(Indipendenza/Groove Attack)
Pro
Die Promo-Maschinerie lief auf Hochtouren: Facebook-Fahndung und Internet-Hype, Personalienvertuschung und Teaser-EP, Identitätsoffenlegung und überinszenierte Verkündung des Albumtitels. Schwer, dabei noch unvoreingenommen zu bleiben und den automatisch auslösenden Anti-Haltungs-Reflex in den Griff zu bekommen. Doch es ist gelungen, denn: »Nirgendwer« ist eine tolle Platte geworden. Sierra Kidd demonstriert gewachsene Rap-Skills mit glänzend gesetzten Gesangspassagen, kombiniert seine Fähigkeiten als Texter mit dem richtigen Gespür für die traurigen Themen seiner Generation und hat mit RAF 3.0 einen Produzenten an der Seite, der Sierras Gedankenwelt akustisch perfekt in Szene zu setzen weiß. Sicher, die künstlerische Nähe zu Cro ist nicht von der Hand zu weisen: Beide sind Stimmgeber ihrer Generation, melodische Singsang-Rapper mit einem guten Gespür für Hooks und (zumindest anfänglich und lediglich wörtlich zu verstehen) gesichtslos. Sich selbst bezeichnet Sierra gerne als Anti-Cro, bei dem es eben hinter den Songs auch etwas zu entdecken gäbe. Da ist was dran. Klar, Sierras Lyrics erreichen keine Marianengrabentiefe. Aber für seine gerade mal 17 Jahre wirft der Junge überraschend viele spannende Fragen auf. Man nehme nur mal das grandiose »Knicklicht« – ein Ohrwurm vor dem Herrn, der allein auf musikalischer Ebene hervorragend funktioniert. Aber, und das macht den Unterschied, wer den Buchstaben-Code des Textes entschlüsselt und die Lettern beiseiteschiebt, dem eröffnet sich in der Tat noch ein funkelndes Dahinter voller Doppeldeutigkeiten und Interpretationsspielraum. Der weitere Karriereverlauf des Neu-Berliners wird spannend bleiben. Mit »Nirgendwer« hat Sierra Kidd einen aufhörenerregenden Grundstein gelegt, den so schnell niemand verrückt bekommt – denn der wiegt schwerer als sein Herz.
Text: Daniel Schieferdecker
Contra
Text: Sascha Ehlert