Moshpits, »Boiler Room«-Shows und Charterfolge bei einem Jazz-Ensemble? Ja, das gibt es. Inmitten des Brexit erlebt die Mutter aller Musikgenres in Großbritannien derzeit eine ungeahnte Popularität. Vor allem hippe und tanzwütige Kids sind fasziniert von Künstlern wie Kamaal Williams, der Band Maisha um Star-Saxofonistin Nubya Garcia oder dem Ezra Collective.
Letztere haben mit ihrem Debütalbum »You Can’t Steal My Joy« unter der Leitung der Geschwister Femi und TJ Koleoso gerade den vorläufigen Höhepunkt einer Bewegung kreiert, die kein Interesse an Avantgarde-Getue und Traditionalismus hat. Für sie ist Jazz vor allem: die coolste Musik, die es gibt.
London: Punk-Hochburg, Grime-Metropole, Rave-Mekka. Der heiße Scheiß nahm in der Musikgeschichte nicht selten seinen Anfang in der Stadt, die Reggae nach Europa brachte und Ende der Sechziger als Startpunkt der »British Invasion« um Ikonen wie die Beatles, Rolling Stones oder The Who die Pop-Weltherrschaft an sich riss. Seit kurzem wird hier aber nicht mehr zu Rocksounds gemosht oder zu Jungle-Beats geravet, sondern zu Jazz gefeiert. Im Club. Verrückt, oder?
Als geschichtsbewusster Pop-Besserwisser lässt sich eine Verbindung zur britischen Rave-Kultur der Neunziger ziehen. Damals, als BBC-DJ Gilles Peterson zunächst durch Partys und später auch mit eigenen Labels Bands wie Brand New Heavies oder Jamiroquai in die Londoner Clublandschaft krachte. Doch anders als der Nu- und Acid Jazz vor 20 Jahren versteht sich »Jazz’s New British Invasion« nicht als Retro-Movement. Die Szene Londons bedient sich zwar großzügig am Erbe von Jazz-Legenden wie Sun Ra oder Charlie Parker, doch die meisten Musiker sind zwischen 20 und 30. In ihren Jugendzimmern lief folglich auch Dancehall, Grime und HipHop. Mit der Konsequenz, dass es einfach keine Grenzen mehr gibt.
»Wir müssen innovativ sein«, sagt Ezra-Collective-Bassist TJ dazu. Wenn er und seine vier Bandkollegen sich mit Piano, Trompete, Saxophon, Bass und Schlagzeug an Sun Ras ikonisches »Space Is The Place« heranwagen, klingt das Ergebnis mehr nach verlorenem Wu-Tang-Instrumental denn nach Orchesterarrangement. Eine logische Entwicklung, findet TJ. Das verstaubte Image von Jazz sei überholt, Traditionsbewusstsein und Neuerungsdrang stünden bei ihm und seinen Szenefreunden immer schon auf Augenhöhe. »Manche Jazz-Puristen verstehen uns nicht. Aber Jazz war der HipHop der Fünfziger. Hör dir doch mal Charlie Parker an, das war seinerzeit etwas komplett Neues.«
So ist es der Beat, der seine Band antreibt – und sogar schon eine »Boiler Room«-Performance einbrachte. Während in Deutschland unter Rave immer noch Techno- und EDM-Gestampfe verstanden wird, turnt man in UK bereits zu Saxophon und Piano up. »Wir sind alle Grime- und HipHop-Heads«, sagt TJ, der mit seiner Band Pharoahe Monch auf Tour begleitete und auf »You Can’t Steal My Joy« einen Rap-Track mit Loyle Carner produziert hat. Rap sei eine große Inspiration für das Quintett, das sich über das Förderprogramm »Tomorrow’s Warriors« formierte, wo sie gemeinsam mit heutigen Szenestars wie Moses Boyd oder Nubya Garcia ihre ersten Schritte wagten. TJ zählt Wu-Tang, Outkast oder Jay-Z zu seinen Inspirationsquellen. »Ich spiele zwar Jazz-Noten, aber von Rapflows inspiriert. Ich möchte in erster Linie Stimmungen erzeugen. Wenn du zum Beispiel DMX hörst, fühlt sich das sehr aggressiv an«, sagt er. »Der knurrt und bellt immer, das verleiht ein Gefühl von Härte. Seine Flows übersetze ich für mich am Bass.« Zu keiner Sekunde klingt »You Can’t Steal My Joy« aber nach hölzernen »Jazzmatazz«-Rip-Offs oder gar, äh, Jazzkantine.
