Deichkind – Fill-Lines in der Hook // Feature

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Deichkind Feature 1

 

»Vier Felder vor und einen großen Schluck nehmen. Eins, zwei, drei, vier – großer Schluck! … Joa, das war ein kleiner. Großer Schluck?! … Okay, weiter. Fünf, sechs, ­sieben, acht. So, was steht auf dem Feld? Alle tauschen ihre Bauchflusen aus. Das finde ich sehr gut!« Herzlich willkommen zum Interview – oder besser: Spieleabend – mit Deichkind.
 
Der gemeine Promotag für ein Album läuft gerne wie folgt ab: Im Zwanzig-Minuten-Takt rattern Journalisten zu Fragen umformulierte Pressemitteilungen durch und profilieren sich im besten Fall noch mit ein, zwei originellen Fakten, während Künstler unter Gähnen einen Antwortkatalog ­runterbeten oder sich in haarsträubenden ­Geschichten verfangen. Nicht so Deichkind. Der volksnahe Dadaisten-Trupp weiß auch diese Maschinerie mit Humor zu unterwandern.

 

Alles fängt an im Hotel Michelberger in Berlin-Friedrichshain. Durch die zum Café respektive Co-Working-Space umfunktionierte Lobby ­laufen fancy Menschen mit lässigem Auftritt, die Luft lässt sich vor lauter Anspannung schneiden. Im Hintergrund läuft Tupac, »All Eyez On Me«. Irgendwie ­passend. Gereon Klug, vielleicht witzigster Mann ­Hamburgs und Betreiber der ­Musikboutique Hanseplatte, nimmt mich in Empfang und bittet höflich um das Ausfüllen eines ­Fragebogens. »Welches Mitglied sollte bei Deichkind mitmachen?«, heißt es darin zum Beispiel. Ich setze meinen Haken bei »Smudo« und darf mir dann eine ­Gesprächsform für das Interview ­aussuchen. Zur Auswahl stehen etwa: »Deichkind ­interviewt dich« oder eine ­»Nackenmassage von Philipp«, Kostenpunkt 30 Euro.

 

»Und, wofür hast du dich entschieden?!«, fragt Henning alias La Perla, als ich den geheimnisvollen Interview-Raum betrete. Meine Wahl ist auf eine gemeinsame Runde »BBBÄÄÄMMM!!!« gefallen, das geistreiche Brettspiel, das der Fan-Box vom neuen Deichkind-Album »Niveau Weshalb Warum« beiliegt. »Boah, echt?«, entgegnet La Perla, konzeptioneller Kopf und Erfinder des besagten Spiels. »Na gut, das ist ganz schön anstrengend.« Also ran an den gedeckten Tisch.

 

Deichkind Feature 2

 

La Perla: Der Hässlichste fängt an.

 

Wo ist eigentlich Ferris?
La Perla: Der hatte vor drei Tagen eine Schönheits-OP.
Kryptic Joe: Ach, du bist jetzt wegen der Schönheit auf Ferris gekommen? Das ist ja fies. Ich finde eigentlich, das ist ein ganz ansehnlicher Mann.

 

Ich erkläre, dass ich mit Ferris’ erstem Album aufgewachsen bin. Ich war etwa dreizehn und hatte irgendwie Angst vor diesem, äh, Freak. Philipp alias Kryptic Joe, ältestes Mitglied der Band, scheint mich zu verstehen und erzählt von einer Jam in der Hamburger Markthalle, auf der er Ferris zum ersten Mal gesehen hat. »Boah, krass, ist der durch. Voll der verdrogte Typ«, dachten sich Deichkind damals. Das war wohl noch ihre Rap-Phase, denke ich mir heute, aber natürlich spielt Rap noch immer eine zentrale Rolle in der Musik von Deichkind. Immerhin kann Philipps Kollege Porky »GZSZ« von Sido und Fler aus dem Stegreif performen. Doch auf einer Jam hätten die Nordlichter heute so viel verloren wie Riff Raff bei Rap am Mittwoch. Nicht nur musikalisch verstehen sich die Hamburger nicht mehr als Teil einer abgeschotteten ­Subkultur. Deichkind will die breite Masse. Und die breite Masse will Deichkind. »Sei auch du ein Teil von Deichkind«, könnte auf den Konzertkarten stehen. Zumindest für einen kurzen Moment darf nun auch ich dabei sein und in bester Kumpel-Atmosphäre mit den Jungs eine Runde zocken. Also zurück zum Spiel.
 
Im Grunde handelt es sich bei »BBBÄÄÄMMM!!!« um ein simples, schambereitendes Saufspiel, das den Touralltag von Deichkind greifbar macht. Jeder hat einen Stapel Karten, wirft je Runde eine Karte davon ab und folgt den Anweisungen. Diese führen meistens zum nächsten Schnaps, ­wahlweise aber auch auf Spielfelder mit Aufgaben, die auf keiner guten Abi-Fahrt fehlen dürfen. Philipp alias Kryptic Joe ist dran. »Ich habe eine ‚Alle mach mit‘-Karte«. Er folgt dem weiteren Befehl, zieht mit seinem zur Spielfigur umfunktionierten Schnapsglas ein paar Felder weiter und liest vor: »Sprich offen über derzeit stattfindende Emotionen und reflektiere über die Ursachen. Henning, du fängst an.«

 

 

La Perla: Okay, ich bin relativ aufgeregt, weil ich das Spiel entwickelt habe. Ich weiß noch nicht, wie es ankommt, und ich habe auch selbst ein bisschen Angst vor den richtig unangenehmen Momenten. Ich genieße aber auch die Dynamik, die sich hier entwickelt. Natürlich wünsche ich mir Anerkennung und dass das, woran ich arbeite, gut funktioniert.
Kryptic Joe: Ich bin ein bisschen aufgewühlt, weil die Kollegin vom Rolling Stone Magazin das erste Mal konkret kritische Äußerungen getätigt hat. Ich versuche damit cool umzugehen, aber es zickt mich doch ein bisschen als Künstler.

