Dieses Jahrzehnt war vermutlich das spannendste, das Deutschrap bis dato erleben durfte: Die musikalische Diversifizierung der Szene, die rekordverdächtigen Erfolge, die wichtige und hoffentlich nachhaltige Etablierung von vielen weiblichen Künstlerinnen. Ohne Frage: Es war eine gute Zeit – und eine, die Maßstäbe für die Zukunft setzt. In dieser Folge unseres Dekadenrückblicks: Deutschraps Sprung in den Mainstream zu Beginn des Jahrzehnts.
Rap jenseits der 30? Anfang des Jahrtausends war das hierzulande noch ein Nischenphänomen. Denn wer nach der verlebten Jugend noch auf Beats und Raps setzte, galt entweder als unwillig, erwachsen zu werden, oder als zu naiv, den Traum aufzugeben. Doch seit Beginn dieses Jahrzehnts ist HipHop nicht nur in die »Mitte der Gesellschaft« als Ganzes, sondern eben auch in die »Mitte der Gesellschaft« des hiesigen HipHops vorgedrungen. Die Konsequenz war, dass auch Rapper, die ihren juvenilen Hype längst überlebt hatten, noch relevant sein können. Ein Phänomen, das 2019 landläufig als »Grown Man Rap« bezeichnet wird. Sind wir jetzt erwachsen?
Die letzten zehn Jahre bescherten Deutschrap ein neues Phänomen: Grown Man Rap. Das hat in erster Linie technische Gründe. Schließlich ist Rap aus D erst circa 2008 dreißig Jahre alt geworden – und vorher sprießen die grauen Haare halt nicht. Allerdings muss hier gleich mit einem Missverständnis aufgeräumt werden: Grown Man Rap macht keineswegs jeder, der die dreißig hinter sich gelassen hat. Theoretisch könnte auch ein Mittzwanziger Grown Man Rap machen (S/O Enoq). Es geht nicht um das Alter, sondern um die Haltung. Wenn du mit Ü-40 noch über deine Penislänge rappst, ist das dein gutes Recht und unter Umständen auch dope. Aber halt kein Grown Man Rap. Um ein aktuelles, internationales Beispiel zu nennen, das die Messlatte recht eindeutig festlegt: Jay-Z hat mit »4:44« ein Musterbeispiel des Grown Man Raps geliefert (lustigerweise gut 15 Jahre, nachdem er bereits rappte: »No chrome on my wheel/ I’m grown-up for real«). Denn sich bei der Ehefrau fürs Fremdgehen zu entschuldigen, statt mit irgendwelchen Sidebitches zu prahlen; sich zum Candle-Light-Dinner zu treffen statt beim 7-Eleven; Krawatten zu binden, statt die Nikes ungeschnürt zu lassen – das ist Grown Man Shit!
Wenn du mit Ü-40 noch über deine Penislänge rappst, ist das dein gutes Recht und unter Umständen auch dope. Aber halt kein Grown Man Rap.
Im Deutschrap hat das Phänomen erst in der letzten Dekade merklich Einzug gehalten. Zwar hat Torch mit »Blauer Samt« schon 2000 so etwas versucht, und auch bei Bushido verschiebt sich ab »Zeiten ändern dich« um 2010 herum das Image vom trotzigen Straßenjungen zum weltgewandten Geschäftsmann, doch sind es vor allem DCS und ihr Album »Silber«, die als hiesige Blaupause des deutschen Grown Man Rap hervorstechen. »Silber« demonstriert 2012 erhaben, stilsicher und vor allem zeitgemäß, wie man mit HipHop alt werden kann. Statt in Nike-Sneakern und Helly-Hansen-Daunenjacke präsentieren sich Schivv, Ro Kallis und DJ Lifeforce 16 Jahre nach ihrem Debüt von 1996 hier als Elder Statesmen in Maßanzügen mit Lines wie »Rap bleibt meine Insel, nur ich halt’ sie gut versteckt heut«. Es war das Abbild einer Lebensrealität, die zwar durch HipHop geprägt ist, aber eben nicht mehr von ihm bestimmt wird. Du kriegst den Mann aus dem HipHop, aber nicht den HipHop aus dem Mann, sozusagen.
