead Prez der folgenden Generationen: die Konservierung einer revolutionären Geisteshaltung in Verbindung mit cleveren Wortspielen. Die musikalische Formel, der das HipHop-Genre auf Jahrzehnte hinweg folgen sollte – simplifizierte Arrangements, treibende Drums, sublime Basslines und über den Takt gepresste Reime –, lieferte Gil Scott-Heron gleich dazu.
Gil Scott-Heron ist der Prototyp des Rappers und der Inbegriff der Zerrissenheit gegenüber einer Anspruchshaltung, mit der HipHop-Künstler zu kämpfen haben: Sei revolutionär, trage die Last deiner Generation auf deinen Schultern, aber lass dich bloß nicht durch das Negative, das dich umgibt (Drogen, Geld, Gewalt), vom rechten Weg abbringen. Scott-Heron selbst saß bereits wegen Drogenbesitzes in Rikers Island hinter Gittern. Sein Song »The Get Out Of The Ghetto Blues« kann durchaus biografisch verstanden werden. Eine besorgniserregende Abhängigkeit hat er jedoch zur Verwunderung des Publikums immer von sich gewiesen. Scott-Heron wurde von der Allgemeinheit geschätzt oder zumindest anerkannt und hatte damit seinen rappenden Enkeln im Geiste etwas voraus. Und auch mit der Meinung, HipHop habe sein revolutionäres Potential im Goldrausch der Kommerzialisierung völlig verloren, stand er auf der Seite der Feuilletonisten und Meinungsmacher. Auch er äußerte seinen Unmut über die Inhaltsleere der rappenden Nachrichtenboten des ausgehenden Jahrtausends und sandte auf seinem Album »Spirits« von 1995 eine kritische, wenn auch gutmeinende »Message To The Messengers«. Danach schien er lange Zeit von der Bildfläche verschwunden.
»Gil sieht sich als Live-Künstler. Er hat nie aufgehört, auf der Bühne zu stehen. Er kommt aus einer Generation von Blues- und Jazz-Musikern, die für den Live-Auftritt leben. Diese Künstler sind nur selten im Studio. Wenn du Gil also fragen würdest, wo er die ganze Zeit war, wäre seine Antwort: ‘Was meinst du damit? Ich stand auf der Bühne. Wie immer.’« Diese Erklärung von Richard Russell sollte Zweifler an dem Verbleib und der gesundheitlichen Verfassung Gil Scott-Herons zufrieden stellen. Russell ist der Gründer und Betreiber von XL Recordings. Er hat »I’m New Here« zur Gänze produziert und aus eigener Motivation den wartenden Enthusiasten ein neues Album des in die Jahre gekommenen Soul-Poeten beschert. Der Grund dafür ist simpel, erklärt der 38-Jährige am Telefon: »Ich bin seit meinen Teenager-Jahren ein großer Fan von Gil. Und es gab diesen einen Moment, als mir bewusst wurde, dass ich endlich etwas Neues von ihm brauche. Ich wollte, dass er wieder etwas erzählt. Den Wunsch habe ich mir in den Kopf gesetzt und ich wollte die Idee durchziehen.« Russell, der als Teil des britischen Rave-Duos Kicks Like A Mule mit »The Bouncer« 1992 einen Top-10-Hit hatte, unterbreitete Scott-Heron sein Vorhaben in einer ungewöhnlichen Umgebung:»Ich habe ihn im Gefängnis auf Rikers Island besucht. Dort hab ich ihm gleich klipp und klar gesagt, was ich mit ihm vorhabe und dass ich eine Platte mit ihm machen will. Ich wollte etwas schaffen, an dem ein neues Publikum Gefallen finden kann. Ich wollte, dass es nach ihm klingt. Aber nicht nach dem Gil von damals, sondern nach dem von heute. Er hat sofort eingewilligt.«
Das Ergebnis »I’m New Here« – ein Titel, der laut Russell dem Humor des Sängers zu verdanken ist – präsentiert Gil Scott-Heron tatsächlich in neuem musikalischen Gewand. Atmosphärische Instrumentals unterlegen Scott-Herons vom Leben gezeichnete Stimme, die von Alltagsproblemen aus einem Künstlerleben erzählt. B.B. King trifft Massive Attack. »Während der Aufnahmen habe ich sehr viel Burial gehört, der genau wie ich von dem Pirate Radio-Sound und frühem Hardcore inspiriert ist«, erläutert Russell. »Seine Musik ist unglaublich atmosphärisch. Das hatte großen Einfluss auf unsere Aufnahmen.« Zudem sorgte Russell dafür, dass sich der Kreis zwischen Gil und der kontemporären HipHop-Landschaft musikalisch wieder schließt. Ein Sample aus Kanye Wests »Flashing Lights« leitet das Album ein und auch wieder aus. »Ich hatte den Song eigentlich nur als Idee für einen Streichersatz geloopt. Als Gil das hörte, war er gleich der Meinung, wir sollten es genau so verwenden. Ich habe ihm dann gesagt, dass das ein recht bekannter Song von Kanye West ist. Daraufhin meinte er nur, das sei schon okay, bei Kanye West hätte er noch was gut.« Da passt es doch ins Bild, dass Kanye jüngst in seinem Blog offenbarte, dass er gerade neue Kreativität aus den Vermächtnissen Maya Angelous, Nina Simones und Gil Scott-Herons schöpfe. Der Einfluss des Rap-Patenonkels hat also weiterhin Bestand. Was macht Gil Scott-Heron zu dem Ausnahmekünstler, der er ist? Richard Russell sollte es nach den gemeinsamen Aufnahmen des vergangenen Jahres am besten wissen: »Für mich ist er ein Bote. Ein Kanal, dessen Musik durch ihn direkt in Mikrofon und Klavier fließt. Seine Ehrlichkeit ist entwaffnend. Er ist ein Original. Er war nie ein Pop-Künstler und hat seine Zuhörer immer herausgefordert. Vielleicht stellt auch dieses Album das Publikum vor eine große Herausforderung. Aber das sollte es auch, weil Gil Scott-Heron immer noch der gleiche Künstler ist, der er schon immer war.«
Text: Alex Engelen