Das Game hat massive Erschütterungen erfahren: Die Infrastrukturen der Rap-Industrie – vom Mixtape-Hustle am Corner bis zur klassischen Vermarktung durch Plattenfirmen – sind unlängst in einem wahrhaftigen Netz aufgegangen, dem World Wide Web. Immer mehr illustre Figuren haben das Spiel am eigenen Heimcomputer durchdrungen, neue Regeln aufgestellt und die konventionelle Realness, auf die sich die HipHop-Welt seit jeher einigen konnte, ins Wanken gebracht. Zeit, sich einen Überblick über die Protagonisten der jüngsten Entwicklungen des Games zu verschaffen.
Wer das Spiel im Netz verstehen will, fängt am besten bei Lil B an. Denn Brandon McCartney hat dem Rap-Business im Internetzeitalter ein paar neue Regeln hinzugefügt. Er ist independent im engsten Sinne: keine künstlerischen Kompromisse, keine konventionelle Promo, kein durchgetakteter Veröffentlichungszyklus. Schon zu Myspace-Zeiten wusste McCartney mit den sozialen Netzwerken umzugehen wie kein Zweiter und kreierte über 155 verschiedene Profile, um seine Musik unter die User zu bringen. Mittlerweile gehen um die 50 Mixtapes auf sein Konto, darunter eine »Myspace Collection« mit 676 Titeln und eine 848-Track-starke Freestyle-Sammlung. Eine solche Release-Flut führt zu dem nicht ganz unberechtigten Einwand, die Veröffentlichungen würden zunehmend in einer undurchdringbaren Wolke aufgehen, die am Ende nicht mehr sei als heiße Luft. Aber dem Rapper aus der Bay Area geht es eben vielmehr um das große Ganze, und das ist nicht vor allem die eigene Kunstfigur. Lil B pflegt einen gesunden Stream of Consciousness, der sich über Kanäle wie Twitter und Tumblr entfaltet und von jeglichen Tabus befreit ist. In seinen Tracks inszeniert er sich derweil als wandelnder Widerspruch – die selbsternannte »pretty bitch«, deren Dick die Bitches wollen – und BasedGod, die höhere Macht, dessen Liebe nicht nur für die gesamte Menschheit reicht, sondern auch für seine Adoptivkatze KeKe und Mutter Natur. Die Gefolgschaft huldigt ihrem Messias mit regelmäßigen »Thank You BasedGod«-Posts. Lil B hat sich per Social Media längst zu mehr als einem Musiker aufgeschwungen, womöglich auch zu mehr als einer Ikone – nämlich zu einem Icon an sich. Er ist das fleischgewordene Meme des Rap. Und wenn es nach Lil B geht, dann trägt jeder Lil B in sich.
Jonatan Leandoer Håstad scheint das nicht zu reichen. Der 17-jährige Schwede hätte dann doch gerne den leibhaftigen BasedGod auf seiner Seite des großen Teichs. Da der Meme-Messias sich bisher aber nur selten in Stockholm blicken ließ, verfielen er und seine Kollegen in tiefe Trauer – die Sad Boys waren geboren. Leandoer, der optisch eher an den »Herr der Ringe«-Charakter Sam erinnert als an einen Eisenstemmer aus der Hood, brach den eigenen Namen auf das südstaatliche Gesöff herunter und griff mit seiner Crew die jüngsten Musikästhetiken aus den Staaten auf. Sein Debüt-Mixtape »Unknown Death 2002« kann als skandinavischer Entwurf von Cloud-Rap gelesen werden, der sich irgendwo zwischen Main Attrakionz und Clams Casino bewegt und stets noch eine Nebelschwade draufpackt – noch außerirdischer, noch melancholischer. Darüber, dass Rap einst in streng lokaler Musiktradition großgezogen wurde, macht man sich in Schweden mittlerweile also weniger Gedanken; stattdessen wird die Dekontextualisierung von Ami-Rap auch auf textlicher Ebene fröhlich vorangetrieben: Yung Lean widmet sich Produkten und Marken, von Limonaden bis Handys, die er auf geradezu religiöse Art und Weise zelebriert. Solch eine akustische Reflexion des Hyper-Kapitalismus fand man zuletzt bei den Versace-Goons von Migos. Hinzu kommt ein Fetisch für trashige Digitalästhetik, die aus schlechten japanischen Serien stammen könnte: höchstes Identifikationspotenzial für junge Menschen also, die in ihrer Selbstfindungsphase heulend vorm Bildschirm sitzen.
