Kings Of HipHop: Lil Wayne // Feature

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Lil-Wayne

Im Sommer 2011 erscheint in den USA Lil Waynes neuntes Studioalbum »Tha Carter IV«. Er ist gerade aus Rikers Island heimgekehrt und klingt erstaunlich aufgeräumt, sehr abgeklärt und auch ein bisschen langweilig. Hätte er mal besser nicht mit den Drogen aufgehört, sagen die Leute. Eineinhalb Jahre später: Lil Wayne wird mit Krampfanfällen ins Krankenhaus eingeliefert. Die Drogen, sagen die Leute, hätte er mal besser damit aufgehört. Lil Wayne selbst könnte sich für beides nicht weniger interessieren. Das sagt alles aus über Dwayne Michael Carter Jr., diesen wandelnden Widerspruch aus Hollygrove in New Orleans, Louisiana. Er ist unberechenbar, impulsiv, ignorant und unbedingt brillant. Man kann sich das Maul über ihn zerreißen oder ihn bedingungslos vergöttern, beides mit gewissem Recht. Nur fassen kann man ihn nicht, egal von welcher Seite man sich ihm nähert. Dennoch: ein Versuch.

Dwayne Carter wird 1982 in New Orleans geboren. Mit acht Jahren beginnt er, Texte zu schreiben. Mit neun schließt er sich den lokalen Hustlern Bryan »Baby« Williams und Ronald »Slim« Williams und deren Crew Cash Money an. Mit elf nimmt er seinen ersten Song für das Label auf. Mit 14 wird er ein Teil deren Supergroup Hot Boy$. Mit 15 ist er ein Superstar. So zumindest geht die offizielle Version. In Wahrheit aber ist es ein bisschen wie mit jenen afrikanischen und brasilianischen Fußballspielern, die immer genau so alt waren, wie sie gerade sein mussten, um in dieser Erstligatruppe mitzumachen oder jener Nationalauswahl zu kicken. Vielleicht ist Lil Wayne tatsächlich 30 Jahre alt. Vielleicht ist er aber auch schon genauso alt, wie er aussieht. Man weiß es nicht genau und man will es eigentlich auch nicht so genau wissen. Denn was wären die Hot Boy$ gewesen ohne diese irre Geschichte von dem irre jungen Jungen aus Hollygrove? Und wer will einem Mittdreißiger dabei zuhören, wie er über Skateboards und Schwänzelutschen redet?

Es passt zu Lil Wayne, dass sich nicht einmal die grundlegendsten biografischen Informationen einwandfrei verifizieren lassen. »I Am Not A Human Being« nannte er 2010 eines seiner Alben und egal, was er damit tatsächlich meinte, er traf den Nagel ziemlich genau auf den Kopf. Lil Wayne sieht aus wie kein anderes menschliches Wesen, er klingt wie kein anderes menschliches Wesen und er benimmt sich wie kein anderes menschliches Wesen. Er hat außerdem drei Väter (seinen leiblichen Vater Dwayne Sr., der die Familie verließ, als er zwei Jahre alt war und dessentwegen er das ‘D’ aus seinem Namen entfernte; seinen ermordeten Stiefvater Rabbit, den er als Tattoo auf seinem von Tinte überdeckten Körper trägt; und seinen Adoptivvater und Labelboss Birdman, der ihn einst von der Straße holte und der ihn sogar in der Öffentlichkeit auf den Mund küssen darf, ohne dabei »No Maxwell« sagen zu müssen).

Natürlich hat er drei Väter. Alles andere wäre nun wirklich erstaunlich.

Wenn man sich die 2009er-Doku »The Carter« von Quincy Jones III ansieht – und das sollte man unbedingt machen, am besten sehr ­regelmäßig – fällt einem neben dem wirklich erstaunlichen Konsum von Weed und Mischgetränken aus immensen Plastikflaschen und Styropor­bechern vor allem auf, dass Lil Wayne kaum ein normales Gespräch führt, auch nicht mit seinen Freunden und Kollegen. Meistens schweigt er, selbst wenn um ihn herum ein Jubelinferno losbricht, weil er gerade mal eben über Nacht Platin gegangen ist. Und wenn er mal erzählt, etwa wie ihm mit elf Jahren seine Unschuld genommen wurde, dann hat das eher was von einer Performance. Er steht in der Mitte des Raums, alle Blicke auf ihn gerichtet. Er wirft den Kopf in den Nacken, streckt die Arme von sich, dreht sich, tänzelt, legt immer wieder Kunstpausen ein, um dann eine sichere Punch­line heimzufahren. »I walked out that bitch, I felt like I had killed five niggas, ran through three banks … I was a different man after that day.« Kunstpause. »I was Lil Wayne.«

