Alles Oder Nix. Selten war der Name eines hiesigen Rap-Labels so programmatisch gewählt wie im Falle von AON. Denn egal ob Xatar, Ssio, Schwesta Ewa, Kalim oder Shamsedin (ehemals Samy) – jeder für sich ist stets aufs Ganze gegangen. All in. Ohne Kompromisse. Und zwar nicht nur beim Einschlagen des jeweiligen künstlerischen Weges, sondern auch beim Abbiegen auf die vielbeschworene schiefe Bahn; eine Abzweigung, die jeder von ihnen bereits genommen hat, und durch die sich die vier Jungs und das Mädel nach wie vor problemlos ohne Navi manövrieren, als sei es das heimische Wohnzimmer – oder eine Knastparzelle. Und auch wenn man Alles Oder Nix Records nach dem Nummer-Eins-Erfolg von Xatars »Baba aller Babas«-Album im Mai dieses Jahres auf seinem Höhepunkt wähnen mag, darf man sich sicher sein: Das war erst der Anfang. Denn allein für dieses Jahr stehen noch ein paar spannende Großprojekte an, die die drei goldenen Buchstaben AON ans hiesige HipHop-Firmament boosten werden als seien sie das Batman-Logo. Zu diesen Projekten gehört ein neues Ssio-Album, Xatars Autobiografie und noch einiges mehr. Aber lest selbst.
Heute steht ein Treffen bei Alles Oder Nix Records an, in deren erst vor kurzem bezogenen neuen Headquarter in der Kölner Neustadt-Süd. Das Büro liegt in einem Hinterhof, in den man durch eine Einfahrt gelangt, die schmaler wirkt als die Hüfte einer durchschnittlichen GNTM-Kandidatin. Dennoch parken Autos im Hof. Beim Einlass in die heiligen Hallen wird man direkt mit der ersten Hausregel vertraut gemacht: »Zieh bitte die Schuhe aus. Anweisung vom Chef.« Wie heißt es im Xatar-Track »Original« doch so schön: »Leute wissen: Wer mit Xatar auf einem Teppich stehen will/Muss die Schuhe auszieh’n, weil das ne Regel ist.« Rap aus dem wahren Leben eben.
Der Baba selbst ist noch nicht da, dennoch ist das Büro voll. Zwei Praktikanten, AON-Produzent Choukri und Labelmanager Sohail (Ssios Bruder) fläzen sich in der Lounge-Ecke mit großem schwarzem Samtsofa. Auch Kalim ist schon da – kurz zuvor mit dem Zug aus seiner Heimatstadt Hamburg angereist. Der Rapper, Jahrgang 1992, ist der bisher letzte AON-Zugang. Xatar hat ihn 2011 noch aus dem Knast heraus unter Vertrag genommen, nachdem er ein paar Songs von ihm übers Telefon gehört hatte. Baba-Style. »Ursprünglich hatte Sohail mich bloß gefragt, ob ich auf Xatars ‚Nr. 415‘-Album einen Part kicken will«, verrät Kalim. »Erst später wurde ich gefragt, ob ich nicht bei AON signen möchte. Und ich sofort: ‚Ja!’«
Es klingelt an der Tür. Samy, der sich nun Shamsedin nennt, kommt rein – der einzige Sänger im Roster von Alles Oder Nix. Shamsedin ist in Bonn mit Xatar aufgewachsen, die beiden waren Nachbarn und kennen sich bereits seit ihrem siebten oder achten Lebensjahr. Seine Anwesenheit überrascht allerdings, hat der 32-Jährige doch noch eine Gefängnisstrafe abzubrummen. Er sitzt für denselben Goldraub ein, für den auch Xatar inhaftiert war – jedoch etwas länger. »Wenn es gut läuft, bin ich in vier bis acht Wochen draußen«, hofft er. »Ich darf jedoch jetzt schon sechs Tage im Monat raus. Deshalb kann ich beim heutigen Interview mit dabei sein.« Man sieht ihm an, wie wichtig es ihm ist, mit dem gesamten AON-Camp heute diesen Termin wahrzunehmen. Der erste mit allen fünf Künstlern überhaupt.
