Frankreichs derzeit berühmteste Rapcrew ist ein Mysterium. Millionen Menschen sehen ihnen im Internet beim Wachsen zu und folgen gebannt ihren synthetischen Straßenballaden. Journalisten versuchen das Phänomen zu entschlüsseln, doch die gegelten Köpfe von Ademo und N.O.S, die sich zusammen PNL nennen, verschwimmen bei genauerer Betrachtung zu schemenhaften Geistesgestalten. Die Erkenntnis: Man weiß nichts – einfach gar nichts. Woher die beiden Brüder plötzlich kamen, scheint ein Rätsel. Ihre Wut und Verzweiflung, die tief in den Auto-Tune-Sirup getränkt wurden, tragen Emotionen von einer Gruppe Franzosen an die Öffentlichkeit, die seit jeher von der dortigen bürgerlichen Gesellschaft ausgegrenzt wird. Nur wenn man sich den Lebensumständen der beiden annähert, versteht man, warum keiner mit PNL gerechnet hatte.
Im April 2014 erschien »Différents«. Es war eines der ersten Musikvideos der beiden Brüder, die zuvor solo wenig erfolgreich Musik aufgenommen hatten. Dem 29-jährigen Tarik Andrieu (Ademo), der zu diesem Zeitpunkt frisch aus dem Gefängnis entlassen worden war, und dem 27-jährigen Nabil Andrieu (N.O.S) war mit »Différents« ein epochales Lied gelungen. Die Drums waren so gesetzt, wie im damaligen Trap made in America üblich, und die orchestralen Orgeltöne, die verzerrt aus dem Hintergrund erklangen, ließen einen schaudern. Im Vordergrund formierten sich die mit Auto-Tune manipulierten Stimmen von PNL, der Track klang nach einer subtilen Drohung: »Wir werden bald überall sein. Ihr könnt uns nicht aufhalten«, hörte man sie sagen, obwohl man kein Wort ihres Französisch verstand, das bis zur Unkenntlichkeit mit Slang durchtränkt war. Alles was ankam, waren »ouuus« und »ueees«.
PNL sprechen ihre eigene Sprache: Gefüttert mit Codes der Straße und arabischen Begriffen; eine Sprache, die knapp 40 Kilometer südlich von Paris im 40.000-Seelenort Corbeil-Essonnes geformt wurde. Genauer: Im Bezirk Les Tarterêts. Knapp ein Viertel der Einwohner von Corbeil-Essonnes lebt dort in grauen Betonblöcken aus den Sechzigerjahren. Etage stapelt sich über Etage, Satellitenschüsseln strecken ihre Hälse gen Süden. Ein Großteil der Bewohner stammt aus den ehemaligen französischen Kolonien in Nordafrika, aus Algerien, Tunesien und Marokko. Junge Erwachsene machen den überwiegenden Teil der Bewohner in den Plattenbaublocks aus, aber kaum einer von ihnen hat Arbeit. Was bleibt, ist Fußball spielen, Kampfsport, Drogen nehmen oder Drogen verkaufen. Die Langeweile entlädt sich in Gewalt und all den Machenschaften, die mit schnellem Geld in Zusammenhang stehen. Nur wenige interessieren sich wirklich für die Schicksale, die sich hinter den Mauern dieser Parallelwelt abspielen. Die Banlieues, so nennt man die von der innerstädtischen Gesellschaft entkoppelten Vorortsiedlungen, in denen fast ausschließlich Menschen mit Migrationshintergrund leben, haben eine Eigendynamik entwickelt.