Man braucht keinen Hochschulabschluss in Psychologie, um zu erkennen, dass hier jemand Zuflucht in der Musik gefunden hat, seinen Kanal und seine Rolle in einer Welt, die für einen Außenseiter wie ihn eigentlich keinen Platz bereithält. Für einen Typen mit Brille, permanentem Stimmbruch und guten Noten, der auf dem Schulhof seiner renommierten High School aber dennoch Gras an die reichen weißen Kids vertickt und in seinem Spind für alle Fälle eine Knarre aufbewahrt. Für einen leicht vergeistigten, frühreifen Einzelgänger, der nach der Theaterprobe mit seinen älteren Freunden aus der Hood an der berüchtigten Monroe Street abhängt. Für einen Jungen, der in das Eliteförderprogramm seiner Schule aufgenommen wird, sich aber beim Herumspielen mit einer 9mm aus purer Langeweile nur wenige Zentimeter neben das Herz schießt, weil er mit seinen Gedanken nie wirklich bei der Sache ist. Für einen Mann, der schon mit 15 Vater wurde und dennoch nie lernen wollte, Verantwortung zu akzeptieren, weil diese Kategorien schlicht nicht zu greifen scheinen in seiner Parallelwelt. Das ist das andere Bild aus »The Carter«, das wirklich hängenbleibt: Wie er in einem austauschbaren Hotelzimmer in Amsterdam sein Mikrofon aufbaut, den Fernseher auf eine x-beliebige holländische Reality-Show einstellt und einfach aufnimmt – Zeile für Zeile, Song für Song. »Ich wollte nie spielen gehen. Kein Verstecken, kein Fangen, nix davon. Ich habe den ganzen Tag ‘Star Search’ und ‘Showtime At The Apollo’ gekuckt und davon geträumt, Rapper zu werden.«

Für Casting-Shows und Tagträume ist heute keine Zeit mehr. Das Verlangen, seine Gefühle und Gedanken in 16 Takte zu kanalisieren, hat sich zu einer Arbeitswut ausgewachsen, die jeglicher Beschreibung spottet. In Lil Waynes Leben gibt es immer ein Hotelzimmer, immer eine Reality-Show und ganz sicher immer ein Mikrofon. Ein kurzer CMD+Shift+A-Selbstversuch in der iTunes-Bibliothek der Verfassers weist nicht weniger als 5,25 GB als Wayne-Welt aus, was bei einer durchschnittlichen Bitrate von 192 kbit/s einer Gesamtspielzeit von zwei Tagen, 13 Stunden, drei Minuten und 13 Sekunden entspricht. Darunter mögen der eine oder andere Remix, die eine oder andere Screwed-&-Chopped-Version und sogar die eine oder andere Doppelung sein. Aber umgekehrt ist diese Liste natürlich alles andere als vollständig; Komplettisten und Katalogisierer stellt der Mann selbst im Zeitalter von Discogs und Datpiff vor schier unlösbare Aufgaben. Manchmal scheint es, als würden täglich mehr neue Weezy-Tracks erscheinen, als man selbst bei durchgehendem Einsatz und gänzlichem Verzicht auf Schlaf anhören könnte – so als würde das selbsterklärte Monster rund um die Uhr in Übergeschwindigkeit aufnehmen und die Musik anschließend auf ein für Normalsterbliche konsumierbares Standardtempo ­herunterpitchen, um so immer mehr Vorsprung auf all jene zu gewinnen, die verzweifelt versuchen, ihn zu fassen zu bekommen. Das stimmt so vermutlich nicht. Aber nach jedem menschlichen Ermessen sprechen wir hier von einer ganzen Menge Musik; Mixtape-Titel wie »The Drought Is Over 6 (The Reincarnation)« erübrigen letztlich jeden Kommentar.

Selbst wenn man sich auf offizielle Albumveröffentlichungen beschränkt, ist es schwer, das Schaffen Lil Waynes halbwegs einzuordnen. Zu ausgefranst und zerfahren ist sein Œuvre, von den frühen Alben mit B.G. (als B.G.z – Lil Wayne firmierte damals noch als Baby D aka The Artist formerly known as Shrimp Daddy, Klammer auf, Ausrufezeichen, Klammer zu), B.G., Juvenile und Turk (als Hot Boy$) sowie zusätzlich Birdman und Mannie Fresh (als Cash Money Millionaires) über die ersten Soloalben der goldenen Cash-Money-Ära um die Jahrhundertwende bis hin zu den aus etwas undurchsichtigen Gründen als solche gekennzeichneten Langspielserien »Tha Carter«, »I Am Not A Human Being« und »The Rebirth« (ein zweiter Teil soll angeblich ebenso in der Mache sein wie »The Carter V«). Da muss man noch nicht mal in die Untiefen der Mix­tapes, Gastverse und nie vollendeten Kollaboprojekte einsteigen, um ein wenig die Orientierung zu verlieren. Im Grunde wird einem schon beim Lesen schwindelig. Uff.