Denn ein Kernelement von Grown Man Rap ist: die ungeschönte Wahrheit zu erzählen. Der Lagerjob in der morgendliche Frühe, die Geburt des Kindes, die monatliche Rate für die Doppelhaushälfte – alles Sorgen, die einen 20-Jährigen meist wenig beschäftigen, aber irgendwann fies in den Lebenslauf kicken. Neben einer alterstypischen Lockerheit beim Rappen, ist es daher vor allem die Attitüde, ja, das Erwachsensein, das Grown Man Rap ausmacht. Man höre hierzu auch gerne nochmals »Ich & Keine Maske«, selbst wenn einige Realkeeper jetzt umblättern. Denn auch das ist Grown Man Shit: Scheiß auf eure Szene-Codes, keine Scham vor Pop, wir sind alle erwachsen! Es geht nicht mehr ums Beweisen oder das Zurschaustellen der eigenen Fähig- und Habseligkeiten. Das haben diese Grown Man Rapper alle schon gemacht. Jetzt geht es um Persönlichkeiten, Geschichten und Botschaften. Grown Man Rap ist daher per se nicht conscious, er ist nur lebenserfahren. Und eine Entscheidung. Kein Posing, kein Teaching, keine Besserwisserei mehr. Man weiß es jetzt besser.
Muss ich euch wirklich noch was beweisen?!
2013, ein Jahr nach DCS, erscheint mit »Endlich Unendlich« der eigentliche Startschuss dieser Strömung, die am Ende mit »#diy« von Trettmann 2018 einen vorläufigen Höhepunkt findet. So rappte Megaloh, der sich als ewiges Talent im Jahrzehnt zuvor durch etliche Mixtapes featurete, 2010 noch wütend und prollig vor einer betaggten Industriebrache. Drei Jahre später beschreibt ein 32-jähriger Familienvater plötzlich Szenarien wie: »Frau schläft fest, versuch leise zu sein/Ziehe mich an und stelle mich auf’s Arbeiten ein«. »Endlich Unendlich« war 2013 eine Zäsur für den hiesigen Rap. Denn Realness und Szene-Background verschmolzen hier auf natürlichem Wege mit der Realität des Protagonisten. Real Talk, sprichwörtlich. Ein Selbstverständnis, das man in Deutschland so bislang nur von Altersgenossen aus dem Liedermachertum und Indierock kannte (Funfact: Die deutsche Indie-Legende Thees Uhlmann veröffentlichte erst 2011 ein Solodebüt mit ähnlichen Inhalten). Endlich erwachsen.
Für Megaloh brachte dieses neue Selbstbewusstsein einen ordentlichen Karriereschub und gab zudem den Weg für so einige »zweite Frühlinge« im D-Rap vor. Als sich Curse auf »Die Farbe von Wasser« glaubwürdig 2018 neuerfand oder Dendemann mit »Da nich für!« nicht unbedingt altersmilde, aber sehr gelassen an die Rapfront zurückkehrte, standen beide irgendwie auf den Schultern von »Endlich Unendlich«. Die Liste ist beliebig erweiterbar: Aphore und »90«, Gerard und »Blausicht«, Lakmann und »Aus dem Schoß der Psychose«, Moses Pelham und »Herz«, Mädness und »OG« oder Max Herre und »Athen«. Sogar Bass Sultan Hengzt droppte 2014 ein Album namens »Endlich Erwachsen«. Auch wenn dieses nur in Abstrichen als Grown Man Rap gelten kann, zeigt es doch: Deutscher Rap muss seit diesem Jahrzehnt kein Jugendlicher mehr sein, um eine Hörerschaft zu finden – und zwar so selbstverständlich wie noch nie in seiner Geschichte.
Klar ist aber, Rap bleibt Jugendkultur. Was (vorwiegend) Old Heads so von sich geben, muss nicht zwangsläufig klug sein. Denn anders als in der Politik bestimmen im Rap eben nicht alte Herren, wo es langgeht, sondern junge Menschen mit neuen Ideen. So bleibt nur noch eine Frage: Wann wird Deutschrap reif genug sein für ein Grown-Woman-Rap-Album? Cora E, Sabrina Setlur, Pyranja, Adden – wir warten auf euch.
Mitarbeit: Oliver Marquart
Illustration: Henrike Ott
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