Grime hat sich über ein Jahrzehnt nach seiner Kommerzialisierung neu besonnen. Zwischen London und Birmingham drängen neue Talente nach oben, Dizzee Rascal hat seine Angriffslust wiederentdeckt und mit Wiley und Skepta finden zwei langjährige Aushängeschilder mit einfachen Mitteln zu alter Form zurück. Der Underground gibt wieder den Ton an. Real talk regiert.
Frage: »What can I get for £80?« Google sagt: Keine Ahnung, aber überprüf‘ doch mal dein Schlaganfallrisiko! Thanks for nothing! Also, ein Paar Air Max ist nicht drin, für 80 britische Pfund sollte man jedoch einen halbwegs ordentlichen LCD-Bildschirm oder zwei dürftige Wocheneinkäufe bei Tesco bekommen. Immerhin. Aber ein tolles Musikvideo? Das wäre eine echte Low-Budget-Herausforderung!
Skepta jedenfalls ist zu dem Preis mit »That’s Not Me« sogar das Video des Jahres gelungen, zumindest wenn es nach der Jury der wichtigen MOBO Awards geht, die das Werk auszeichnete. Das VHS-Video ist dabei so schlicht wie genial: Skepta rappt sein True-School-Bekenntnis live auf dem geschichtsträchtigen Meridian Walk in London-Tottenham, wo der MC und DJ aufgewachsen ist. Die Videomacher Tim & Barry legten darüber eine zweite Aufnahme von Skepta und seinem Bruder JME, Chef des tonangebenden Untergrund-Labels Boy Better Know, die den Song über zwei auf umgedrehten Bierkästen geparkten CDJs performen.
Der Beat ist böse, wie ein quakender Flipperautomat mit Blechschaden. Skepta proklamiert: »Yeah, I used to wear Gucci/Put it all in the bin cause that’s not me/True, I used to look like you/But dressing like a mess? Nah, that’s not me.« Seine kurze Major-Episode hat Joseph Junior Adenuga hinter sich gelassen. Der Grime-Spätstarter gibt sich heute wieder so betont leger und aggressiv, wie er es schon zu Zeiten seines Debüts vor sieben Jahren tat.
Aber lasst uns weiter über Geld reden. Elf Jahre ist es her, dass Dizzee Rascal für »Boy In Da Corner« den prestigeträchtigen Mercury Prize erhielt. Anschließend ergoss sich das big money über der Grime-Szene. Es regnete Major-Deals. Das Genre, das einst aus Ablehnung gegenüber der zunehmenden Kommerzialisierung von UK Garage entstanden war, um der Jugend der Londoner Außenbezirke eine eigene Stimme zu geben, und sich in irrwitzigen, nicht selten gewalttätig eskalierenden Raves seine Bahn brach, wurde aufgeblasen. Der »Schmutz« kam in die Schaufenster und neben Dizzee unter anderem Lethal Bizzle, Kano, Wiley, Tinchy Stryder (die letzten beiden über Indies) in die Heavy Rotation. Nach ein paar Jahren war die Luft raus, die N.A.S.T.Y. Crew und andere lösten sich auf, Texte und Themen verflachten. Dizzee Rascal entdeckte Big-Room-House und Electro Clash, arbeitete mit Armand van Helden oder Robbie Williams zusammen. Seine Zielgruppe waren längst nicht mehr die Untergrund-Raves, sondern die 50.000 Festival-Besucher vor der Main Stage, wie sich der MC in einer in diesem Jahr ausgestrahlten TV-Dokumentation über Grime aus der Reihe »Music Nation« erinnert.
Es ist genau dieser Dizzee Rascal, der auf seinem letzten Album »The Fifth« so manchen Totalausfall zu verzeichnen hatte, an dem man nun exemplarisch ablesen kann, welche Grime-Rückbesinnung im letzten Jahr stattgefunden hat. Zwei Songs hat er anno 2014 veröffentlicht. »Still Sittin‘ Here« ist eine Kollaboration mit Fekky, »Pagans« eine One-Off-Single. Statt Cluburlaubsmusik rechnet er kühl mit der Generation Facebook ab, flowt pointiert wie lange nicht mehr über trockene Beats.
Grime hat auf der Suche nach Energie seinen Underground wiedergefunden. Das begann schon Ende 2013. Newcomer Meridian Dan landete damals mit »German Whip« einen Überraschungshit. Der repetitive und kurze Text über die Repräsentationsvorteile deutscher Wertarbeit konnte einen gewissen Drill-Einfluss nicht leugnen und ist Kopfnickmaterial. Das selbstironische, zwischen Ford Ka und S-Klasse pendelnde Video steht aktuell bei 5,5 Mio. Views auf Youtube.
