Wie ein Tornado ist Luciano vergangenes Jahr über die Szene hinweggefegt. Die ungeschönte Blockästhetik seiner Straßenerzählungen hievte den Berliner innerhalb weniger Monate in die Deutschrap-Bundesliga. Dem Hype und millionenfachen Klickzahlen zum Trotz, bleibt die Person hinter der Deutschrap-Dampfwalze im Dunkeln – keine Interviews, keine Pressetermine. Den Erwartungen für sein im November erscheinendes Debütalbum dürfte das keinen Abbruch tun.
Berlin 2016, Tanz in den Mai. Kreuzbergs Straßen sind vollgestopft mit Feierwütigen aus aller Welt. In einem Hinterhof nahe der Prinzenstraße findet eine HipHop-Jam statt. Die letzten Sonnenstrahlen schimmern durch die Bäume, die Stimmung ist ausgelassen. Menschen tanzen zu smoothem Prä-Millennium-HipHop und Zwonuller-R’n’B, das Barbecue verbreitet einen würzigen Duft, Gin Tonic geht über die Theke. Hypebiester, Medienmenschen, ein paar 361er-Hoodboys und Laufkundschaft – das Publikum ist an diesem Nachmittag angenehm divers. Als Live Act sind für den Abend die juvenilen Energiebündel Fruchtmax & Hugo Nameless angekündigt, die mit »WKMSNSHG« gerade einen Untergrundhit gelandet haben. Außerdem: Die Locosquad um Luciano, von der bisher wenig bis gar nichts bekannt ist.
Als die Sonne fast verschwunden ist, sich das Gelände langsam leert und der Locosquad-DJ Burr Lean an die Decks tritt, steht plötzlich ein Typ mit dunklem Teint, Nike-Hoodie und Bauchtasche am Mic, die Cap tief ins Gesicht gezogen. Ohne Vorwarnung wummert ein drückender Beat aus den Boxen. Es geht von Null auf Hundert innerhalb weniger Bars. Ohne Bühne, nur mit einem Kabelmikro bewaffnet, ballert Luciano messerscharfe Punchlines in die dezimierte Menge. Das einzige Licht kommt von Handybildschirmen, die hektisch hin- und herzucken. »Ich rippe, ich spliffe/Komm nicht mit Amcas, denn ich ticke/Adrenalin, Bruder – beiß auf die Lippe«, spuckt Luciano auf ein treibendes Grime-Brett. Sein Blick ist auf den Boden gerichtet, während er maschinengewehrartig Zeile für Zeile ins Mic schießt. Um ihn herum hat sich ein Kreis gebildet, ungefähr zwanzig junge Männer lassen sich von der Energie treiben. Die Szenerie wirkt wie aus einem französischen Streetrap-Video. Nach etwa vierzig Minuten energiegeladener Performance steht Luciano an der Bar, einen Becher Jacky-Cola in der Hand, umringt von ein paar Leuten, die Fotos machen wollen. Hände werden geschüttelt, Kontaktdaten ausgetauscht. Interesse an Luciano iz da.
