Trettmann: »Die Kunstfigur ‚Ronny Trettmann‘ hatte sich erschöpft« // Titelstory

-

»Wir hätten nie geahnt, dass das derartige Dimensionen annimmt. So wurde das Album zum unvermuteten Selbstläufer«, erinnert sich Tretti heute. 18 Monate nach dem Support-Gig für Ignaz und Goony stehe ich wieder im seit Wochen restlos ausverkauften Lido. Obwohl nur einen Monat alt, kennt die Crowd alle »#diy«-Lyrics aus dem Effeff. Zwischen zwei Songs hält Trettmann inne. Er spricht über die Rezeption des Albums und wie viel ihm die Anerkennung bedeute. Dann erkenne ich plötzlich ein riesiges Foto meiner »#diy«-Review aus JUICE #183 auf der Leinwand hinter der Bühne. Im Fokus der Kameralinse natürlich die sechs Kronen – unsere erste Höchstwertung seit »To Pimp A Butterfly«. Dem kurzen Anflug von Stolz und Sentimentalität wirke ich entgegen, indem ich mein Smartphone rauskrame, um den Moment für unsere Insta-Story festzuhalten. Von hinten klopft mir jemand auf die Schulter. Ein junges Mädchen hat auf meinem Display erkannt, dass ich mit dem JUICE-Account eingeloggt bin. »Hast du das geschrieben? Gut gemacht!«, schreit sie anerkennend.

Mash up di dance

Für Trettmann ist der Erfolg von »#diy« ein finaler Befreiungsschlag, der fulminante Abschluss einer künstlerischen Wiedergeburt. Die neuen wirtschaftlichen Möglichkeiten ermöglichen ihm erstmals seit elf Jahren eine Reise nach Jamaika. Er nennt die Insel einen »Ursprungsort der Musik« – dabei gilt diese Behauptung nicht nur für Reggae und Dancehall, auch HipHop findet im New York der Siebziger Inspiration für die ersten Blockpartys in der jamaikanischen Soundsystemkultur. »Ich verstehe HipHop besser, wenn ich dort bin«, gibt Trettmann zu. »Die Leute denken immer, Jamaika wäre nur Reggae und Dancehall. Aber mach dort mal das Radio an, da läuft den ganzen Tag R’n’B und Old-School-Rap. Die spielen in der Stunde vier Biggie-Songs, jeder Whitney-Houston-Song wirkt dort ganz anders.« Auch wenn die Insel Inspiration liefert, ist sie für Tretti kein Ort zum Texten. »In der Dancehall geht’s um die drei Gs: Girls, Guns & Ganja. Das ist nicht die Welt, aus der ich glaubhaft berichten kann.«

»Eigentlich besteht ‚Trettmann‘ ja aus Rave und Herzschmerz« (Fiji Kris)

Und doch schiebt der Trip in die West Indies im Februar 2018 eine Entwicklung an, die sich nun auch auf »Trettmann« widerspiegelt. »Wir haben dort das Video zu ‘Billie Holiday’ gedreht. Ich flog schon eine Woche früher hin. Ursprünglich wollte ich auch schreiben, aber stattdessen habe ich während des Trips wieder angefangen auszugehen.« Zurück in Deutschland hält der Elan des jung-gebliebenen Ravers an. Aftershow-Party statt Ausschlafen lautet die Devise auf den Tourneen und während des Festivalsommers, aber auch zu Hause in Leipzig oder zu Besuch bei KitschKrieg in Kreuzberg. Tretti spult ein Pensum ab, das nicht viele Mittvierziger im Stande zu leisten wären – einfach aus purer Freude am Tanzen. »Ich gehe nicht auf Partys, um mich zu unterhalten. Ich will eine gute Zeit mit der Musik haben«, bringt er seine Motivation auf den Punkt. Das zahlt sich auch auf der Bühne aus: Das 5-Panel und die dunklen Shades mögen ein Grund sein, wieso man Trettmann ein gewisse Jugendlichkeit nicht absprechen kann. Der andere ist zweifelsohne die Tatsache, dass er sich auf der Bühne mit der Geschmeidigkeit eines Pumas bewegt – ein Umstand, der erst durch stundenlange Sessions auf den Dancefloors dieser Welt möglich wurde.

In »Zeit steht«, einem von zwei Songs, die dann doch im Rahmen der Jamaikareise entstehen, verarbeitet er diese Entwicklung, ohne sich billiger Bashment-Klischees zu bedienen. Stattdessen jagen KitschKrieg den Vokalisten mit trancigen Synths durch die Wellblechdisse, ehe Pop-Avantgardistin Alli Neumann unter maximalem Autotune-Einsatz eine Hook schmettert, die das Gefühl einer durchgeravten Nacht auf wenige Zeilen destilliert: »Hallo Zeit, lang nicht mehr geseh’n/Und nein, ich will noch nicht nach Hause geh’n«. Airplay im Jugendradiosender deiner Wahl: Nur noch eine Frage der Zeit.

Artful Dodgers

»Eigentlich besteht das Album ja aus Rave und Herzschmerz«, flachst Fiji Kris, ehe er zugibt, dass diese Mischung weniger Zufall, sondern eine der grundlegenden Ideen für die Arbeiten an »Trettmann« war. Dementsprechend bleibt »Zeit steht« nicht der einzige Ausflug. Statt Stagnation wird der KK-Soundkosmos konsequent erweitert: »Bye Bye« bedient sich des 2 Step, während »Stolpersteine« Komponist Nils Frahm samplet. »Wir haben über die KitschKrieg-EPs herausgefunden, was wir alles können, und das dann in ‘#diy’ manifestiert. Daran haben wir festgehalten und gleichzeitig versucht, nicht wieder in dieselbe Kerbe zu schlagen« lautet Trettis Fazit. »Ganz am Anfang stand die Idee, sich an UK Rave zu orientieren«, ergänzt Fizzle. »Und jetzt passiert darauf eben Storytelling mit Substanz.« Den Variationen in Sachen Tempi und Soundästhetik zum Trotz tragen die elf Songs die gewohnte KitschKrieg-Handschrift: Zuckerwattige Synths werden mit saftigen 808s unterfüttert und Fühls evozierenden Moll-Akkorden garniert. Der Genremix aus Dancehall, Trap, Rap, Garage und Roots Reggae ist die musikgewordene Fusionsküche – wohlgemerkt die beste ihrer Art in Deutschland.

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein