Battle Of The Ear: XXXTentacion – ? // Review

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(Bad Vibes Forever / Universal Music)

PRO

»Listen to this album if you feel anything. Raw thoughts«, meldete sich Kendrick Lamar im vergangenen August in einem ­seiner seltenen Tweets zu Wort – die Rede war von XXXTentacions ultrakurzem Debütalbum »17«. Ungeachtet von K.Dots Co-Sign stellen sich mir auch beim Nachfolger »?« (oh, welch Ironie) einige Fragen: Habe ich eine moralische Verantwortung, wenn ich die Musik von Jahseh Onfroy höre? Habe ich eine ethische Verantwortung, wenn ich darüber schreibe? Kann ich die Privatperson mit all ihren Irrungen, Wirrungen und etwaigen Straftaten vom Künstler trennen? Fest steht dabei: Trotz des Wissens um die schwerwiegenden Anschuldigungen, wegen derer sich Onfroy noch im Laufe des Jahres vor Gericht verantworten muss, gelingt es mir nicht, seine Musik schlecht zu finden. Wie schon sein Erstling zeigt auch »?«, dass bei X die Kategori­sierung als Ausnahmeerscheinung nicht Plattitüde, sondern Tatsache ist. Im Anschluss an den obligatorischen Audio-Beipackzettel, mit dem er das Album erneut eröffnet, macht der mittlerweile Zwanzigjährige alles: Er schreit sich die Seele aus dem Leib, summt, flüstert und wimmert verzweifelt, produziert Beats, singt und flext im Stile einer eierlegenden Wollmilchsau mit bipolarer Störung. Die Referenzen für seinen Sound scheinen untereinander wenig kompatibel: Nirvanas Grunge, Nu Metal zwischen System of a Down, Korn und Linkin Park, runtergestrippter Trap der neueren ATL-Schule und Post-R’n’B à la The Weeknd. Sogar auf jazzigem Neo-Bummtschack wirkt X neben Featuregast Joey Bada$$ wie ein Beast-Coast-Außenkorrespondent. Im sonischen Mikrokosmos des Florida-Native koexistieren all diese Einflüsse – wenn auch roter Faden und Spannungsbogen unter dem Genre-Potpourri eher leiden. Im luftleeren Raum, wo Vorwürfe des Kidnapping, Zeugen-Mani­pulation und nicht zuletzt die gefährliche Körperverletzung einer schwangeren Frau ausgeklammert werden, müsste man ihm seinen Status als derzeit wichtigster Grenzgänger des Genres zuerkennen. Man muss jedoch kein ausgesprochener Feminist sein, um zu verstehen, dass ein solches Szenario mit der Realität auch in Zukunft kaum zu vereinbaren sein wird. Wer seinen moralischen Kompass bewusst in der Schublade lassen möchte, dem sei vor Genuss von »?« zumindest die Zusammenfassung der Zeugenaussage seines vermeintlichen Opfers und Beantwortung der eingangs genannten Fragen ans Herz gelegt.

Text: Jakob Paur

CONTRA

XXXTentacions rapider Aufstieg zu Ruhm und Rubel war stets begleitet von Gewaltvorwürfen. Genau hinschauen reicht eigentlich, um zu sehen, dass dieser begabte junge Mann die Plattform und den Fame, der ihm gerade förmlich aufgebürdet wird, nicht verdient hat. Er prahlte damit, im Knast einen ­Insassen, den er »Schwuchtel« nannte, blutig geschlagen zu haben. Gewaltausbrüche in der Schule und Jugendhaft zieren seinen Lebenslauf, dazu Raub, Freiheitsberaubung, Körperverletzung. Seine Ex-Freundin beschreibt häufige und brutale Gewalt. #MeToo hat vielerorts Welle gemacht und einige Männer aus ihrem Schmutz geknockt – X wird trotz unbedarften Umgangs mit Gewaltanschuldigungen dennoch weiter zelebriert. Co-Signs von J.Cole, Kendrick und A$AP Rocky, der Hashtag #FreeX flutet Soziale Medien, er kommt aufs Cover der XXL: noch mehr Futter für eine Fanbase, die eher einem Kult gleicht. X verlangt Loyalität, und viele Fans lehnen jegliche Kritik fanatisch ab. Statt zu Hilfe zu raten, gibt es Applaus für die Gewalt. Auf »Moonlight« rammt er Messer in Gedärme – passend zu einem Tweet, in dem er selbiges Prozedere martialisch abfeiert. Gewalt, Sexismus und »Dominanz als Erfolg« bedienen auch im Rap die neoliberale Logik, und Labels wie Capitol ist klar, dass dieser Künstler Geld und Marktanteile bringt. Die Story ist alt: Der Ruf eines Mannes trägt immer noch mehr Wert als das Zeugnis einer Frau. Mann muss sich trotz missbräuchlichem Verh­­­alten keine Sorgen um den Erfolg machen, man(n) deckt sich. Ja, X stammt aus einem Teufelskreis von Vernachlässigung und Gewalt. Die verletzliche Seite seiner Musik macht für viele junge Männer ein extrem wichtiges Gefühlsfenster auf; Gefühle, die ein sexistisches Männerbild von Stärke und Macht ihnen verwehrt. Traurig und verletzt sein ist legitim, seine Freiheit und sein Geld auf Kosten anderer reinzuholen aber nicht. Google Trend Data zeigt, dass die Gewaltvorwürfe seiner Ex fast passgenau mit seinem zunehmendem Fame übereinstimmen. Deprimierend: nix Karriereblock, Imageboost. Statt Verantwortung gibt es Verschanzhaltung. »Kunstfreiheit«, schreit es von den Dächern. Als Frau Rap zu lieben, heißt oft genug, sein eigenes Trauma zu lieben. Auf dem Albumabschluss »Before I Close My Eyes« bittet X um Trost. Gleichgültigkeit wird es nicht richten. Gute Musik allein reicht nicht, um Verständnis einzufahren, wenn viel Aufwand betrieben wurde, das Leben anderer unerträglich zu machen.

Text: Naima Limdighri

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