Ein Jahr später ist Luciano auf dem besten Weg, die Beletage des hiesigen Rapgeschäfts zu entern. Nach dem beeindruckenden Debüt-Mixtape »12812«, das Luciano im ungleichen Duo mit Nikky Santoro einmal mehr als Zugpferd der Locosquad herausstellte, folgte vor einigen Monaten sein Soloprojekt »Banditorinho«. Ein Post auf seiner Facebook-Seite vom September zeigt den Schriftzug »Universal« in das Locosquad-Logo integriert. Die einfache Bemerkung dazu: #Deal. Die Späher der Musikindustrie sind auf den Berliner aufmerksam geworden und haben sich seine Dienste in weiser Voraussicht gesichert. Dass die großen Spieler des Systems in Luciano den nächsten Deutschrap-Star sehen, ist nicht zuletzt dem Timing geschuldet, mit dem er ins Game crashte. Zu einer Zeit, in der sich HipHop in monotonen Trap-Imitaten auf der einen und stumpfem 90-BPM-Straßenrap auf der anderen Seite erschöpfte, kam Luciano mit seiner Mixtur aus Franz-Trap-Anleihen, multinationalem Vokabular und schulterkreisenden Trademark-Moves. Das Ergebnis sind mehrere Millionen Klicks für seine Videos, ein splash!-Auftritt und der besagte Majordeal. Der ist womöglich dafür verantwortlich, dass im Zuge seines bald erscheinenden Debütalbums »Eiskalt« keine diesbezüglichen Pressetermine stattfinden sollen. Die Promo beschränkt sich auf vorab releaste Video-Singles, Instagram Storys (gegrilltes Fleisch, Hennessy-Flaschen, Geflexe und Loyalitätsbekundungen) und den standardisierten Hinweis auf die Deluxe-Box. Das Phänomen Luciano soll ein solches bleiben, mit Ausschlachtung seiner Privatsphäre via Social Media hält er sich zurück. Dass Luciano in Berlin-Schöneberg aufgewachsen ist und später im Bezirk Moabit gewohnt hat, ist eine der wenigen Informationen, die man auf den Straßen aufsammelt.
Kommt Erfolg, kommt Kritik. In den Kommentarspalten macht sich hier und da Unmut über den Erfolg des Locosquad-Zugpferds breit. Keine große Hate-Welle zwar, aber ein Vorwurf ist immer wieder zu hören: Luciano fahre zu eingleisig, und das Gesamtkonzept ähnele zu sehr dem von Vertretern des französischen Banlieu-Sounds. Durchstöbert man das Netz, findet man nicht selten Biting-Vorwürfe: Kalash Criminel, Kaaris und vor allem Niska sind Namen, die immer wieder mit Luciano in Verbindung gebracht werden. Seine rohe Soundästhetik weckt tatsächlich Assoziationen zu den genannten Rappern, seine Kunst funktioniert nach dem Vorbild der Vorstadtjungs aus Paris und Marseille: Blockkulisse, Trainingsanzüge und Fußballreferenzen sowie eine aggressive Delivery, die sich in AK-47-Flows und rohem Adlib- Gebrüll äußert. Das mögen berechtigte Anmerkungen sein, die allerdings ins Leere laufen, schaut man sich die Raplandschaft in D an. De facto findet man keinen anderen Straßenrap-Protagonisten, dessen rohe Härte eine so authentische, düstere Tiefe bündelt, die lyrische Banalitäten in Gänsehautmomente verwandelt. Lucianos Songs sind hochprozentige Straßencocktails. Dabei steht das ungeschönt Grobe zwar im Vordergrund, wird aber durch melodisch-rhythmische Sequenzen immer wieder aufgebrochen – ein Umstand, der auf Lucianos mosambikanischen Background zurückzuführen ist. Vergleichbare Artists sucht man vergebens. Der Hamburger Kalim, der Luciano auf sein aktuelles Album einlud, ist einer der wenigen, dessen Songs Parallelen zu Lucianos Gossen-Sound aufweisen – auch wenn der AON-Rapper im Vergleich der vielschichtigere Künstler ist. Gerade die Gradlinigkeit, die Kritiker dem Berliner als Monotonie auslegen wollen, macht ihn aus. Keine Kompromisse.
Sein anstehendes Debüt lässt hoffen, dass die harte Schale durch die einnehmenden Melodien aufgeweicht wird, die auch schon »Anders nicht so wie du« oder »Hawaii« zu Hits machten. Seiner Credibility wird das nicht schaden, im Gegenteil. Wieso nur noch vom Struggle auf Berlins Straßen reden, wenn man sich mittlerweile mehr leisten kann als den Billigfusel? Lucianos Musik wird ohnehin immer der Soundtrack für den Spätkauf sein, nicht der für das Establishment. Ihre geballte Potenz entwickeln die wilden Kiez-Geschichten sowieso nur im passenden Setting: auf den Straßen Weddings, Schönebergs oder Moabits. Oder eben in Kreuzberger Hinterhöfen.
Foto: Universal Music / Urban