Dizzee Rascals Verhältnis zu Mainstreamerfolg, Szeneloyalität und Ausverkauf ist nie so einfach gewesen, wie ein oberflächlicher Blick auf den Verlauf seiner Karriere vermuten ließe. Auch »Tongue’n’Cheek« und sogar »The Fifth« enthielten abseits der grellen Singles Rap-technische Machtdemonstrationen und riskante Produktionen, die es mit der Wortgewalt und Weirdness von Dizzees frühen Tracks aufnehmen konnten. Und schon für sein Debütalbum, das im Juli 2003 veröffentlichte »Boy In Da Corner«, traf der MC Entscheidungen, die ihm Sellout-Vorwürfe einbrachten – weil sie auf die spätere Ausschöpfung seines offensichtlichen kommerziellen Potenzials abzielten. Das grenzenlose Talent für Texte und Beats schien Dizzee Rascal zum prädestinierten Aushängeschild der Grime-Ära zu machen. Seine Ambitionen waren jedoch von Anfang an zu groß für eine Szene, die sich vor allem über Integrität und Underground, Clubnächte, Piratenradios und White Labels definierte.
Damalige Weggefährten und Konkurrenten stützen diese Einschätzung. Sie sprechen heute mit einer Mischung aus Ehrfurcht und leiser Enttäuschung über den jungen Dizzee Rascal. In einer wuseligen Landschaft tat sich der Teenager durch seinen Fokus und Eigensinn hervor. Der frühe Grime-Protagonist Maxwell D bezeichnete Dizzee als ersten MC, der komplett in Hooks rappte und es verstand, seine Sprache an die typischen Drum-Patterns des Genres anzupassen. Der Produzent Terror Danjah erinnert sich an einen ernsthaften Künstler, der barsch und arrogant auftrat, angetrieben von seinem unverrückbaren Selbstbewusstsein. Kaum jemand zweifelt daran, dass es bis heute keinen besseren Grime-MC als Dizzee Rascal gegeben hat. Viele fragen sich jedoch auch, wo die Szene im Jahr 2017 stünde, wenn sich ihr größtes Talent rundum auf die Rolle des Botschafters eingelassen hätte.
Aber der Reihe nach. Eigentlich heißt Dizzee Rascal Dylan Kwabena Mills und wurde 1984 im Londoner Stadtteil Bow als Sohn einer ghanaischen Mutter und eines nigerianischen, früh verstorbenen Vaters geboren. In der Schule fiel er stets aus den falschen Gründen auf: Schlägereien, Nachsitzen, Verweise. Mit Musik kam er nur in Kontakt, weil einem verzweifelten Lehrer nichts anderes mehr einfiel, als den Troublemaker vor einem Computer mit vorinstallierter Beatmaking-Software zu parken. Eine pädagogisch wertvolle Entscheidung: Fortan experimentierte Dizzee mit eigenen Kinderzimmer-Instrumentals, beeinflusst von 2Pac, Cash Money und Nirvana. Schließlich begann er, genau so zu rappen, wie ihm der East Londoner Schnabel gewachsen war.
»’I Luv U‘ kam nur durch eine lüge zustande.«
Ältere Freunde schleppten Dizzee Rascal in die Grime-Szene ein, als diese gerade dabei war, sich von UK Garage, Jungle und 2Step zu emanzipieren. MCs wie Wiley, Kano und Lethal Bizzle erregten zeitgleich mit ihm erste Aufmerksamkeit. Crews wie More Fire, So Solid und Roll Deep gaben dem unübersichtlichen Treiben einen Hauch von Struktur. Dizzee Rascal gehörte anfangs zu letzterer Gruppierung, hatte jedoch schon als 16-Jähriger ganz eigene Karrierevorstellungen. Seine Debütsingle »I Luv U« veröffentlichte er im Alleingang über Dirtee Stank, das erst Jahre später zu einem richtigen Label werden sollte. Das Magazin The Wire schrieb, der Track markiere für Grime das, was der Sex-Pistols-Song »Anarchy In The U.K.« für Punk bedeutet hatte: eine Initialzündung, nach der es kein Zurück mehr geben konnte. Eine Zeitenwende.
Zustandegekommen ist der Track aber nur durch eine Lüge: Unter dem Vorwand, einen R’n’B-Song mit ihr erarbeiten zu wollen, lockte Dizzee Rascal die Sängerin Jeanine Jacques ins Studio. Dort konfrontierte er sie mit den Tiefschlagbässen und Vocal-Schnipseleien, die das Gerüst für »I Luv U« bildeten; den Track, den er eigentlich aufnehmen wollte. Von einem schmusigen R’n’B-Duett könnte er kaum weiter entfernt sein. Es geht um »He said, she said«-Szenarien und üble Nachrede, ungewollte Schwangerschaften und die Versuche der männlichen Protagonisten, möglichst unversehrt – also ohne Unterhaltszahlungen – aus der Sache herauszukommen. Dabei klingt Jacques’ Stimme ebenso wutentbrannt wie Dizzees Raps. Für romantische Anflüge bleibt kein Platz auf dieser ultraverdichteten Vier-Minuten-Single.
Mit dem Album, das auf »I Luv U« folgte, war es nicht anders. Dizzee Rascal nahm weite Teile davon als 17-Jähriger auf, klang aber bereits vollkommen abgegessen vom Leben. Frauen sind fast immer riskant auf »Boy In Da Corner«, entweder betrügerisch oder nur auf den eigenen Vorteil bedacht. Liebe oder wenigstens Freundschaft waren folglich Schwächen, die sich Dizzee nicht erlauben wollte. »I Luv U« und das ähnlich gepolte »Jezebel« machten keinen Hehl aus ihrem Zynismus. Sie sind halb Rollenspiel, halb Lebensrealität, Bestandsaufnahmen von den Straßen eines durch Kriminalität, Perspektivlosigkeit und Drogen gebeutelten Stadtteils. Erst 2012 wird der Londoner Osten zum Mittelpunkt der Olympischen Spiele: Das olympische Dorf und zahlreiche Wettkampfstätten werden dort aus dem Boden gestampft. Eine rasend schnelle Aufwertung und Gentrifizierung der Gegend geht mit dieser Entscheidung einher. Zur Zeit von »Boy In Da Corner« sind das aber noch feuchte Politikerträume. Dizzee Rascals East London verlangt Misstrauen, Härte und Egoismus von seinen Protagonisten.