Dizzee Rascals Debütalbum »Boy In Da Corner« ist das definitive Statement des Grime. Warum haftet der Karriere des MCs und Produzenten aus dem Londoner Osten also ein vages Gefühl der Enttäuschung an? Statt in die Rolle des Szenebotschafters zu schlüpfen, verwirklichte Dizzee seine Träume von Nummer-eins-Hits, Ferraris, Konzerten mit Justin Timberlake und Features für Shakira. 15 Jahre nach »Boy In Da Corner« ist Grime indes größer denn je – und Dizzee kämpft mit seiner neuen Platte »Raskit« um Anschluss.
2009
Am 30. August 2009 feierte Dizzee Rascal seine dritte britische Nummer-eins-Single in Folge. Der Song »Holiday«, produziert von der menschlichen EDM-Hüpfburg Calvin Harris, folgte auf die Armand-van-Helden-Kooperation »Bonkers« und »Dance Wiv Me«, eine weitere Zusammenarbeit von Dizzee Rascal und Harris. Die Tracks klingen vollkommen unterschiedlich: »Dance Wiv Me« ist Dance-Pop mit einem unausweichlichen Refrain des R’n’B-Sängers Chrome und vergleichsweise übersichtlichen Raps von Rascal. »Bonkers« macht seinem Titel mit fiesen Drops und Großraumdisco-Effekten alle Ehre. »Holiday« ist ein weitgehend hirnbefreiter Autotune-Sommerhit über Bikinis an der französischen Küste, Powershopping in Mailand und ähnliche Szenarien, die man sich auch in einem Werbespot von Easyjet vorstellen könnte.
Die Songs haben jedoch auch abseits ihrer Charterfolge viel gemeinsam: Sie sind enthalten auf Dizzee Rascals viertem Album »Tongue’n’Cheek«, dem ersten, das er über sein eigenes Universal-Imprint Dirtee Stank veröffentlichte. Sie markierten den endgültigen Bruch des Künstlers mit allen Regeln, Gepflogenheiten und Erwartungshaltungen der strengen Londoner Grime-Szene, in die Rascal sechs Jahre zuvor hereingeplatzt war. Sie sind Pop-Rap – oder genauer noch: Popsongs mit Rapeinlagen vom vielleicht besten MC, den Großbritannien jemals hervorgebracht hat. Und sie funktionierten. Man konnte Dizzee Rascal im Sommer 2009 nicht entkommen. Im Alter von 24 Jahren stieg er zum beliebtesten und meistgehassten UK-Rapper gleichzeitig auf. Es war der vorläufige Höhepunkt einer Erfolgsgeschichte mit Beigeschmack.
Mit seinem Frühwerk hatte Dizzee Rascal Achtungs- und Kritikererfolge eingeheimst. Nun wurde er nicht mehr für die Brit-Awards nominiert, fuhr jedoch trotzdem als Stargast im eigenen Ferrari vor. Alte Weggefährten spielten auf »Tongue’n’Cheek« höchstens noch Nebenrollen. Stattdessen drängten die erwähnten Party-Produzenten und der niederländische Event-House-Veteran Tiesto in den Vordergrund. Als Grime-Fan der ersten Stunde, ernsthafter Rap-Hörer und/oder JUICE-Leser blieb einem kaum etwas anderes übrig, als diese Entwicklung bedauernswert zu finden. Dizzee Rascal sah sich mit Sellout-Vorwürfen konfrontiert, nicht nur aus der alten East Londoner Heimat. Der MC und Neupopstar war allerdings noch lange nicht fertig. Sein fünftes Album »The Fifth« erschien im Spätsommer 2013 und klang wie eine endgültig lobotomisierte Version von »Tongue’n’Cheek«.
»Es schien, als hätte Dizzee Rascal den Bogen überspannt.«
Dizzee kollaborierte nun auch mit will.i.am, Robbie Williams und einer Reihe von One-Direction-Produzenten. Ein Großteil der Songs gab sich so eindimensional lebensbejahend, dass man sie für zynische Antworten auf die detaillierten Gesellschaftsporträts halten konnte, die vor allem Dizzee Rascals erste beiden Platten ausgezeichnet hatten. Während im Londoner Underground die zweite Grime-Welle langsam Fahrt aufnahm, erschien »The Fifth« nicht nur aufgeblasen, sondern auch out of touch. Für seine ursprünglichen Fans konnte der Rapper damit keine Rolle mehr spielen, für neue Grime-Hörer sowieso nicht. Das Album blieb letztlich auch kommerziell hinter den Erfolgen von »Tongue’n’Cheek« zurück. Es schien, als hätte Dizzee Rascal den Bogen überspannt.
Aber ist das wirklich schon die ganze Geschichte? Einstiges Grime-Wunderkind entfremdet sich von der eigenen Szene, leckt Popstar-Blut, feiert beispiellose Triumphe und fährt den Ferrari schließlich im Erfolgsdelirium vor die Wand? Hat Dizzee Rascal seine Seele für ein paar Nummer-eins-Singles verkauft? Spielt es eine Rolle? »Was ist aus dem alten Dizzee geworden, dem ‚Boy In Da Corner‘?«, wollte Hattie Collins, Autorin der Genre-Bibel »This Is Grime«, im vergangenen Jahr von Dizzee Rascal wissen. Der entgegnete: »Ein 31-jähriger Mann, der die ganze Welt gesehen und ein paar richtig gute Popsongs geschrieben hat. Ich habe vor der Queen gespielt. Ich bin kurz davor, es zum Glastonbury-Headliner zu bringen. 100.000 Leute werden mir zujubeln. Das ist aus dem ‚Boy In Da Corner‘ geworden.«