»Grime bringt mich in den Rhythmus eines normalen Menschen« // Sibylle Berg im Interview

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Sibylle Berg ist eine Beobachterin. Seit Jahren schreibt die 57-Jährige in Büchern, Theaterstücken oder ihrer vielbeachteten Spiegel-Kolumne über die Auswüchse der modernen Gesellschaft – bissig, unterhaltsam, politisch. Gerade hat die Weimarer Schriftstellerin mit Wohnsitz in Zürich den Kasseler Literaturpreis für ihre »grotesk-komischen und aufklärerischen« Stücke erhalten. Ihr neuer Roman »GRM – Brainfuck« handelt von vier englischen Teenagern, die nach dem Brexit den gesellschaftlichen Ausstieg anstreben. Es geht ums Überleben in der durchdigitalisierten Welt des postkapitalistischen Zeitalters. Und um Grime. Auf ihrer Lesetour begleiteten sie deswegen auch Rapper von der Insel. Grund genug für ein Gespräch mit JUICE.

Sibylle, wie würdest du erklären, was ein »Reload« ist?
Sehr gut. (denkt nach) Ich schätze, ich würde mich abwenden mit dem Satz: »Warte mal kurz, ich muss mich selbst nochmal sachkundig machen.« (lacht) Ich kenne die ganzen Fachbegriffe nicht, das muss ich jetzt wohl zugeben. Ich mag Rap, aber wusste von Grime vorher nicht viel. Für das Buch habe ich mich in England aufgehalten und bin viel im Norden herumgereist. Dort habe ich mitbekommen, dass die Jugendlichen den ganzen Tag Grime-Videos auf dem Handy gucken. Wenn sie Kohle haben, gehen sie auch mal auf Konzerte, aber meistens haben sie die Kohle nicht. Das hat mein Interesse geweckt. Zum einen hat das mit dem Tempo zu tun, Grime ist ja sehr schnell. Zum anderen hat es auch mit Überforderung zu tun. Grime fordert dich. Das war auch ein kleines Ziel mit dem Buch für mich.

Wie hast du dich Grime angenähert?
Grime war so ein bisschen die Melodie, die mich durch das Buch gepeitscht hat. Die Wut in der Musik hat mich angezogen. Ich kam schnell völlig drauf und habe mich durch Hunderte Tracks gehört. Jetzt aber auch nicht wahnsinnig Insider-mäßig. Das meiste habe ich auf GRM Daily und den üblichen Plattformen entdeckt. Das war intensiv. Einmal für die Stimmung, zum anderen hatte ich die Idee – falls ich dazu eine Tour mit Musik mache –, das auch mit Grime-Rappern zu machen und nicht nach deutschem Ersatz zu suchen.

Es gibt ja hierzulande auch Grime-Versuche.
Das kam nie in Frage. Ich kann kein Buch in Großbritannien spielen lassen, Grime einbeziehen und dann einen deutschen Ableger auf Tour präsentieren. Das war mir ein bisschen zu viel Aneignung auf einmal.

Deine Entdeckungen T.Roadz, Prince Rapid und Slix sind nun Teil deiner Lesetour. Wie hast du die ausfindig gemacht?
Ich wusste erst nicht richtig, wie man mit Leuten aus der Szene in Kontakt tritt. Das ist oft schwierig. Mir ist aufgefallen, dass es oft sehr geschlossene Kreise sind und übliche Industriewege da nicht greifen. Das ist dann halt der Freddy, der die Videos produziert, aber auch das Management macht. Es kamen erst keine Antworten, und wenn, dann nur ein irritiertes »Was? Wir sollen auf Lesetour gehen?!« (lacht) Ich habe irgendwann einfach alle meine Lieblinge angeschrieben. Anfangs auch nur Frauen, aber viele waren nicht schnell genug für das, was ich wollte, und die meisten haben auch nicht geantwortet. (lacht) T.Roadz habe ich zufällig gesehen, da war er 13 und hatte gerade seinen ersten kleinen Hit. Das Buch handelt ja von Jugendlichen in dem Alter, er macht genau die Musik, die ich brauche – das war perfekt. Ich habe mich dann bei der Ruff Sqwad Arts Foundation gemeldet, wovon er Teil ist. Das ging zwar auch nicht wahnsinnig schnell und sehr vorsichtig, aber immerhin stand ich irgendwann mit Slix in Kontakt und wir haben uns geeinigt.

Wie nimmt dein Publikum dieses Konzept auf? Einen Rapper sieht man nicht so oft auf einer Lesebühne.
Wir haben bisher nur einen Auftritt gespielt. In Wien war es eher so, wie ich es auch von meinen normalen Lesungen kenne. Überwiegend junge Menschen, ab 20 bis um die 40, und wenn da noch jemand älter ist, sind es meistens Freaks. Die reagieren alle aufgeschlossen und interessiert. Ich habe großes Glück mit meinem Publikum.