Xatar trifft ein. Eine imposante Erscheinung, man merkt ihm ab dem ersten Augenblick an, dass seine Biografie ein paar Passagen enthält, die dem Durchschnittsdeutschen mindestens so fremd sind wie das Vokabular auf einer beliebigen AON-Veröffentlichung. Er begrüßt alle Anwesenden, lässt sich ins schwarze Samt des Sofas sinken und hält Smalltalk, während er parallel Textnachrichten auf dem Handy verfasst. Wie er so dasitzt, fällt auf, dass Xatar im Kreise seiner Jungs einerseits eine fast schon väterliche Wärme ausstrahlt; ein Gefühl von »solange ich bei euch bin, kann euch nichts passieren«. Andererseits umgibt ihn eine schwer zu beschreibende Aura der Unnahbarkeit, die besagte Passagen seiner Biografie womöglich ähnlich fest verschlossen hält wie die Tür seiner Knastzelle in der JVA Rheinbach, in der er bis Dezember letzten Jahres wegen »räuberischen Angriffs auf Kraftfahrer« saß. Man hat das Gefühl, in ihm schlummert nach wie vor die Gewissenlosigkeit eines Löwen kurz vorm Reißen seiner Beute. Vielleicht liegt das aber auch bloß an seinen authentischen Textzeilen, die ihn als Gangster viel realer wirken lassen als andere Gangstarapper. Weil sie realer sind.
Ssio ist der nächste, der eintrudelt. Eigentlich hat er gerade nur wenig Zeit, weil er am langerwarteten Nachfolger von »Bb.u.m.ss.n« arbeitet – immerhin dem Konsensalbum der Rap-Saison Zwodreizehn. Die Erwartungen sind entsprechend hoch. Dennoch wirkt er gelöst, drückt einen Spruch nach dem anderen und lässt sich den Stress der Produktionsendphase – die Platte soll noch im September/Oktober dieses Jahres erscheinen – nicht anmerken. Wo steckt eigentlich Ewa?
Die Wartezeit auf die Dame des Hauses wird mit Geschichten überbrückt, die fast spannender sind als das anschließende Interview, bei denen jedoch inständig um Diskretion gebeten wird. Gangstergeschichten, die den Authentizitätscharakter sämtlicher AON-Member noch mal auf ein neues Level heben, weil sie eben nicht verkünstelt zwischen Beat und Bass auf dem Plattenteller serviert, sondern vollkommen unverblümt in geselliger Runde zum Besten gegeben werden. Geschichten aus dem Knast im Irak und den markerschütternden Schreien gefolterter Mithäftlinge, über das kreative Ausreizen von Fluchtmöglichkeiten nach einem gelandeten Coup, das Weiterkommen mit Dreistigkeit und das Unvermögen der Obrigkeit, über Ehre und Moral und das, was man wohl gemeinhin einen Gangsterkodex nennt. Aber auch über weitaus alltäglichere Dinge wie Autos, Frauen und Kochen. (Xatar: »Ich mach dir die beste Pizza aus einem Teller und einem Feuerzeug.«) Allesamt Geschichten aus dem wahren Leben.
Mit ein paar Stunden Verspätung, in der Zwischenzeit haben die Jungs bereits einige Flaschen Wodka geleert, kommt auch Ewa endlich an. Der Grund für ihr Zuspätkommen: Sie wurde mit 180 km/h in einer Achtzigerzone geblitzt – und angehalten. Was bei jedem anderen eine horrende Geldstrafe und die Abgabe des Führerscheins nach sich ziehen würde, kostet Ewa nur ein müdes Lächeln – und 35 Euro. Auf die allgemeine Verwunderung reagiert sie mit einer wegwinkenden Handbewegung und dem trockenen Gestus einer Ex-Prostituierten: »Ich weiß, wie man Männer um den Finger wickelt. Ich bin doch nicht umsonst Nutte.«
Xatar, dass man Straßenrap auf Deutsch machen kann, hast du zum ersten Mal bei Azad gesehen, oder?
Xatar: Nein, das war bei »Komm aufn Punkt« von DaFource feat. Meli. Da habe ich zum ersten Mal Kanaken in einem Videoclip gesehen, aber das war noch kein Flash. Flash war erst bei Azads »Napalm«, weil das real war.
War das die Blaupause für das, was ihr später mit Alles Oder Nix aufbauen wolltet?
Xatar: Nein, kein Stück. Wir haben einen ganz anderen Film geschoben – den richtigen Straßenfilm. Denn wir waren ja nur von der Straße beeinflusst, nicht von HipHop. Wir kannten das HipHop-Game gar nicht und haben bei uns in den Straßen lediglich über das gerappt, was wir gesehen haben – und das gab es bis dato noch nicht.
Wart ihr euch von Anfang an sicher, dass ihr mit eurem Style Anklang finden werdet?
Xatar: Nein, gar nicht. Wir haben lange daran gezweifelt, ob das funktionieren wird. Wir haben befürchtet, dass es zu echt ist.
Wann habt ihr zum ersten Mal gemerkt, dass Leute darauf positiv reagieren?
Xatar: Immer, wenn wir das Leuten in Köln/Bonn gezeigt haben, sind die darauf ausgeflippt und wollten die Sachen haben. Ewa auch – die wollte das auf dem Strich pumpen. (grinst)