Trettmann: »Die Kunstfigur ‚Ronny Trettmann‘ hatte sich erschöpft« // Titelstory

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Steile These gleich zu Beginn: Trettmann ist der älteste Deutsche, dem die Generation tragbarer Bluetooth-Lautsprecher freiwillig zuhört. Mehr noch: Als Bindeglied zwischen Straße und ­Conscious, Seele und Exzess, alter Schule und neuer Welle lastet zwei Jahre nach »#diy« ein gehöriger Erwartungsdruck auf den Schultern des 45-Jährigen.

Es ist ja nicht wegzudiskutieren: wem ein Klassiker gelingt, auf den sich Kritiker, Die-Hards und Gelegenheitshörer einigen können, der hat ein Problem. Schnell nachschießen oder lange zappeln lassen, neu erfinden oder Altbewährtes replizieren? Den gewonnenen Status für die große Feature-Rutsche nutzen oder drauf scheißen und sich mit den Day-Ones im Studio einigeln? Neben all diesen stellte sich für Tretti und KitschKrieg eine noch viel zentralere Frage: Wie lang ist das Prinzip »#diy« noch tragbar? Wann ist das alles zu groß, als dass man guten Gewissens alle Zügel in der Hand behalten möchte?

Die Antwort liefert Trettmann gleich im Intro zur neuen Platte: »Alles selber, geniale Dilettanten/Blaze rauch in’ Melder, die Welt gerät ins Wanken«. Doch die »Fam«, die »Echten«, das sind eben schon lange nicht mehr nur awhodat, Fizzle, Fiji Kris und der als Stefan Richter geborene Trettmann. Wie groß Operation KK mittlerweile geworden ist, erschließt sich mir erstmals an einem Freitag Mitte Juli, als ich in Ferropolis eintreffe. Es ist der zweite Festivaltag von splash! 22, und neben den Kernmitgliedern der Squad sind auch Künstlermanager Marius, SoulForce-Records-Labelmanager Till, Booker Schletti (alias »Der Don«), Tourmanager Davith, Merch-Mastermind Dodo, Mastering-Engineer und FOH-Mischer Fat Fabi, Filmer Till, der sich mit einem speziellen Smartphone-Schwenkarm um Material für Trettis Insta-Story kümmert, und fünf weitere Mitarbeiter des Live-Teams vor Ort. Man merkt dem Team die positive Anspannung vor der großen Show am Abend an, trotzdem ist der Umgangston freundlich, gar zuvorkommend. Nur das vereinbarte Interview kann und will Trettmann lieber verschieben – es wäre das sechste an diesem Nachmittag. Die drückende Schwüle tut ihr Übriges, und so macht sich Tretti auf den Weg Richtung Nightliner. Lieber noch ein paar Stunden Kraft tanken, ehe sich die Hauptbühne wenige Stunden später monochrom färbt.

Alles halb so wild, denn die Szenerie auf der Halbinsel am Gremminer See weckt unweigerlich Erinnerungen: 2013 stehe ich zufällig nicht ganz knöcheltief, aber immerhin im Sand vor der Seebühne auf dem von alten Braunkohlebaggern verzierten Festivalgelände, das bis Anfang der Neunziger ein riesiger Tagebau war, und sehe zum ersten Mal einen Auftritt von Ronny Trettmann. Der hat zwar gerade erst sein Debütalbum »Tanz auf dem Vulkan« veröffentlicht, gehört aber schon damals mit Ende 30 zu den ältesten Acts, die auf der 16. Ausgabe des splash! auftreten. In der überschaubar großen deutschen Reggae- und Dancehall-Szene wird er für seinen progressiven Ansatz gleichermaßen gehasst und gefeiert. Nach Jahren des Shoutens, der Soundclashes, unzähliger Dubplates und Mixtapes markiert die Debüt-LP des Wahlleipzigers den Versuch, modernen Dancehall-Sound mit 808-lastigen Produktionen ins Deutsche zu übersetzen. »Weder war die Zeit reif noch das Projekt wirklich ausgegoren«, erinnert sich Trettmann wenige Tage nach seinem 2019er-Auftritt via Videocall an die damalige Zeit. Und doch offenbart »Tanz auf dem Vulkan« rückblickend zumindest Teilstränge der DNA, die Tretti zweieinhalb Jahre später mit KitschKrieg zur unerwartetsten Deutschrap-Erfolgsstory aller Zeiten spinnt.

