Deichkind: »Einfach Hits schreiben, das können wir gar nicht« // Titelstory

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Deichkind haben Deutschrap für immer verändert. Vor zwanzig Jahren eiferten drei Jungs vom Hamburger Stadtrand ihren Idolen nach. Doch Rap in D wollte revolutioniert werden. Deichkind brachen radikal mit ihren Idealen: Sie tauschten Samples gegen Synthies, Egos gegen Kostüme und große gegen noch viel größere Bühnen. Heute kennt jeder Mensch in Deutschland ihre Slogans. Deichkind sind längst mehr als eine Band. Deichkind ist ein lebendes Experiment, das nicht nur sich selbst immer wieder gemorpht hat, sondern auch die Vorstellung davon, was mit Rap eigentlich geht. Die Anatomie eines Phänomens – mit Kryptik Joe, Porky und DJ Phono, den drei kreativen Köpfen hinter diesem Ding namens Deichkind.

Es ist 2002, ich bin gerade 14 Jahre alt, stehe im Stadtpark Hamburg und bin überfordert. Das Flash Festival hat mich mit ein paar tausend anderen Rap-Nerds vor die größte Bühne gespült, die ich bis dato gesehen habe. Wir fühlen das alle sehr, wollen ein Teil von dem Ganzen sein. Was ich als Pubertärer damals nicht ahne: Der erste große Deutschrap-Hype ist damals schon vorüber. Das, was Helden wie die Beginner, Samy und Eins Zwo ein paar Jahre zuvor lostraten, hatte seinen Peak längst überschritten. Die einzige Band auf besagtem Festival, die das rückblickend wirklich verstand, waren Deichkind. Deswegen wollte ich die damals wohl nicht verstehen. Deichkind fingen an zu experimentieren, das enge HipHop-Korsett der späten Neunziger wollte aufgeschnürt werden. DJ Phono stellte sich in einem flashy Hemd vorn auf die Bühne und machte den Roboter. Dabei kannte ich Deichkind doch ganz anders, als Jungs aus Hamburg-Barmbek, die auch so Musik machen wollten wie ihre Idole aus New York.

Kryptik Joe: Als wir mit Deichkind anfingen, wollte ich klingen wie DJ Premier. Ich wollte unbedingt sampeln und war total dogmatisch. Die Snare musste von einer Funk-Platte kommen und selbst geschnitten werden. Heute nehme ich das wie ne Lehre wahr, dass ich mir die ganzen Drum-Machines reingezogen habe, MPC, SP1200 und so. Ich habe das damals echt aufgesogen. Aber irgendwann hatte sich das für mich ausgelaufen. Wenn ich etwas Neues schaffe, gibt mir das einen anderen Kick.
Phono: Samples rauskramen, Beats machen, drei Leute rappen ne Strophe über was auch immer – dieses Konzept, amerikanischem HipHop nachzueifern, hatte sich irgendwann überholt. So nahm ich zumindest die Stimmung in der Band wahr. Als Deichkind das Ende der reinen HipHop-Phase erreicht hatte, wollten wir das Ganze ja an die Wand fahren.

So ne Musik

An einem Sommerabend im Jahr 2007 stehe ich mit ein paar hundert Abiturienten in einem charakterlosen Hamburger Club. Alle Menschen in diesem Raum wollen plötzlich Möbel aus dem Fenster schmeißen. Einer meiner Freunde war gerade beim Rock am Ring. Mit leuchtenden Augen erzählt er von Bierbongs und Schlauchbooten, von der totalen Eskalation. Ich glaube, dann haben wir uns zugeprostet und geschrien, dass wir Pizza wollen. Obwohl mir das in dem Moment ein bisschen suspekt schien. Ich hatte diese Jungs doch ganz anders kennengelernt, als sympathische Hamburger Vorstädter mit Faible für melancholische Samples. Und plötzlich machten sie, nun ja, Techno.