Im Dezember erschien dann der fünfte Teil der legendären »Lord Of The Mics«-DVD-Serie. Die hier und anderswo zusammengefassten Live-Videos in durchweg dürftiger Qualität waren für die Verbreitung von Grime von Anfang an ein ebenso zentraler Bestandteil wie es die Software Fruity Loops für den Sound des Genres war. Und die von Ratty, Esco und Jammer, diesem Musik-Sozialarbeiter im Lil-Jon-Look, im Keller veranstalteten Rap-Battles sind bis heute ein Motor der Szene. Das Besondere an Nummer fünf: Mit Lil Nasty und Maxsta kehrten erstmals zwei mittlerweile gut bezahlte Major-Künstler zu ihren Anfängen unterhalb des Bürgersteigs zurück. Legendär ist das Battle zwischen dem noch blutjungen Kano und dem bereits etablierteren Wiley, das 2004 das Fundament für die DVD-Serie legte.
Von Kano arg bedrängt, legte Wiley damals jenen »On A Level«-Freestyle hin, den er nun für sein neues Album »Snakes & Ladders« zu einem ganzen Song ausgebaut hat. Angekündigt drei Tage vor der Veröffentlichung, ist die zehnte Wiley-LP eine besonders düstere, den Blick zurückwerfende geworden – und eine seiner besten. Der Eskiboy bleibt unermüdlich wie kein anderer MC im Game, post nicht, protzt nicht und teilt stattdessen seine gemachten Erfahrung mit der neuen Generation von Grime-Künstlern – Leute wie die beiden Londoner Stormzy und Chip, die auf »Snakes & Ladders« Features übernehmen. Zusammen mit Novelist, Meridian Dan, Lawrence London und dem Produzenten Mr. Mitch gehören sie aktuell zu den vielversprechendsten Gesichtern der Metropole.
Zum zweiten großen Grime-Zentrum hat sich derweil die andere englische Millionenstadt Birmingham entwickelt. Von hier aus haben sich zuletzt Preditah – Skeptas Tour-DJ – sowie die MCs Sox und Depzman, letzterer im Herbst 2013 tragischerweise mit gerade mal 18 Jahren Opfer eines Eifersuchtsdramas geworden, einen Namen gemacht. Als dann in diesem Jahr erstmals bei den MOBOs ein »Best Grime Act« gekürt wurde, triumphierte etwas überraschend schließlich Stormzy. Auch medial läuft es gerade wieder sehr gut für die Szene. Das ehemalige Pirate Radio Rinse FM ist so aktiv wie eh und je, Boiler Room veranstaltete ein »Lord Of The Mics«-Special, die VICE-Musik-Website Noisey eine Grime-Woche. Die Renaissance des Grime ist allerdings auch eng mit den Sozialen Medien verbunden, wo notorische Interview-Verweigerer wie Wiley oder Skepta haufenweise Hörer hinter sich scharen können. @Skeptagram hat etwa 138.000 Instagram-Follower, auf Facebook sind es sogar 574.000, die direkt und ohne große Promokampagnen von den Musikern angesprochen werden. Die eigene Subkultur-Öffentlichkeit funktioniert heute besser denn je.
Und dann wären da ja noch die wirtschaftlichen und politischen Realitäten, die ein derart Street- und DIY-verbundenes Genre wie Grime nicht dauerhaft ignorieren kann. »I don’t even know what recession is, my whole life’s been based on juggling«, rappt Wiley etwa in »Step 21« auf seinem neuen Album. England leidet weiterhin unter der Finanzkrise von 2008. Außerhalb der reichen Kernzentren Londons und Manchesters verarmt das Land, die Einkommensdifferenzen werden immer größer und unter David Cameron haben auch die Kürzungen bei den öffentlichen Geldern zugenommen. Die kurzlebigen, in Tottenham begonnenen Riots liegen gerade mal drei Jahre zurück. Ursache war damals, neben dem ökonomischen Druck, das rassistische Vorgehen der Londoner Polizei, insbesondere das Racial Profiling und die überwiegend gegen Schwarze eingesetzte Stop-and-frisk-Methode. Auslöser war die Erschießung des unbewaffneten Mark Duggan durch Polizisten. An der Situation hat sich bis heute kaum etwas geändert. Im April veröffentlichte der Online-Sender Link Up TV eine »German Whip«-Parodie, die darauf hinwies, dass die Polizei Meridian Dan in seinem Mercedes für einen Dealer halten würde. Aktuell entwickelt die gleiche Institution übrigens eine groß angelegte Big-Data-Auswertung, die potenziell gefährliche Gangmitglieder schon vor etwaigen Straftaten ausfindig machen soll.
Skepta hat darauf jüngst mit »It Ain’t Safe« seine ganz persönliche Antwort gegeben – eine heiß brodelnde Gang-Hymne, wie sie auch N.W.A. hätte schreiben können. Es ist ein weiterer Vorbote aus Skeptas angekündigtem Album »Konnichiwa«. Sollte er das Level der beiden Singles nur annähernd halten können, heißt es wohl für alle anderen: Sayonara! ◘
Text: Thomas Vorreyer
Dieses Feature ist erschienen in JUICE #164 (hier versandkostenfrei nachbestellen).