Im Rückblick ist der klare Blick, mit dem das Album all das analysiert und aufbereitet, seine vielleicht größte Stärke. Dizzee Rascal bereute seine Fehltritte nicht. Er verrannte sich aber auch nicht in einseitige Schuldzuweisungen. Auf »Boy In Da Corner« ist er zugleich Überbringer der schlechten Nachrichten und Teil des Problems. Seine Texte erklärten das mit zuvor ungekannter Aggressivität, Wortgewandtheit und Schnelligkeit. Seine selbstproduzierten Beats, zusammengesetzt aus Gameboy-Sounds, flachen Synthies, japsenden Sprachsamples und fernöstlich anmutendem Klimbim, trugen jedoch einen ebenso großen Teil zur desolaten Stimmung der Platte bei. Viel harter Stoff also für einen Teenager, der gerade erst anfing, an der Oberfläche seines Potenzials zu kratzen. Es scheint nicht allzu weit hergeholt, dass »Boy In Da Corner« mit der Selbstmordfantasie »Do It« endet.
Dieser pessimistische Outlook konnte der Strahlkraft seiner 15 Tracks jedoch nichts anhaben. Dizzee Rascal setzte damit den ersten albumlangen Höhepunkt des Grime – und schien der Szene gleichzeitig zu entwachsen. Natürlich waren sein Akzent und Produktionsstil unverkennbar britisch: die schwarze Antwort auf jene gelangweilt-bekifften »Pro Evoluton Soccer«-Kids, die Mike Skinner alias The Streets im Vorjahr mit seinem Album »Original Pirate Material« porträtiert hatte. Anders als beinahe all seine Weggefährten wollte sich Dizzee jedoch nicht auf den heimischen Straßen verbarrikadieren. Seine permanent zwischen Boast und Beichte, schlechten Entscheidungen und schlechtem Gewissen pendelnde MC-Persona war direkt aus dem 2Pac-Handbuch entnommen. Seine Beats adaptierten zahlreiche Dirty-South-Eigenheiten. Dizzee Rascal veröffentlichte »Boy In Da Corner« über das große Indielabel XL und verkaufte die Musik darauf auch im Klingeltonformat. Für viele Szenehüter war das fünffacher Hochverrat.
Während sein Debütalbum begeisterte Reviews, Awards und schließlich eine goldene Schallplatte in Großbritannien einsammelte, zerstritt sich Dizzee mit Teilen der Grime-Szene. Das Verhältnis zu seinem zwischenzeitlichen Mentor Wiley gilt bis heute als zerrüttet. Nicht auszuschließen, dass sich Dizzee auch deshalb mit jeder neuen Platte weiter von ursprünglichem Grime entfernte. Das Phänomen schrumpfte in der zweiten Hälfte der Nullerjahre zurück auf Underground-Niveau. Der rückwärtsgewandte Gitarrenrock von Bands wie Arctic Monkeys und Franz Ferdinand übernahm noch einmal das Kommando im UK. Dizzee Rascal legte derweil die oben beschriebene Popstarkarriere hin und stellte als britischer MC, der auch in den USA Fuß fassen konnte, praktisch ein Novum dar. So gesellschaftlich und brennpunktartig relevant wie auf »Boy In Da Corner« war seine Musik jedoch nie wieder.
2017
Vier Jahre nach dem vergleichsweise erfolglosen und künstlerisch indiskutabel schlechten »The Fifth« stehen die Zeichen auf Rückbesinnung. Vordergründig betrachtet. Auf dem Cover des sechsten Albums von Dizzee Rascal prangt ein Kinderfoto des MCs – der alte Biggie-, Nas- und Lil-Wayne-Trick. Die Platte heißt »Raskit«, benannt nach einem Dizzee-Spitznamen aus Jugendtagen. Der Rapper hat wieder Bock auf Rap, er ist schnell und beweglich, technisch tadellos, erfreut über den eigenen Slang. Zum ersten Mal seit »Boy In Da Corner« geht Dizzee Rascal wieder einen Schritt auf Grime zu, statt sich davon wegzubewegen. Als berechnendes Retro-Manöver kann man »Raskit«, trotz weiterer Parallelen zu seinem Debüt – das schwarz-gelbe Coverdesign, die 57-minütige Spielzeit –, jedoch nicht abtun.
Ein Grime-Album vom ehemals größten Grime-Rapper ergibt im Jahr 2017 natürlich Sinn. Das Genre hat im zweiten Versuch den Sprung zu jener Mainstreampopularität geschafft, die ihm im ersten Anlauf noch verwehrt blieb – auch wegen der Widerborstigkeit und der selbstzerstörerischen Tendenzen der damaligen Protagonisten. Hinter heutigen Stars wie Skepta, Stormzy und Lady Leshurr wartet ein unfassbar tiefer Pool an MC-, DJ- und Producer-Talenten. Man könnte Monate damit verbringen, auf Youtube und Soundcloud nach neuen Lieblingskünstlern zu suchen, ohne sich zu langweilen. Einen Song wie Stormzys »Shut Up« trällert in dessen Londoner Heimatstadtteil Croydon jedes Kind vor sich hin – genau wie die Investmentbanker und sonstigen Finanzhaie in der City. Drake und Kanye West sind nur die zwei größten US-Rapper, die das Potenzial von Grime erkannt haben und sich mit ihren letzten Platten ein ordentliches Stück vom Kuchen reinschoben.
»eine mögliche Zukunft als Elder Statesman des UK-HipHop?«
Dizzee Rascal will mit »Raskit« davon profitieren, aber auch den Spieß umdrehen. Neben offensichtlichen Rückbesinnungen stehen deshalb auch die bisher entschlossensten US-Rap-Anleihen seiner Karriere. Die Platte, die sich daraus ergibt, funktioniert nicht ganz reibungslos, weist aber in eine mögliche Zukunft für Dizzee als Elder Statesman des britischen HipHop. Sein Vorbild scheint heute weniger 2Pac als der an einer Stelle explizit zitierte Jay-Z zu sein – wozu auch der etwas übertrieben großväterliche Ton passt, mit dem Dizzee über die Bedeutung von Social Media im Leben der jungen Leute staunt. Noch wichtiger als die Rückkehr zum Grime ist für »Raskit« aber die Abkehr vom Pop. Den Traum vom Glastonbury-Headliner scheint Dizzee Rascal fürs Erste begraben zu haben. Wie blöd hätte er dort auch ausgesehen zwischen Coldplay und Ed Sheeran? ◘
Text: Daniel Gerhardt
Dieses Feature erschien erstmals in JUICE #182. Back-Issues können versandkostenfrei im Shop bestellt werden.