Eine interessante Nebenhandlung in Lil Waynes sensationell verworrener Biografie ist auch unter diesem Gesichtspunkt die »Tha Carter«-Quadrologie. Die umschließt nämlich nicht nur sein bestes (»III«) sowie sein vermutlich schlechtestes Album (»IV«), sondern steht beispielhaft für seine schrittweise Metamorphose vom Durchschnittsrapper zum verkannten Poeten zum expressionistischen Meister (und zurück).

Um das zu verstehen, muss man die Ausgangssituation von Lil Waynes explosionsartiger Entwicklung der letzten zehn Jahre kennen. Man tut ihm nicht allzu Unrecht, wenn man feststellt, dass der kleine Mann mit den dichten Dreads eingangs seiner Karriere nur als Teil eines größeren Ganzen funktionierte. Als Mädchenfavorit bei den Hot Boy$, der noch vor dem Wu-Tang Clan finstersten Boygroup aller Zeiten. Als Balance und Beigabe zu den voluminösen Post-Bounce-Krachern des damaligen Cash-Money-Hausproduzenten Mannie Fresh. Als jugendlich-greller Gegenpol zur selbstgewissen Eleganz von Juvenile, dem ruppigen Straßencharme von Turk und der trippigen Entrücktheit von B.G. Als Juvenile 1998 mit »400 Degreez« vierfach Platin einfuhr und zum ersten echten Star des Labels wurde, war Lil Wayne allenfalls eine Randerscheinung. Er hatte keine Hits wie »Ha« und »Back That Azz Up« von Juvenile oder »Bling Bling« von B.G. Er hatte noch keine Reime, die Freunden von vielfach verschachteltem Wortwitz ein anerkennendes Nicken abgerungen hätte. Er hatte keine eigenen Fans. Er hatte nur den Rücken von Birdman, den Sound von Mannie Fresh und die richtigen Freunde, die mit ihrer ganz neuartigen Version von Gangsta-Rap gerade von der Provinz aus die Rap-Welt aufmischten. Auch 2002, als dem Zugpferd Juvenile der heimische Stall der als nicht eben großzügig verschrienen Williams-Brüder längst zu eng geworden war, hatte Lil Wayne wenig anzubieten, um die ihm von Baby angedachte Rolle als Lückenfüller und Fackelträger auszufüllen. Sein Album hieß in Anspielung auf den abtrünnigen Ex-Star »500 Degreez«. Aber es war allenfalls lauwarm.

77 Million Degreez

Mit dieser zwar vergoldeten, aber dennoch schmerzlichen Niederlage gegen den einstigen Mitstreiter begann die erstaunliche Transformation des jungen Dwayne zum jungen Carter, den der alte Carter irgendwann als »my heir« bezeichnen sollte, als seinen rechtmäßigen Erben. Was genau in jener Zeit passierte, dazu hat sich Lil Wayne nie umfassend geäußert. Wenn man ihn darauf anspricht, wie er sich der eisernen Genregrundregel, wonach Rapper nie besser, sondern allenfalls älter werden, widersetzen und nach fast zehn Jahren eine Leistungsexplosion epischen Ausmaßes hinlegen konnte, zuckt er in der Regel nur müde mit den Schultern. Sein größter Antrieb sei eben, dass die Fans permanent von ihm erwarteten, immer besser zu werden, und das sei doch nun wirklich der schönste Antrieb überhaupt. Eigentlich fehlt nur, dass er zum Abschluss noch auf das schwere Spiel am nächsten Samstag in Paderborn oder Aue verweist.

