Real Talk #7

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Staiger
 
Para-Elen: Alles passiert gleichzeitig.
 
Letzte Woche Splash! Letzter Tag Fußballweltmeisterschaft. Deutschland gewinnt das Finale und gleichzeitig sitzen in Tel Aviv ­Familien im Keller, weil die Hamas aus dem Gazastreifen Raketen auf Israel abfeuert. Zeitgleich versuchen sich in Gaza Familien vor den Luftschlägen der ­israelischen Armee in Sicherheit zu bringen. Parallel dazu bombardiert in der Ost-Ukraine die ukrainische ­Luftwaffe Stellungen von ­Separatisten, wobei dort gleichzeitig eine Bodenluftabwehrrakete darauf wartet, sich ein paar Tage später in den Rumpf einer malaysischen Passa­giermaschine zu bohren.
 
Während in der 113. Minute des Endspiels Mario Götze den Siegtreffer erzielt und sich ­jede Menge betrunkene Splash!-Besucher die Seele aus dem Leib schreien (­»Schlaaaaaaaand!«), werden in einer Favela oberhalb von Rio de Janeiro mehrere Straßen­kinder von einer Polizei­einheit außer Dienst ermordet. In Mali werden Menschen erneut von Tuareg-Truppen ­drangsaliert, und in Syrien bereitet sich Bashar al-Assad, der mit 88% Wählerstimmen erneut zum Präsident seines Landes erkoren wurde, auf seine Vereidigungsfeier vor, während gleichzeitig im selben Land ­junge Kämpfer der ISIS ihre Toyota-Jeeps ­besteigen, um ein ­nahegelegenes Ölfeld zu überfallen. Unter ihnen auch zwei bis drei Personen, die in einem früheren Leben in ­Deutschland HipHop-Fans waren und teilweise selbst gerappt haben. An ­irgendeinem Punkt ihrer Geschichte haben sie ­beschlossen, dem irdischen Leben zu ent-sagen und ihr Glück in der Wüste zu suchen. Dass sie dabei Tod und Zerstörung mit sich bringen? Nun, so ist das halt, wenn man die Wahrheit gefunden hat. Dann muss man eben Verluste in Kauf nehmen. Gleichzeitig streiten sich in einem deutschen Politik-Forum zwei Menschen über die ­Deutungshoheit im Nahostkonflikt. Beide Seiten bewerfen sich gegenseitig mit Fakten und Jahreszahlen, um die jeweilige unversöhnliche Haltung der einen wie der anderen Seite zu rechtfertigen. Auch hier geht es um nichts als die Wahrheit, während sich Wiz Khalifa auf seinen Splash!-Auftritt vorbereitet und nicht versteht, worum es bei ­diesem Soccer eigentlich geht.
 
Es stimmt nicht, dass wir uns um das Elend der Welt nicht ­kümmern, nur weil WM ist. Wir können nur nicht überall ­gleichzeitig sein, auch wenn es gleichzeitig passiert. Es stimmt genausowenig, dass im Nahost-Konflikt immer nur die eine Seite gezeigt wird und die andere nicht. Das wird nämlich von jeder Seite stets so ­dargestellt, was eigentlich darauf schließen lässt, dass ­entweder gar nicht oder eben doch ausgewogen ­berichtet wird. ­Nichtsdestoweniger behaupten die Unterstützer Israels, dass aufgrund des weltweit grassierenden ­Antisemitismus nur die Seite der Palästinenser beleuchtet würde, während gleichzeitig die ­Palästinenser und ihre ­Unterstützer behaupten, dass aufgrund der welt-weiten ­jüdischen Medienmacht die ­Sache der ­Palästinenser unter den Tisch fallen würde. Die letztere Theorie findet in Deutschlands ­Rap-Gemeinde übrigens großen Zuspruch, wobei man sich hierzulande sehr auf die vom Judentum gelenkten Medien konzentriert. Diesem Medienkomplott werden dann Youtube-Videos entgegengesetzt, die selbstverständlich die »Wahrheit« zeigen. Und während Deutschland im ­Siegestaumel ­versinkt und fünf junge Männer den Gaucho-Tanz einstudieren, bereiten sich fünfhundert junge Männer darauf vor, auf einer Gaza-Solidaritäts-Demo »Jude, Jude, feiges Schwein! Komm heraus und kämpf allein!« zu schreien. Sie demonstrieren für mehr Menschlichkeit und lassen ihrem Judenhass freien Lauf, ­während gleichzeitig ­israelische Nazis auf den Straßen des Landes ihre Überlegenheit feiern und den Tod aller Araber fordern. So ist das, wenn man die Wahrheit gefunden hat. Man wird wahnsinnig.
 
Früher mochte ich Rap, weil er die Fähigkeit hatte, sich all das nur anzuschauen und zu beschreiben. Die Art, wie Rap die Realität beobachtete, prägte mein Weltbild. Heute bin ich mir nicht mehr sicher, ob das Hinschauen ausreicht. Zu viel Input, zu viele ­Realitäten, zu wenig HipHop. Der Blick ist verschwommen. Cro steht neben Mark Forster steht neben Sido steht neben Pitbull steht neben Jason Derulo steht neben Helene Fischer. Alles ist mit allem ­verbunden und alles passiert gleichzeitig. Nur eine Sache nicht: Der Cro-Auftritt auf dem Splash! musste nach hinten verschoben werden, weil das Endspiel der deutschen Nationalelf lief. Anscheinend gibt es also doch noch Sachen, die wichtiger sind als andere. Fragt sich nur, ob es die richtigen sind.
 
Diese Kolumne ist erschienen in JUICE #161 (hier versandkostenfrei nachbestellen).
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