»Im Endeffekt hatte sich nicht nur die Kunstfigur Ronny Trettmann erschöpft, sondern auch Dancehall an sich. Mir gefiel der Generationenkonflikt nicht, der damals auf Jamaika tobte: Meine alten Helden erhoben sich über die jungen Wilden, kritisierten die neue Art zu performen, die Verwendung von Autotune, die Tattoos. Das führte zu einem kreativen Stillstand, sowohl im modernen Roots Reggae als auch in der Dancehall.« Das färbt auch auf die heimischen Gefilde ab – Trettmann geht sogar so weit, ein noch härteres Urteil für die deutsche Szene zu fällen: »Bis ‘Palmen aus Plastik’ war das Ding tot.«

Kein Sprint, das is n Marathon

Februar 2016, Konzertsaal Lido, Berlin-Kreuzberg: Mit der »KitschKrieg«-EP im Gepäck teilt sich Trettmann den Support-Slot für Crack Ignaz und LGoony mit Fruchtmax und Hugo Nameless. Zwischen den Moshpit-Hymnen »WKMSNSHG« und »Oida Wow« hängt das sphärische »Skyline«, das Trettmann noch ohne Live-Autotune performt, irgendwie in der zum Schneiden dicken Luft, ohne dass der Funke wirklich überspringt. Und doch scheint Tretti inmitten der feierwütigen Turn-up-Kids nach Jahrzehnten in der Dancehall ein neues Zuhause gefunden zu haben. Seine Eindrücke des Abends verarbeitet er auf der zweiten KK-EP in den Lyrics zu »Alles echt«: »Ich in der Crowd bei Ignaz und Goony im Lido, witness the Litness/Wochenlang ausverkauft, Turn-up Hardcore, Moshpit zu ‘Nasa’ im Blitzlicht«. Als der Leipziger nach der Show etwas verloren am Merch-Stand steht, überlege ich kurz, ihn anzusprechen. Doch nach zwei Stunden in einem Brutkasten aus Schweiß, Weeddunst und Zigarettenqualm ist mir eher nach winterlicher Frischluft denn Smalltalk. Egal, der Typ ist gekommen, um zu bleiben.

»Bis ‘Palmen aus Plastik’ war DeuTscher Dancehall tot.«

Als gute anderthalb Jahre später »#diy« erscheint, sind Trettmann und KitschKrieg längst ein nicht mehr wegzudenkender Teil des Deutschrapzirkus. Mit drei Solo-EPs, dem von KK produzierten und Trettmann featurenden EP-Beileger zu »Palmen aus Plastik« sowie dem Kollaboprojekt »Herb & Mango« mit Megaloh hat man sich ein Standing erarbeitet, das seinesgleichen sucht. KitschKrieg sind nicht irgendein, sondern das Produktionskollektiv in Deutschland. Im September 2017, dem für Deutschrap stärksten Releasemonat der vergangenen Jahre, veröffentlicht Tretti fast zeitgleich mit Casper, Cro und Rin. Doch auch wenn die Kollegen keine Mühen gescheut haben und allesamt großartige Alben abliefern, so besitzt doch der Außenseiter »#diy« den längsten Atem: Fast anderthalb Jahre verweilt die LP in den Albumcharts, »Knöcheltief« und »GottSeiDank« werden auch ohne begleitende Musikvideos zu Hymnen, die anschließende Tour ist trotz Zusatzdates und Hochverlegungen fast restlos ausverkauft. Medien, Künstler, Fans – alle stehen Schlange, jeder will diesen unerwarteten Home Run, von dem sich so schön erzählen lässt, auf seine Art und Weise abfeiern.

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