Kein Album, keine Musikvideos, mehrere Monate Haft. Dafür Millionen Klicks auf Soundcloud, schnappatmende Majors im Nacken und die Aura eines Selbstmordgefährdeten. XXXTentacion – Floridas kontroverser angehender Superstar.
Eigentlich hätte »Bad Vibes Forever« schon im letzten Oktober erscheinen sollen. Und eigentlich hätte XXXTentacion [ausgesprochen: »Ex-ex-ex-tenn-ta-si-on«; Anm. d. Verf.] den immensen Internet-Hype längst mit seinem Debütalbum in die breite Öffentlichkeit tragen müssen. Stattdessen verbrachte er das letzte halbe Jahr hinter Gittern und schimpfte über die Lügen seiner Ex-Freundin, die er angeblich verprügelt haben soll. Glaubt man seinen devoten Fans, so soll sie widersprüchliche Aussagen getätigt haben und nicht zurechnungsfähig (weil akut drogenabhängig) sein. Außer Frage steht allerdings, dass der kommende Gerichtsprozess bei weitem nicht der erste Stein sein wird, den sich der 19-jährige Jahseh Onfroy selbst in den Weg legt.
Seinen Bezug zu körperlicher Gewalt entwickelte der dürre Junge aus Broward County schon zu Schulzeiten, als er im Kampf um die Aufmerksamkeit seiner alleinerziehenden Mutter regelmäßig Schlägereien anzettelte. Diese war finanziell und psychisch mit seiner Erziehung überfordert, sein Vater verfolgte Jahsehs Kindheit nur durch das Gefängnistelefon. Die fehlende Zuwendung führte X bereits in jungen Jahren in einen Sumpf aus Depressionen – und das fehlende Geld auf die Straße. Für eine Reihe von Einbrüchen und bewaffneten Überfällen wurde X vor knapp sechs Jahren zu zwölf Monaten in einer Vollzugsanstalt für Jugendliche verurteilt.
Im Gefängnis begann X, Texte zu schreiben, die er später in mieser Qualität in seinen Laptop einrappte. Der älteste Song auf seiner Soundcloud, »Vice City«, stilisiert in dunklen Farben den Weltschmerz des Teenagers, untermalt durch ein eindringliches Laura-Mvula-Sample. Die Motive Entfremdung und Desillusion durchziehen seine Diskografie, oftmals schonungslos inszeniert auf Songs wie »I Spoke To The Devil In Miami, He Said Everything Would Be Fine« – so beklemmend hat zuletzt Lil Wayne auf »I Feel Like Dying« geklungen. Längst sind auch Jahsehs Gesichtstattoos mit den Worten »Numb« und »Alone« bei seinen Fans zum Sinnbild für seinen und
ihren Kampf gegen die emotionale Einsamkeit geworden.
Es ist die brutale Ehrlichkeit mit sich selbst und die Devise, keine Gefühle in sich drinnen zu lassen, die XXXtentacion besonders macht. Er lebt eine Bipolarität zwischen einem reflektierten jungen Mann, der seine Freunde wie Familie behandelt, und jemandem, der die Kontrolle über sich selbst in jedem Augenblick zu verlieren droht. Im Jugendgefängnis prügelte er seinen Zellenmitbewohner fast zu Tode, weil er das Gefühl hatte, dieser würde ihn vergewaltigen wollen. Für das Cover des Songs »YuNg BrAtZ« verwendete er ein Selfie von sich, grinsend neben einem blutig geschlagenen Rapper liegend, der ihn wegen eines ausstehenden Features bedrängt haben soll. Auch diese andere Seite seines Charakters spiegelt die Musik wider – für ein gutes Drittel des Songs schwingt sich X mit frenetischen Rufen in eine brodelnde Trance, bis der Beat mit übersteuertem Bass einbricht und er einem Punkrock-Frontmann ähnlich die Wut aus sich herausbrüllt.
XXXtentacion ist das Endstadium der Rapgeneration, die jegliche Begrenzungen des Genres aus dem Fenster wirft und in einem bedingungslosen Expressionismus aufgeht. Seine Musik ist direkt, instinktiv, teilweise bis zur Unhörbarkeit verfremdet – Momentaufnahmen der Gedankenwelt einer verstörten Persönlichkeit. In seinen aggressiven Tracks erinnert er an eine junge Version von Death-Grips-Frontmann MC Ride: grafische, zuweilen zusammenhangslose Lyrik über Sex, Gewalt und innere Dämonen versus brutal einschlagende Instrumentals.
Sein Durchbruch-Song »Look At Me«, der sich schon längst in Richtung 50 Millionen Streams bewegt, sucht ebenfalls bedingungslose Konfrontation. Die ersten Lines »I’m like‚ bitch, who is your mans?/Can’t keep my dick in my pants« wurden mit ihrem Schockwert ein Phänomen in den Sozialen Medien. Vor allem »My mother/grandfather reacts to …«-Youtube-Kanäle verbreiteten den Song, aber auch Snapchat-Ikone Kylie Jenner teilte den Track mit ihrer enormen Reichweite.
XXXtentacion war bereits mit Denzel Curry im Studio, außerdem hagelt es Co-Signs für ihn und seine »Members Only«-Crew von Größen wie A$AP Rocky und Danny Brown. Wie ein Lauffeuer verbreiten sich seine Songs, auch an unerwarteten Ecken des Internets. X hat einen starken Bezug zur Anime-Szene, die seine Lieder schon zu Beginn seiner Karriere für Fan-Filme verwendete – dabei hat er selbst noch kein eigenes Musikvideo veröffentlicht.
Songs auf seiner Soundcloud sind mit Download-Link versehen und daher bereits mehrfach kopiert im Umlauf, wenn sie nach Minuten wieder gelöscht werden. Die Exklusivität, die Teilen seiner Musik obliegt, stärkt den Kult, den die Fans um X erschaffen haben. Jahseh selbst lud sie zu Zeiten vor 500.000 Soundcloud-Followern noch zu persönlichen Gesprächen ein oder postete Monologe auf seinen Kanälen, in denen er über seine mentalen Probleme spricht.
XXXtentacion räsoniert über eine Außenseitergesellschaft, die in ihm einen von ihnen sieht – aber auch jemanden, der sich trotzdem keine Limitierungen zu setzen scheint. Sein Name steht für »unkown temptation«, sein Stil für das ungefilterte Ausleben seiner Ideen: X hat vor, Pornos zu drehen, lädt Nacktfotos auf sein Instagram, spielt Shows mit Pouya und den $uicideboy$ oder Minecraft mit seinen Fans.
Sollte sich seine rechtliche Situation in naher Zukunft lösen, ist von X mit Großem zu rechnen, denn er gehört zweifellos zu den innovativsten Künstlern der letzten Jahre. Im Moment ist er auf Bewährung aus dem Gefängnis und arbeitet an neuer Musik, im Sommer winken bereits hochkarätige Festivalauftritte. Dazu muss aber erstmal sein Prozess im Mai gewonnen werden. Danach hat er vor, seinen amateurhaften DIY-Sound über den Haufen zu werfen und seinen alten Laptop gegen Studio und Live-Instrumente einzutauschen. Interessant, denn sein »alter« Stil hat im Untergrund Floridas längst eine Bewegung ausgelöst, die die musikalische Landschaft des US-HipHop nachhaltig verändern könnte.
Text: Max Hensch
Foto: Inju Kim
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