 

Und dann gleich der Rolling Stone.
Kryptic Joe: Witzigerweise, ja. Das war das erste Mal, dass jemand reinkam und direkt meinte: »Ihr seid scheiße!«.
La Perla: Nee, sie hat gesagt, dass wir geil sind, aber dass das Album schrecklich sei.
Kryptic Joe: Ja, genau. Und zwar ging es ihr um eine Zeile in dem Track »Porzellan & Elefanten«: »Wir gehören zusammen, Yin und Yang.« Das fand sie nicht so gut. Das hat mich ein bisschen geknickt, wobei das ja auch eher so …

 

… eine Fill-Line ist?
Kryptic Joe: Ja, aber in der Hook natürlich!
La Perla: Er hat Fill-Lines in die Hook reingebastelt! (lacht laut) Da hast du doch schon die Überschrift, Alter: ‚Deichkind – Fill-Lines in der Hook‘. Ja, ich mein, das ist halt bei uns so, näh. Da tun wir halt die ganzen Hooklines in die Strophen rein und die Refrains sind einfach nur die Fill-Lines.
Kryptic Joe: So, Porky, deine Gefühle!
Porky: Gefühle, äh … eigentlich geht’s ganz gut. Ab und zu geht mal der Alarmknopf an, der Flucht andeutet. Hatte ich gestern sehr stark. Ich möchte am liebsten einfach wegrennen und alles hinter mir lassen, wenn ich mir so meinen Beruf ansehe. Es gibt aber auch einen Persönlichkeitsstrang in mir, der das sehr gut beruhigt.

 

 

Apropos »Persönlichkeit«: Ihr habt Ferris auf dem neuen Album einen ganzen Song ­gewidmet. Das hat mich ­sehr ­überrascht, denn zum ersten Mal wird ein­ Einzelner bei Deichkind ­hervorgehoben. Dabei ist doch die Marke Deichkind viel größer als einzelne Mitglieder, oder?
Porky: Ich würde das mit Google und Siri vergleichen.
La Perla: Ich glaube, ich habe die ­Anonymisierung bei Deichkind maßgeblich vorangetrieben, um mit Spaß in dem Projekt zu bleiben. Ich brauche einen Rahmen der Anonymität. Außerdem finde ich das Spiel mit Maske und Mystik wichtig in der Popkultur. Das hat sowohl einen unterhaltenden Faktor, ist aber auch ein bisschen Konzeptkunst und trägt dazu bei, dass wir als Gruppe zusammenhalten. Denn Deichkind ist echt eine anständige Belastung – psychisch, seelisch und körperlich. Das ist eine genau überlegte Überlebensstrategie von Deichkind. Ferris ist aber ein Typ, der nicht so Bock auf Maske hat. Der fährt zwar nicht mehr mit der U-Bahn, aber der ist eher beleidigt, wenn er nicht erkannt wird. Deswegen spielen wir damit, er ist jetzt mal im Mittelpunkt.

 

Diese Anonymität ist aber auch für das Publikum reizvoll, oder?
La Perla: Klar, Deichkind spielt ja auch mit dem Rockstar-Mythos. Die Bühne mit dem Rockstar, den ich anhimmeln kann – das macht ja gleich eine Hierarchie auf; da sind zwei Meter Unterschied zwischen dem ­Publikum und dem Pups da oben. Wir ­brechen das ein bisschen auf, lassen die Grenze verschwinden.

 

Ihr habt gerade ein eigenes Label ­gegründet. Wie überlebt man als kleiner Fisch in der oberen Etage der ­Entertainment-Pyramide?
Porky: Es gibt eine Menge Künstler, die das momentan sehr erfolgreich machen. Cro ist auch nicht auf nem Major-Label.
Kryptic Joe: Der hat aber nen ganz anderen Werdegang. Wir haben in den letzten 15 Jahren viele Erfahrungen gesammelt, ob im Live-Bereich oder bei so ner ­Veröffentlichung. Das ist jetzt eine Herausforderung, die ­unseren Horizont erweitert. Ob wir damit auf die Schnauze fallen oder nicht, können wir noch nicht sagen.
Porky: Zeit für ’ne Runde »BBBÄÄÄMMM!«!

Auf uns warten schließlich Befehle wie »Style jemandem die Frisur neu – mit Gel, Creme oder auch Obst«, »Male jemandem ein Arschgeweih« oder »Gib all dein Geld an deinen linken Nachbarn weiter«. Ich gehe mit einer neuen Frisur (Creme!), glücklicherweise (!) ohne Arschgeweih, dafür aber mit 120 Euro von La Perla nach Hause (O-Ton Henning, als ich das Geld zurückgeben will: »Nee, Digger, Spielschulden sind Ehrenschulden. Aber das musst du da jetzt auch reinschreiben, dass du das gewonnen hast, näh!«). ◘

 

Dieses Interview ist erschienen in JUICE #165 (hier versandkostenfrei nachbestellen).

 

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