Die Hintergründe werden also vermutlich auf ewig sein Geheimnis bleiben. Aber 2003 wurde Lil Wayne plötzlich besser. So richtig viel besser. Hatten seine »game«/«fame«- und »paper«/«paper«-Reime auf »500 Degreez« noch reichlich geholpert, ging er auf dem 2004er-Mixtape »Da Drought« schon mit der Eleganz eines jungen Gottes über die Instrumentale, die ihm kein Ghostwriter dieser Welt auf den Leib hätte schreiben können (um dem reflexartigen Vorwurf all jener Kritiker den Wind aus dem Segeln zu nehmen, denen die Sache naturgemäß nicht ganz koscher vorkam). Lil Wayne war nun tatsächlich so heiß wie er mit dem Albumcover zu »500 Degreez« im obligatorischen Proto-Photoshop-Stil zu insinuieren suchte. Und mit »Carter I« wollte er allen beweisen, dass er mehr war als nur die adoleszente Ausnahmeattraktion in der von Baby und Slim nach straffen betriebswirtschaftlichen Regeln organisierten Unterhaltungsfabrik Cash Money Records: ein ernstzunehmender MC nämlich, mit Rhymes und Flows und Styles und was man halt so braucht.

Auf »Carter II« erklärte er sich schließlich zum »Best Rapper Alive« und brachte sich klammheimlich in Stellung für den ganz großen Wurf: Es war, als müsse er sich erst beweisen, um sich zu befreien. Als brauche er die Gewissheit, allgemein anerkannte Wertarbeit abgeliefert zu haben, um schließlich alles Handwerkliche, alles Irdische hinter sich zu lassen. Der Münchner Musikjournalist Jonathan Fischer mag einst aus einem Hotelzimmer geworfen worden sein, als er im Interview partout nicht abrücken wollte von der Idee, Weezys Lyrik trage die Geschichte seiner Heimatstadt in sich. Aber Unrecht hatte er nicht. Der Wayne von »Carter III« ist tatsächlich ein Jazzmusiker, der alle Regeln ignoriert und im unbändigen Chaos der Assoziationen und Gedankensprünge seine ganz eigene Ordnung findet. Der Silben gurgelt, Buchstaben nach Belieben verschluckt und Ausrufezeichen ausspuckt. Der seinem Talent freien Lauf lässt, anstatt sich an tradierten Schemata abzuarbeiten.

Dabei ist »Tha Carter III« eine durchaus zerfahrene Angelegenheit und entzieht sich als Klassiker jeglicher Einordnung. Weder besticht es durch eine Reduktion auf die Essenz noch durch ein völlig neues Klangbild. Es ist einfach nur auf eine sehr gelassene Weise ambitioniert und brillant, fast perfekt exekutiert. Es hat die verrückten Beats von Kanye West, Swizz Beatz, Bangladesh und Alchemist (gepickt unter offensichtlichem Einfluss von Waynes damals brandneuem Management Hip Hop Since 1978 um die langjährigen Jay-Z-Vertrauten G. Roberson und Kyambo »Hip Hop« Joshua). Es hat die Monsterhits wie »Lollipop« und »A Milli«. Es hat ein knapp zehnminütiges Spoken-Word-Outro. Und es hat ein dreiminütiges Rap-Intro, das schlicht zum Besten gehört, was auf diesem Gebiet je geleistet wurde. »Swallow my words, taste my thoughts/And if it’s too nasty, spit it back at me.«

Hinzu kam, dass sich Lil Wayne in den Monaten vor der Veröffentlichung durch diverse Leaks und die beiden heute kanonischen Mixtapes »Dedication 2« und »Da Drought 3« ein ­monströses Moment aufgebaut hatte. Er veröffentlichte gefühlt jede Woche ein neues Bootleg-Album in Doppel-LP-länge – und vermittelte dem Volk dennoch das Gefühl, dass jetzt schön langsam aber wirklich mal wieder was von Lil Wayne kommen könnte. Angebot und Nachfrage schaukelten sich in dieser Phase permanent gegenseitig hoch, ganz so, wie er das bei den beiden großen Vielveröffentlichern seiner Heimatstadt, Baby und Master P, gelernt hatte. Nur hatte der Wahnsinn keine Methode, sondern war genau das: Wahnsinn. Die Trash-Ästhetik von No Limit und das fragwürdige Geschäftsgebahren von Cash Money ersetzte er durch scheinbar nicht enden wollende assoziative Reimketten, eine feine doppelbödige Ironie und einen oft nicht nachvollziehbaren, aber umso intensiver spürbaren, fiebrigen Flow mit der bedrohlich brodelnden Energie eines Vulkans kurz vor dem Ausbruch. Sein Lauf war fast physisch greifbar. Wenn er nicht im Studio war, war er im Studio. Und wenn er in einem Hotelzimmer in Amsterdam war, war er auch im Studio. Pausen? Pah. Promo? Warum? Als »Tha Carter III« im Juni 2008 nach diversen Leaks, Verschiebungen und sonstigen Planänderungen endlich erschien, verkaufte es sich alleine in der ersten Woche über eine Million mal – und das obwohl es zu diesem Zeitpunkt bereits seit einigen Wochen fast komplett im Netz stand. Einfach so, weil Lil Wayne gerade der beste Rapper der Welt war.