Kryptik Joe: Als wir mit den Techno-Beats anfingen, war das für mich erst mal schwer. Aber es fühlte sich richtig an, nicht mehr so abhängig zu sein von einem Genre. Ich hatte immer das Gefühl, dass wir das Schlusslicht vom Hamburger HipHop waren. Beginner und Fettes Brot, die waren alle schon viel größer als wir. Dann kam der Punkt, an dem wir beschlossen, niemandem mehr zu beweisen, was real ist oder nicht. Das war eine unfassbare kreative Befreiung.
Phono: Es gab einen Moment, in dem keiner mehr Bock hatte auf das Projekt und die Verpflichtungen. Wir fanden es sogar reizvoll, das Ganze richtig kaputt zu machen. Also haben wir auf Techno-Beats gerappt und uns Müllsäcke angezogen. Wir nahmen in Kauf, dass alles passieren kann. Jegliches Karrieredenken war vorüber. Es ging nicht mehr darum, Leuten zu gefallen. Und erstaunlicherweise wurde Deichkind erst dann richtig erfolgreich.
Porky: Es gab keine Zukunft mehr, man hatte losgelassen. Das schuf einen totalen Frieden! Alte Leute haben ja auch manchmal so ein Leuchten in den Augen und transportieren eine Ruhe, weil es nichts mehr gibt, wovor sie Angst haben.
Phono: Wenn du dazu verdammt bist, gut zu finden, was du machst, erzeugst du selbst einen unglaublichen Druck. In dem Moment, in dem du dir eingestehst, dass du nicht mehr gut finden musst, was du machst, entsteht plötzlich das Gefühl, dass du alles machen kannst. Deichkind ist durch verschiedene künstlerische Phasen gegangen. 2005, 2006 haben wir die Band radikal umgestülpt, und unser Angebot hat sich sehr verändert. Mir war dabei immer wichtig, dass wir ein Konzept haben und darin konsequent sind.

»Ein Stadion auszuverkaufen fühlt sich halt schon geil an« – Porky

Rückblickend kann man sagen, dass Deichkind von der klassischen Rap-Band nach Neunziger-Vorbild zum disruptiven Pop-Konzept mutierten. So richtig bewusst wird mir das um 2009 herum, als ich in einem Hörsaal sitze. Ein Homie kommt mit Müllsäcken in die Vorlesung. Am Wochenende will er nach Hamburg ins Stadion. Zu Deichkind. Und das neue Ding bei Deichkind ist, dass sich alle, die hingehen, in Müllsäcke schmeißen und mit Gaffer verkleben. Wer da genau auf der Bühne steht, interessiert den Homie auch gar nicht mehr. Ich habe als Rap-Nerd früher immer die Liner Notes von Platten studiert. Ich wollte wissen, wer da wie welche Hi-Hat gesetzt hat. Der Kollege will nun wohlverdiente Zerstreuung. Und Teil von einer Masse sein, für die Deichkind plötzlich steht. Was ich erst Jahre später verstand: Mit ihrer Inszenierung haben Deichkind die herkömmliche Art und Weise, wie Rap und Pop überhaupt inszeniert werden, genial unterwandert. Viele Menschen hatten irgendwann gar keine Ahnung mehr, wer da eigentlich auf der Bühne steht, geschweige denn im Studio sitzt. Über die Persönlichkeiten erfährt man schon seit dem karrieredefinierenden dritten Album »Aufstand im Schlaraffenland« wenig bis gar nichts mehr. Deichkind wurde irgendwie zu einem Ding.

Porky: Wir sind Fantasy Character, keine HipHop-Egos.
Kryptik Joe: Deswegen hat Porky mich auch Mal Kryptik Joe getauft.
Phono: Es war schon eine bewusste Entscheidung, dass die einzelnen Personen bei Deichkind nicht mehr im Vordergrund stehen. Es war immer sehr reizvoll, sich der typischen Pop-Praxis zu entziehen. Wir haben die Gesichter nicht vermarktet. Die Gruppe hat eine Anonymität: Wer ist das? Wie viele sind das? Deichkind ist eher ein Chor, und das schleicht sich auch in die Texte ein. Man arbeitet in der Gruppe an Themen.
Kryptik Joe: Deichkind sind ja auch im Auftreten zu einer Uniform gewachsen. Früher waren wir mit unseren Gesichtern auf den Albumcovern. Da waren wir auch noch drei MCs, die innerhalb der Songs konkurrierten: Wer macht die beste Strophe? Malte [ehem. Rapper aus Deichkinds Ursprungsbesetzung; Anm. d. Verf.] hat dann vorgelegt und Buddy [zweiter von ehemals drei Rappern aus Deichkinds Ursprungsbesetzung; Anm. d. Verf.] und ich [drittes rappendes Gründungsmitglied; Anm. d. Verf.] versuchten mitzuhalten. Heute schreiben wir zusammen Songs. Da geht’s am Ende um das Ding, nicht um uns.
Porky: Wir rappen mittlerweile auch gegenseitig unsere Texte.
Phono: Deichkind ist bewusst eine Projektionsfläche, auch durch die Bühnenshow. Jeder kann da reinlesen, was er will. Und das funktioniert umso besser, wenn die Texte nicht aus klassischer Rap-Ego-Perspektive erzählt werden. Bei Deichkind geht es nicht um persönliches Storytelling, sondern um Beobachtungen, die Leuten Anknüpfungspunkte bieten.

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