Zehn Jahre ist es auf den Tag genau her, dass eine kleine Cessna auf dem Flughafen von Marsh Harbour, Bahamas, mit neun Insassen abstürzte. Alle neun wurden getötet. Eine von ihnen war Aaliyah Dana Haughton, das schönste Versprechen, das die amerikanische Popkultur niemals einlösen durfte.
Auch wenn Aaliyah zum Zeitpunkt ihres Todes erst 22 Jahre alt war, hatte sie bereits mehr erlebt, als die meisten Menschen während ihrer beschränkten Zeit auf der Erde erwartet. Mit 10 Jahren trat sie beim amerikanischen »DSDS«-Pendant »Star Search« auf, mit 12 unterschrieb sie einen Major-Plattenvertrag, mit 14 nahm sie ihr Debütalbum auf, mit 15 heiratete sie R. Kelly, mit 17 veröffentlichte sie eine Platte, die ein ganzes Genre neu definierte: »One In A Million«. Produziert von Timbaland und Missy Elliott, bei deren Post-Swing Mob-Outfit sie eine musikalische und persönliche Heimat gefunden hatte. »Age Ain’t Nothing But A Number« hatte sie bereits mit 14 gesungen, und kein Kalenderspruch hätte besser auf ihr Leben und Schaffen zutreffen können. Sie machte alles ein paar Jahre oder gleich Jahrzehnte zu früh für den Durchschnitt – zynisch könnte man sagen: Kein Wunder, dass sie bereits mit 22 Jahren starb.
Aaliyah hatte jedoch noch lange nicht alles erreicht, wozu sie imstande war. Als sie mit ihrem Regisseur, zwei Stylisten, zwei Labelmitarbeitern und ihrem Bodyguard von den Bahamas zurück nach Florida fliegen wollte, hatte sie gerade ihr Video zu »Rock The Boat« abgedreht, der zweiten Single ihres selbstbetitelten dritten Albums, das heute als unbestrittener R&B-Klassiker gilt und in der Woche nach ihrem Tod auf Platz eins der Billboard-Charts stieg.
Vor ihrem Tod hatte Aaliyah zwei erfolgreiche Spielfilme abgedreht, vier weitere Rollen waren bereits unterschrieben, u.a. eine in »Matrix Reloaded«. Nicht auszudenken, welche Ausmaße die Karriere der außergewöhnlichen Sängerin, Tänzerin und Schauspielerin noch hätte annehmen können. Sie hatte mit »Aaliyah« ihr musikalisch reifstes und spannendstes Album aufgenommen und machte sich daran, bald weitere Grenzen einzureißen, indem sie mit Musikern wie Trent Reznor von Nine Inch Nails zusammenarbeiten wollte. Sie stand erst ganz am Anfang einer Weltkarriere und wurde jäh aus dem Leben gerissen, weil das Flugzeug, in dem sie zurückfliegen sollte, hoffnungslos überladen und der Pilot mit Drogen vollgepumpt war.
Aaliyah war nicht nur die schönste Frau der »Video-Ära« (VH1) mit einer engelsgleichen Sopranstimme, sie war auch die bestmögliche Kombination mehrerer Welten. Geboren in New York, aufgewachsen in Detroit, zu Hause in der Welt. Einerseits süß und unschuldig, andererseits auch geheimnisvoll und interessant. Nicht selten sah sie aus, als trage sie die oversized HipHop-Klamotten ihres Bruders auf, doch wirkte sie so sexy darin, dass Tommy Hilfiger sie als Model für seine Boxershorts-Kampagnen buchte. Später bedeckte sie ihr linkes Auge auf Pressefotos und bei öffentlichen Auftritten oftmals mit einer Haarsträhne, so wie es die mysteriöse Schauspielerin Veronica Lake in den Vierzigern populär gemacht hatte. Aaliyah schien aus gutem Hause zu kommen, machte jedoch den Eindruck, als könne man mit ihr nicht nur Pferde stehlen. Sie war die perfekte Fantasie-Bonnie für jeden pubertären Möchtegern-Clyde.
Die Musik, die dieses Mädchen zusammen mit R. Kelly, Timbaland und dem ebenfalls verstorbenen Songwriter Steve »Static Major« Garrett zwischen 1994 und 2001 erschuf, kann man nur als magisch bezeichnen. Ihr Einfluss ist im Jahr 2011, zehn Jahre nach ihrem Tod, stärker denn je. Nur zwei Beispiele: Drake erklärte heute morgen in einem Statement via Twitter, dass er vor jedem seiner Konzerte ihre Musik hört. Und Kendrick Lamar widmete ihr auf seinem aktuellen Über-Mixtape »Section.80« den Song »Blow My High«, in dem sogar ein Originalzitat der Sängerin aus ihrem Song »4 Page Letter« verwendet wird.
Drake war 15 und Kendrick 14, als das Flugzeug abstürzte. Sie sind nur zwei von Millionen, die Aaliyah mit ihrer Musik nachhaltig beeinflusste.
Ruhe in Frieden, Baby Girl.