Trettmann: »Die Kunstfigur ‚Ronny Trettmann‘ hatte sich erschöpft« // Titelstory

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Tretti schreibt und voict für die neue LP vor allem während zweier drei Wochen andauernden Besuche in Kreuzberg. Eine AirBnB-Wohnung nahe des Görlitzer Parks bietet einen Zufluchtsort nach den langen Sessions im neu eingerichteten KK-Studio. Als der Gast aus Leipzig wieder abreist, beginnt für KitschKrieg die zweite Phase: »Normalerweise gebe ich alles ab und höre eine Weile nix, während die Jungs ihren Sound entwickeln. Irgendwann kommt dann das Album. Natürlich habe ich zu diesem Zeitpunkt noch Einfluss, aber da besteht blindes Vertrauen. Diese Art des Arbeitens hat sich eben bewährt«, beschreibt Tretti den Prozess.

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So sehr die ausführlichen Ausflüge nach Kreuzberg mit harter Kreativarbeit verbunden sind, für Trettmann bieten sie auch eine Auszeit vom Alltag in Sachsen, wo nach den Landtagswahlen im September sogar die bundesweit erste Landesregierung unter AfD-Beteiligung drohen könnte. Statt plumper Anti-Nazi-Parolen verarbeitet der gebürtige Karl-Marx-Städter die gesamtgesellschaftliche Stimmung im Song »Stolpersteine«, indem er mit dem Verweis auf die in Gehwegen eingelassenen Messing-Gedenktafeln den historischen Bezug zur Verfolgung und Ermordung tausender Unschuldiger durch die Nationalsozialisten herstellt. »Ich kam wirklich aus dem Club und hatte noch ein Glas Rum dabei, saß beim Bäcker und blickte auf eine dieser Tafeln auf dem Gehsteig. Das ist ein Stück deutscher Geschichte, das mich nach wie vor betroffen macht. Das Wort ‘Stolpersteine’ spukte mir schon länger im Kopf herum«, erklärt er die Entstehung. Wo »Grauer Beton« ein Erklärungsversuch der Lebensrealität von nach der Wende Abgehängten war, geht »Stolpersteine« offensiv mit rechtsradikalen Ressentiments um, die mit dem Erstarken der AfD plötzlich wieder salonfähig sind. Man merkt, dass der politischste Moment auf »Trettmann« eine Herzensangelegenheit war. Das spiegelt auch die Releasestrategie wider: Auch wenn der Song im »Modus Mio«-Kosmos kaum eine Rolle spielen kann, ist eine Auskopplung als Single geplant.

»Ich habe mit GZUZ privat darüber gesprochen«

Das zweite große Politikum des Albums ist der einzige gerappte Gastbeitrag. Und das, obwohl dieser zunächst noch wie die logische Fortführung einer bislang recht fruchtbaren Zusammenarbeit erscheint. Nach »Knöcheltief«, »Nur mit den Echten« und der fulminanten KitschKrieg-Debütsingle »Standard« wird »Du weißt« jedoch überschattet von den schwerwiegenden Vorwürfen gegen Gzuz, deren mediale Aufarbeitung man im Hause 187 mit einer fragwürdigen Mischung aus Social-Media-Häme und Unterlassungsaufforderungen an Szenemedien und Tageszeitungen bekämpft hatte. Dass ein Feature mit dem 187er mit deutlicher Kritik, auch seitens treuer Fans, verbunden wäre, war allen Beteiligten im Vorfeld bewusst. »Gzuz ist über die Jahre zu einem engen Freund geworden. Ich habe mich entschieden, weiter mit ihm Musik zu machen und ihn trotz der Anschuldigungen und des öffentlichen Drucks jetzt nicht fallen zu lassen«, erklärt Trettmann auf Nachfrage. »Ich habe mit ihm privat darüber gesprochen, was ich von den Anschuldigungen halte.« Ein weiterer Aspekt: Der Strassenbanden-Cosign hat Tretti den Weg zum Erfolg geebnet. Sich nun öffentlich zu distanzieren, wäre heuchlerisch. »Gewalt ist scheiße und ein Problem, nicht nur im Rap. Gerade deswegen muss man offen darüber sprechen können und sich nicht plötzlich scheinheilig abwenden, weil sich der Wind gedreht hat.«

Unabhängig von der abseits der Musik tobenden Diskussion ist »Du weißt« ein Flammenwerfer-Moment, der den Siedepunkt des Raves perfekt einfängt. Trauriger geht es jedoch an anderer Stelle zu: Sowohl »Hätten wir sein können«, »Bye Bye« als auch »Wenn du mich brauchst« behandeln verflossene Liebschaften. »Ich grab da in meiner Vergangenheit. Es gab einige Trennungen, die zu den härtesten Momenten in meinem Leben gehören«, sagt Trettmann über jene Songs, die sich dem Herzschmerz widmen. Einmal mehr beweisen sie: Gibt das Instrumental die Stimmung vor, gelingt es Trettmann wie kaum einem anderen deutschen Sänger, Liebeskummer ohne großen Pathos greifbar zu machen. Und doch hat »Trettmann« ein Happy End: Auf »Margarete« erzählt Tretti von der Sehnsucht nach seiner im Sommer 2018 geborenen Tochter, die ihn sogar dazu brachte, einen Neujahrsurlaub nach Jamaika abzubrechen und über Umwege zurück nach Leipzig zu reisen.

Ein gutes halbes Jahr später steht Tretti unweit seiner Wahlheimat im Off; noch ist er unsichtbar für die Massen. Vor der Mainstage hat sich zur Primetime am Freitagabend locker die Hälfte der 30.000 Festivalbesucher versammelt. Trettmann ist der letzte deutschsprachige Act, das Interesse an seinen splash!-Gigs von Jahr zu Jahr kontinuierlich gewachsen. Kurze Zeit später entlädt sich vor dem ersten Wellenbrecher die Freude über die KK-Tunes immer wieder in Moshpits. Reihenweise ziehen die Ordner während der einstündigen Show junge Menschen aus der Crowd, deren Kreislauf das alles nicht mehr mitmacht. Oben auf der Bühne spult Tretti fokussiert sein Programm ab. Seine beängstigende Routine ist ein weiterer Beweis dafür, wie sehr er sich als Künstler über die vergangenen Jahre entwickelt. Von alten Ticks, die er als Shouter in der Dancehall entwickelt hatte, ist nicht mehr die geringste Spur.

Vom Bühnenrand schweift mein Blick über den riesigen Backdrop, auf dem die Show punktgenau von Schwarzweiß-Visuals untermalt wird, hin zum Protagonisten und dann schließlich aufs Menschenmeer, das glücklich rund um den riesigen Schaufelradbagger inmitten des Geländes steht. Kurz schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: Wie absurd groß ist das alles eigentlich geworden, seit im Januar 2016 eine E-Mail mit dem Youtube-Link zum Musikvideo von »Skyline« in meinem E-Mail-Postfach landet? Dann holt mich der Drop des »120 Jahre«-Remix zurück ins Hier und Jetzt. Auch wenn die Show wenige Minuten später unter minutenlangen Zugabe-Rufen endet: Der Rave hat gerade erst begonnen …

Fotos: °awhodat°

Dieses Feature erschien zuerst in JUICE #194. Aktuelle und ältere Ausgaben könnt ihr versandkostenfrei im Onlineshop bestellen.

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