Die ganze Welt oder gar nichts
Auch Tarik und Nabil haben algerische Wurzeln. Die Mutter stammt aus dem Staat in Nordwestafrika, der Vater war ein sogenannter Pied-noir aus Korsika – ein Europäer, der unter der französischen Flagge in der nordafrikanischen Kolonie lebte. Die Kindheit der Brüder war ebenfalls durchzogen von Gewalt, Geschäften mit dem Rausch und einer fehlenden Perspektive. Die Wege, die aus dem Monolithendschungel herausführen, sind schwer zu bezwingen. Außerdem, das erfährt man in ihren Liedern, fehlte es an Liebe seitens der Eltern. Interessieren würde das wohl keinen, hätten sie nicht damit begonnen, Musik darüber zu machen. Jetzt gucken ihre Videos bis zu 50 Millionen Menschen. Ihr erstes Album »Que la famille«, auf dem auch »Différents« zu finden war, wurde anerkennend wahrgenommen. PNLs charakteristisch synthetischer Singsang war darauf zwar schon ansatzweise zu erkennen, entfaltete aber noch nicht seine volle Kraft und klang eher nach einem dezenten Abklatsch US-amerikanischer Rap-Größen, nicht nach ihrem späteren, einzigartigen Trademark-Sound. Der große Knall kam aber bereits einige Monate später. Ihr Song »Le Monde Ou Rien«, zu deutsch etwa »Die ganze Welt oder gar nichts«, fing die Tristesse von Les Tarterêts im zugehörigen Video bildgewaltig ein. Die kitschigen E-Gitarren am Anfang, die klebrigen Synthies und der Singsang von PNL transportierten eine enorme Emotion. Sie wirkten weniger abgestumpft und verletzlicher als die anderen Straßenpropheten wie Booba & Co.
Mittlerweile wurde das Video 50 Millionen Mal aufgerufen. Der Track erschien auf dem zweiten PNL-Album »Le Monde Chico«. Plötzlich wollte jeder wissen, wer diese beiden Franzosen sind. Doch außer der Musik war da nichts. Tarik und Nabil unterschrieben keinen Vertrag bei einem Label, führten bis heute kein einziges richtiges Interview. Nicht mal Pressefotos gibt es auf Anfrage. Einzig ein Vertriebsdeal mit dem kleinen Unternehmen Musicast existiert, um die Songs in die digitalen Stores einzuspeisen. Auch Konzerte geben die beiden so gut wie keine. Trotzdem erreichte »Le Monde Chico« innerhalb weniger Monate Goldstatus in Frankreich.
Son-Goku & Mogli
Damit drehen PNL den Spieß um. Sie strafen die voyeuristische Öffentlichkeit mit derselben Ignoranz ab, die ihnen über zwanzig Jahre entgegengebracht wurde. Die einzigen, für die Tarik und Nabil wirklich greifbar sind, sind die alten Freunde aus Les Tarterêts, die ihre Realität teilen und ihre codierten Texte entschlüsseln können. Nur für sie haben sie ihre Lieder geschrieben. Trotzdem haben PNL eine riesige Online-Fangemeinschaft angesammelt, die ihnen jedes Wort von den virtuellen Lippen abliest – obwohl auch die Facebook- und Twitter-Profile der Brüder nur wohldosiert hinter die Fassade blicken lassen. Selbst die aufwändigen Musikvideos, die mittlerweile unter anderem in Japan und Namibia von einem Freund aus dem Viertel gedreht werden, der sich innerhalb von ein paar Monaten selbst das nötige Knowhow dafür angeeignet hat, zeichnen ein körperloses Bild. PNL wirken zwar authentisch, aber irgendwie entmenschlicht – so als wären nur zwei Schauspieler für die wahren Künstler hinter der Musik eingesprungen. Denn Tarik und Nabil verziehen keine Miene.
Ein Vertrauter von PNL erzählte den Kollegen im Fader Magazine für deren PNL-Coverstory, dass man einfach die Musik hören solle, schließlich würde die ja alles erklären. Und damit hat er Recht, denn der einzige Zugang zu den Brüdern bleibt die Musik. Warum auch nicht – in einer Zeit, in der alle Informationen jederzeit immer und überall verfügbar sind. PNL sind der gelebte und akustische Gegenpol dazu: zwei der wenigen Popstars, die es schaffen, weitgehend anonym zu bleiben.
Das dritte, neue Album der Brüder in zwei Jahren heißt nun »Dans La Légende« und ist wieder eine Steigerung zum Vorgängerwerk. Langsam wabern die nicht enden wollenden Synthflächen unter dem bohrenden Singsang, der klebrige Bodensatz klingt wie eine Mischung aus den Produktionen von Sad Boy Yung Gud, Trap-Versteher Metro Boomin und dem Mastermind hinter Drake Noah »40« Shebib. Tarik und Nabil singen über eine fremde Welt, in der Gewalt und totale Einsamkeit zum Alltag gehören, und vermengen ihre Lyrik mit islamischen Motiven und Szenerien aus bekannten Märchen und Cartoons. Der vielleicht einzige Punkt, bei dem man als Außenstehender mit PNL auf einer Wellenlänge schwimmt, sind schließlich die kindlichen Erinnerungen an Son-Goku und Mogli. Immerhin etwas. ◘