»Ich habe den Eindruck, dass Musik das Einzige in England ist, was die Gesellschaft noch trägt

Hast du denn Ähnlichkeiten zwischen dir und den Grime-Künstlern entdeckt?
Vielleicht, dass ich und die gewissermaßen aufs System kacken? (lacht) Nein, das würde ich mir auch nicht anmaßen. Das ist ja eine, auch für Rap-Verhältnisse, recht eigensinnige Szene. Auch solche Dinge wie die Ruff Sqwad Arts Foundation. Das ist einfach nur großartig, was die machen. Das ist so viel besser als diese typischen Box-Clubs, die es sonst gibt, um Kinder von der Straße zu holen. Ich weiß aber wirklich nicht, was die Codes sind, wo die Wurzeln von Grime liegen und was die Street Credibility ausmacht. Mich hat in erster Linie interessiert, Leute wie T.Roadz zu pushen. Das macht irrsinnig Spaß und darum geht es: vor allen Dingen um Spaß. Ich lerne gerade ganz andere Welten kennen. Aber am Ende sind sie gar nicht so anders: Es geht immer nur ums Cool-Sein.

Du hast mal gesagt, du schreibst Bücher, um dir Fragen zu beantworten. Welche Antwort hat dir Grime gegeben?
Ich habe den Eindruck, dass Musik das Einzige in England ist, was die Gesellschaft noch trägt. In meinem Buch ist Grime auch eine der wenigen Komponenten, die noch am Schluss da sind. Der Rest ist ziemlich furchtbar. Furchtbar daran ist aber auch, dass Menschen, die in so prekären Situationen leben, sich an diese furchtbaren Umstände gewöhnen. Es geht in dem Buch vor allem um vergessene Menschen, die in den Vorstädten abgelagert werden und eigentlich aussterben sollen. Die haben aber keinen Bock auszusterben. Das hat mir gefallen. Die wehren sich. Da wird nicht apathisch mit Kampfhunden herumgehockt, sondern man schlägt sich halt durch.

Wie hast du die Ästhetik von Grime wahrgenommen im Vergleich zu dem, was du vorher über HipHop wusstest?
Ich weiß nicht viel über HipHop. Ich bin in erster Linie, wie sagt man: Hörerin? Ich habe vor meiner Grime-Phase viel A$AP Rocky gehört. Da geht es ja auch um Coolness, cooler geht es ja fast gar nicht mehr. Ansonsten höre ich eher Standard-Ami-Zeug wie Snoop Dogg oder Dr. Dre und ein paar alte Eminem-Sachen, als er noch gut war. Kendrick Lamar mag ich zum Beispiel nicht so gerne, den finde ich nicht interessant. Grime spricht mich da viel mehr an. Das liegt wohl auch am Tempo, schätze ich. Ich bin eher phlegmatisch, Grime bringt mich in den Rhythmus eines normalen Menschen. (lacht)

Du warst in Liverpool, Birmingham, Manchester und anderen Städten zur Recherche. Warum hast du Rochdale als Startpunkt der Geschichte gewählt?
Auf Rochdale kam ich aus zwei Gründen: Es ist wirklich Fakt, dass Rochdale immer wieder Nummer eins der deprimierendsten Städte Englands wird. Das muss man doch gesehen haben, oder? Dort gab es 2012 aber auch einen Vorfall, wo ein Pädophilenring, der aus neun pakistanischstämmigen Männern bestand, minderjährige Mädchen vergewaltigt hat. Der Fall bekam in England sehr viel Aufmerksamkeit [den Behörden wurde vorgeworfen, den Fall aus Angst vor Racial-Profiling-Vorwürfen nicht gründlich genug untersucht zu haben – die Opfer waren vor allem weiße Britinnen; Anm. d. Verf.]. Ich war aber auch zum Beispiel in Liverpool, wo bestimmte Viertel mittlerweile von Kindergangs kontrolliert werden. Das ist aber gar nicht so irrsinnig romantisch, wie es klingt. Eher trostlos. Ohne meinen ortskundigen Führer dort wäre ich nur Tourist vor verrotteten Häusern gewesen und hätte gar nicht mitbekommen, dass ich vor dem Waffenlager einer Gang stehe. Das ist auch so exemplarisch für England, wenn man den Zustand der Gesellschaft mal weiterdenkt. In Notting Hill steht man und denkt sich: »Hier ist es aber hübsch.« Aber schon aus Londons Innenstadt rauszugehen, offenbart eine ganz andere Welt. Das habe ich in dem Buch aufgegriffen.

»Ich höre auch andauernd: ‚Grime is dead‘, mir kommt er mopslebendig vor«

In deinem Roman wird Grime irgendwann Mainstream. Dort heißt es: »wieder eine Revolution, die gekauft worden ist«. Ist Grime nicht längst Mainstream?
In Teilen vielleicht. Aber dafür ist die Grime-Szene ja auch viel zu groß und divers, als dass man von einer Gesamtankunft sprechen kann. Ein paar haben es geschafft und bekommen jetzt das große Geld. Das ist aber auch okay. Stefflon Don hat mal mit Grime angefangen. Jetzt hat sie damit nichts mehr zu tun, aber einen Major-Deal. Den gönne ich ihr. Ich hätte auch gerne einen.

Impliziert diese Aussage nicht, dass Revolution gar nicht massenkompatibel werden kann?
Revolution heißt ja erstmal, im übertragenen Sinn, »Neuerfindung«. Oder man spricht von Rebellion. Irgendwann hat es sich einfach ausrebelliert. Wenn man sich Punk anguckt: Das wurde ja auch irgendwann aufgekauft. Dann kamen tolle bunte Stecknadeln und das Lebensgefühl, das unbedingt damit verbunden war, ging flöten. Keine Ahnung, es steht halt jetzt einfach im Buch. Ich höre auch andauernd: »Grime is dead«. Mir kommt er mopslebendig vor.

»GRM: Brainfuck« ist bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.

Foto: Chas Apetti

 

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