Weniger sentimental sitzt man derweil in Houston am Rechner. Warum auch, wenn die Karriere so rollt wie bei Horst Christian Simco aka Riff Raff. Früher schüchterner Bücherwurm, dann Student der Freien Kunst, später Autolackierer. Und heute: Weirdo-Rapper. Während die Jungs aus seiner Suburb-Nachbarschaft den Rasen vorm Reihenhaus pflegen, startet Riff Raff eine Karriere, die mit dem Mixtape-Hustle in Houstons Shopping-Malls beginnt. Doch die eigene Hood ist nicht genug. Riff Raff will den richtigen Fame. Also lernt er aufzufallen, und zwar überall und um jeden Preis. Er heuert bei MTV an, um sich in der Show »From Gs to Gents« nach bester Knigge-Manier vom Street-Hustler zum Anzugträger formen zu lassen. Dass er nach zwei Folgen wegen auffälligen Verhaltens aus der Sendung gegangen wird, dürfte ihn nicht weiter stören – schließlich ist die Transformation der eigenen Kunstfigur auf dem besten Weg. Fröhlich mimt der Redneck-Hillbilly fortan den Albtraum aller Erziehungsberechtigten in Form eines volltätowierten, mit Ice bedeckten, in knallige Farben gehüllten und alles in sich hineinkippenden Partyschrecks – das neonbunte Maskottchen der Generation Awesome. Und bei den Springbreakern funktioniert’s. Seine Videos, von denen er allein im Jahr 2012 ganze 90 (!) Stück dreht, sind teilweise so viral, dass selbst der Supermarktkette mit dem großen E ein kleines »Supergeil« herausrutschen würde. Riff Raff legt eine DIY-Attitüde nach ur-amerikanischem Vorbild an den Tag, die ihm erst ein kurzes Intermezzo beim Soulja-Boy-Imprint S.O.D. Money Gang Inc. einbringt, und schließlich in einem Vertrag mit Mad Decent endet. Während Label-Chef Diplo in Interviews nicht müde wird, zu erwähnen, dass er Riff Raff für eine der intelligentesten Personen im Game halte, sehen andere in Horst den nächsten Vanilla Ice – einen hirntoten Minstrel-Rapper, der die schwarze Kultur ihres letzten Hab und Guts beraube: ihrer Kredibilität.
Riff Raff selbst meint, dass er die Musik nicht unbedingt brauche, es gehe ihm immer schon mehr um den Lifestyle. Und in der Tat: Die Musik ist im Falle Riff Raffs eher zweitrangig. Der klassische Chart-Hit blieb ihm bislang verwehrt. Und der Kult um das Neon Icon basiert viel mehr auf dem visuellen Reiz. Youtube-Klicks in Millionenhöhe bauten in den vergangenen Jahren eine Kunstfigur auf, deren Chains sich mittlerweile auch durch Live-Shows (schließlich wollen die Leute sehen, wie der so »in echt« ist) und Merchandise (denn die Leute wollen eben auch selbst ein bisschen Riff Raff sein) finanzieren. Über die eigene Website werden die passenden Gimmicks für die Frühjahrsferien vertickt: Double Cups, Pantoffeln und Shirts in farbenfrohem Jersey-Kitsch. Die konsequente Ikonisierung der eigenen Kunstfigur durch klischeegewordene Produkte scheint aufzugehen. Die immer wiederkehrende Frage, ob er seine Rolle nun ernst meine oder doch bloß permanent eine künstlerische Performance an den Tag lege, ist dabei eigentlich latte. Denn in erster Linie ist Riff Raff eins: das virtuelle Abziehbild einer überzüchteten Rap-Industrie, in der Lifestyle-Produkte ihre musikalische Komponente verdrängen.
Wer im deutschsprachigen Raum nach artgerechten Double Cups sucht: www.moneyboy.at. Und im Gegensatz zu Riff Raffs Massenware kommen die sogar handbemalt! Eine Einführung benötigt der Wiener seit »Dreh den Swag auf« kaum mehr. Sein Soulja-Boy-Plagiat samt schief eingesungener Hook und einer Sprache, die frei zwischen Ami-Slang aus der Hood und verdreht-deutscher Grammatik switcht, ist für Money Boy Fluch und Segen zugleich. Auf der einen Seite leitet der Youtube-Hit (19 Millionen Views!) eine nicht zu unterschätzende Rap-Karriere ein, auf der anderen handelt der Track dem Boy aber auch die bis heute gern gestellte Frage ein, ob er das denn nun wirklich ernst meine – »jetzt mal ganz im Ernst!« Wie Money Boy zur Authentizität seiner Antizipierung des amerikanischen Lifestyles steht, ließen wir ihn im Gespräch selbst beantworten. Festzuhalten bleibt, dass in unseren Breiten keiner das Internet-Business-Modell so fährt wie er. Anstelle von klassischen Alben im Zwei- bis Drei-Jahres-Zyklus springt Money Boy auf jeden brauchbaren US-Beat und droppt Free-Download-Tapes von der Stange. Auf dem eigenen Youtube-Channel sammeln sich derweil an die 380 Videos – nicht selten im Selfie-Modus geschossen –, mit denen der Boy die Abonnenten über seinen alltäglichen Swag auf dem Laufenden hält. Das neueste Merch wird nebenbei auch noch eingeblendet. Wer braucht da überhaupt noch ’nen Deal beim Major?
Illustration: Anna Luise Ruprecht
Dieser Artikel ist erschienen in JUICE #159 (hier versandkostenfrei nachbestellen).