Das ist das Erstaunlichste an diesem vermutlich größten Hype der Post-Fifty-Ära: Dass er nicht auf Gimmicks und Geschichten basiert, sondern fast ausschließlich auf Talent. Lil Waynes Einbruch in die Domäne der Massenkultur ist auch insofern erstaunlich, als er im Grunde nie massentauglich war. Seine krächzende Stimme hat eigentlich nichts verloren im Einerlei der Formatradios. Sein Verständnis von ­Melodie entstammt nicht den Rechenschiebern der Billboard-Arithmetiker aus der Guetta/Will.I.Am-Welt, sondern einem unbestimmten ­Bauchgefühl. Und seine größten Hits sind nicht im Songwriter-Bootcamp entstanden, sondern im Vollrausch. Es ist fast umgekehrt: Wann immer Lil Wayne in seiner Karriere zu lange am Auto-Tune schraubte oder sogar an der Gitarre zupfte, um es seiner erklärten Lieblingsband Nirvana gleichzutun (und dem Papa nebenbei noch deren Fanbase zu klären), hatte er nicht ansatzweise den Erfolg, den er mit vergleichsweise speziellen und sperrigen Rap-Songs wie »Go DJ«, »Fireman«, »I Feel Like Dying«, »6 Foot 7 Foot« oder auch »I’m On One« hatte. Letztlich taugt er noch nicht mal als Postermotiv: Mit seinen seltsam abstehenden Zähnen, seinem Doppelkinn unter dem volltätowierten Mondgesicht und seinem etwas kuriosen Kinderbauch entspricht er jedenfalls schwerlich den gängigen Rollenbildern von Usher und Chris Brown bis Wiz Khalifa oder auch Rick Ross.

No New Friends

Auch mit der gemeinhin als unabdinglich angesehenen Öffentlichkeitsarbeit hat es Lil Wayne nicht allzu sehr. Das Bild vom stetig aufnehmenden Rapper mit dem Studio im Handgepäck und dem Arbeitsethos eines hungernden Street-Hustlers mag mittlerweile ein Klischee sein und von braven Fleißbienchen wie Kendrick Lamar bis zum Erbrechen bemüht werden. Aber Lil Wayne zieht es tatsächlich mit aller Konsequenz und allen Konsequenzen durch. Sein Leben spielt sich nicht auf Promipartys und Presseterminen ab, sondern in Studios und Hotelzimmern. Auf Tour verlässt er den Nightliner im Grunde nur zu den Shows und das auch eher widerwillig: Wenn Birdman in Mailand Ferraris shoppen geht, nimmt er lieber noch einen kräftigen Schluck Sirup-Sprite (und dann direkt drei Songs auf). Das Draußen ist ihm dabei herzlich egal, an Realität war Lil Wayne noch nie besonders interessiert. So erklärte er einst freimütig in einem Interview, noch nie in seinem Leben ein Gramm Koks verkauft zu haben – obwohl er quasi ständig darüber rappt. Auch im Umgang mit Skateboards, Geld und Groupies, seinen drei gegenwärtigen Lieblingsthemen, sieht man ihn tatsächlich eher selten, sagen die, die ihm nahestehen. Dennoch fallen ihm immer wieder neue Songs dazu ein, manche furchtbar fad wie »She Will« und manche herrlich ignorant wie »Rich As Fuck«. Das macht ihn bewundernswert, aber auch unnahbar und vielen nicht besonders sympathisch. Die eingangs erwähnte Episode, wie er mal einen Interviewer mitten im ­Einbahnstraßengespräch mit den Worten »I don’t like you« hinauskomplimentierte, ist legendär, aber nur eine von vielen Anekdoten aus dem Leben eines Eigenbrötlers, der erkannt hat, dass er sich von den Regeln dieser komischen ­Gesellschaft nichts kaufen kann. Und dass er sich im Grunde ja ohnehin nichts kaufen will.

Es ist eine letzte Volte in der eigentümlichen Geschichte des Dwayne Carter, dass er den großen Lebenstraum seines Vaters gleichzeitig erfüllt und ad absurdum geführt hat. Der sagte einst, er habe mit seinem Label und Studio einen Ort schaffen wollen, der die Jungs von der Straße fernhalten und gleichzeitig reich machen könne. Reich ist sein verbliebener Junge längst, und vor den Fallen der Straße muss er sich nicht mehr fürchten. Den Ort aber hat er nie mehr verlassen.

Text: Davide Bortot

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