Roc Marciano hat sich erst spät in seiner Karriere einen kleinen Klassikerkatalog aufgebaut und reift als Lyricist mit den Jahren wie ein nobler Burgunder. Complex adelte den 40-jährigen New Yorker gerade zum »Shakespeare unserer Zeit«. Seine aktuelle »Rosebudd’s Revenge«-Reihe zeigt ihn auf dem kreativen Peak und wirft die Frage nach dem Wert von gerappten Kunstwerken auf.
Ein Pimp-Prelude im Kabelfernsehen, eine Acht-Bett-Villa am Mulholland Drive – Ende der Neunziger, unmittelbar vor dem Untergang des goldenen Musikzeitalters. Der Wu-Tang Clan zeigt in einer legendären »MTV Cribs«-Folge die Wu-Mansion-West. Ein berauschter Busta Rhymes hampelt auf dem Sofa rum und spittet: »Rae pass the blowtorch, Ghost brought the dynamite stick/Marciano brought a chisel with an ice pick.« Bäm! – hier hätte die Karriere von Roc Marciano ursprünglich abheben sollen. Der Track »The Heist« erscheint später auf Bustas »Anarchy«-Album, featuret die genannten Wu-Großmeister, ist von Large Professor produziert und stellt das neue Flipmode-Signing aus Hempstead, Long Island, vor, das sich gleich in einen Lebende-Legenden-Zirkel einreiht.
Man muss einige Ikonen einbeziehen, um die Anfänge von Rakeem Calief Myer, wie Roc mit bürgerlichem Namen heißt, in der Industrie nachzuzeichnen. Nach »Anarchy« bleibt ein Hype um den Freshmen allerdings aus. Vier Jahre passiert genau nichts – bis Marci beim Flipmode Squad aussteigt, sich mit Mike Raw, Laku und Dino Brave als The U.N. organisiert und unter dem Motto »UN Or U Out« immerhin zwei Alben veröffentlicht. Pete Rock nimmt sich des Literaten mit den poetischen Punchlines an und reserviert ihm einige Slots auf seinem »Underground Classic«-Projekt. Doch es dauert wieder Jahre, bis im Mai 2010 »Marcberg« erscheint, sein inzwischen unverhofftes Solodebüt, das zu einem Gamechanger für den weltweiten Untergrund wird.
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»Ich hab schon als Kind gemerkt, dass ich gut mit Worten bin. Ich bekam immer gute Noten für meine Aufsätze«, erzählt Marci am Telefon. »Mir war früh klar, dass ich was mit Sprache machen werde.« Dieses Talent, gepaart mit einem absoluten Gehör für den perfekten Loop, kommt auf »Marcberg« erstmals zum Tragen. Das Album ist ein ästhetischer Einschnitt in das damalige Soundbild, das sich an orchestralen Blockbuster-Beats von Rick Ross und klinischen 808-Kompositionen des Young-Money-Camps orientiert – und wirkt als künstlerischer und ökonomischer Befreiungsschlag. Questlove berichtet von intensiven Gesprächen mit Jay-Z über »Marcberg«, das in JUICE #130 (Juni 2010) zum Album der Ausgabe gewählt wird. Die Hipster-Presse feiert den ignorant-nasalen Flow und diese grandios gereimten Geschichten aus der Unterwelt. In der Folge produziert Rakeem mit »Reloaded« eine weitere Indie-Erfolgsstory, besinnt sich auf die Sample-Tugenden der Ostküste und strippt seine Beats zu minimalistischen Soul-Skeletten runter.
Als Cineasten-Rap ließe sich wohl bereits »The Prophecy« beschreiben. Marcis verschollene Debüt-EP, die 1997 entstand und vor Jahren ihren Weg ins Netz fand. Aber erst nach »Reloaded«, das Kritiker und er selbst, als Magnum Opus begreifen, sprudelt es nur so aus ihm heraus. Nach einer EP mit Gangrene (The Alchemist und Oh No) als Greneberg, veröffentlicht er 2013 »Marci Beaucoup« – eine Art Produzentenalbum – und das großartige Mixtape »The Pimpire Strikes Back«. Parallel dazu scheint Marci auf weit über fünfzig Gast-Spots, unter anderem neben Kendrick Lamar, Danny Brown, Action Bronson, Evidence, De La Soul, Sean Price und KA, mit dem er das Duo Metal Clergy formt. Den hauptberuflichen Feuerwehrmann lernt er kennen, als er 2009 »Firehouse« – einen quasi-Solotrack von KA – für das GZA-Album »Pro Tools« produziert.
Mit seinem Geistesverwandten aus Brownsville verbindet ihn eine Formel und Haltung: weniger Worte, mehr Wirkung. Nicht nur textlich und stimmlich ergänzen sich die beiden, setzen Pausen und beten Mantras über hypnotische Ambient-Strecken. In ihren Instrumentals verzichten sie oft komplett auf Drumloops. »Meine Beats sind eher zurückhaltend. Ich brauch keine Blockbuster-Produktionen«, erklärt Roc dazu. »So stelle ich meine Lyrics in den Vordergrund. Meine Patterns und Stimme sollen gehört werden. Das ist fast wie Jazz: Man hat mehr Platz und kann Flows entfalten. In meinen Raps steckt überhaupt eine Menge Jazz. Miles Davis ist definitiv mein größter musikalischer Einfluss.«
Dass der Miles-Fan entgegen seinem Image so gar nicht dem Klischee des prinzipientreuen Untergrundverfechters entspricht, macht ihn umso sympathischer. Er wird nicht müde, seinen exquisiten Lifestyle zu betonen, Mode-Statements abzugeben und Luxusmarken aufzuzählen. Marci trägt Schuhwerk, so teuer wie ein Doomverse – und wirkt dabei trotzdem wie ein OG, also das Gegenteil eines Hypebiests oder Resellers. Auf der »Rosebudd’s Revenge«-Reihe führt der Connaiseur eine Weltreise des guten Geschmacks ad absurdum. Ohne je das Land verlassen zu haben, berappt er die exotischsten Orte der Welt und bebildert ein Zuhälterdrama, das sich am Swag von The Mack, Willie Dynamite und Superfly orientiert – den trashigen Blaxploitation-Streifen, die im Milieu der frühen Siebziger spielten.
Auch mit seiner Release-Strategie für die zwei »Rosebudd’s Revenge«-Teile fährt er seinen eigenen Film und wirft eine große gesellschaftliche Frage auf: Welchen Wert hat Kunst im Digitalzeitalter? Den zweiten Teil veröffentlichte Marci im März für eine Woche exklusiv und digital auf seiner Homepage für 30 Dollar – was dem pressescheuen Pimp ein großes Medienecho und zum Teil negatives Fan-Feedback einbringt. Albenverkäufe sind die Haupteinnahmequelle des Rappers, der überhaupt nur eine Handvoll Soloshows in den letzten Jahren gespielt hat. In einem Tweet beschwert er sich über die geringe Ausschüttungen durch Streaming-Anbieter. Drei Millionen Streams hätten ihm nur »shoe money« eingebracht, schreibt er, ganz das Fashion Victim. »Die Streaming-Portale müssen das fixen. Das Business-Modell ist eine Katastrophe! Meine Kunst ist doch viel mehr wert als ein paar Cent pro Stream! Du gehst doch auch nicht in den Gucci-Store und beschwerst dich dann über die Preise. Na, also.«
Dieses Feature erschien in JUICE #186. Back Issues jetzt versandkostenfrei im Shop bestellen.