»Ich spiele zwar Jazz-Noten, aber von Rapflows inspiriert« (TJ Koleoso, Ezra Collective)
Vieles, was in London gerade geschieht, wurzelt mal wieder in der Club- und Live-Szene. Venues wie das (mittlerweile geschlossene) Total Refreshment Centre oder die berühmte Church Of Sound sind bis heute Oasen der Kreativität. Auch für Ezra Collective, die sich dort ab 2012 auf offenen Bühnen tummeln. Wöchentliche Events wie etwa auch »Steam Down« in Lewisham sind bis heute Treffpunkte. Grenzen und Protektionismus gibt es hier nicht, der Spaß steht im Vordergrund. Das merkt man auch daran, dass nicht jeder Teilnehmer eine klassische Musikausbildung hat. Überhaupt, Konzert? Session? Rave? Die Steam-Down-Partys sind irgendwas dazwischen. Konträr zur Franchiseisierung der britischen Hauptstadt, wo gefühlt täglich eine neue »Pret a Manger«-Filiale eröffnet, steht der neue Jazz für echte DIY-Kultur.
Als Kendrick Lamar auf »To Pimp A Butterfly« 2015 spätere US-Jazz-Heilsbringer wie Kamasi Washington oder Thundercat spielen lässt, passiert vor den Augen der Pop-Öffentlichkeit das, was sich in London auf kleinen Labels wie 22a Records oder Brownswood Recordings schon seit 2013 abzeichnet: Jazz wird cool, jung und hip. »›TPAB‹ höre ich fast mit religiösem Eifer«, sagt TJ. »Das ist ein Klassiker! Aber es hat nur eine Entwicklung zusammengefasst, die es vorher gab. Als es bei uns losging, waren wir zum Beispiel auch schon sieben Jahre zusammen.« Von Verdruss über die verzögerte Aufmerksamkeit, die ihm seit zwei Jahren zuteil wird, ist aber nichts zu spüren. Begeistert erzählt TJ von den Album-Sessions in den Abbey-Road-Studios, an der auch das Afrobeat-Kollektiv Kokoroko mitgewirkt hat – ebenfalls Kinder der Szene. Der Community-Gedanke ist groß, die Protagonisten in London eng miteinander verwoben. Gerade spielt der Ezra-Collective-Drummer auf der US-Tour von Jorja Smith, die ebenfalls auf »You Can’t Steal My Joy« gefeaturet wird.
Dass der neue Jazz beim jungen Publikum so populär ist, hat für TJ zwei Gründe: »Ich glaube, alle wollen immer etwas Neues entdecken«, sagt er. »Außerdem wollen die Leute Live-Musik. Nur weil elektronische Musik angesagt ist, heißt das ja nicht, dass die Menschen kein Interesse mehr an einer Live-Band haben. Ende der Neunziger gab es Drum’n’Bass und Garage, gleichzeitig aber auch Blur und Oasis. It’s the same with us.« Digital, analog, sample-basiert, selbst gespielt – für die jungen Jazzer gehört alles zusammen, ein grenzenloser Abenteuerspielplatz. Schwierige Zeiten führten zudem immer zu großer Kunst, meint TJ. »Ich glaube, je schwieriger die Zeiten sind, desto kreativer werden Menschen. Während des Vietnamkriegs kamen Leute wie Jimi Hendrix mit komplett neuen Spielweisen um die Ecke. Kreativität entsteht aus Drama und Scheitern«, sagt er. Auf die Frage, ob er die Einflüsse des Brexit auf diese Bewegung fürchte, sagt TJ: »Nein, Mann. Musik geht immer ihren eigenen Weg.« You can’t steal his joy.
Foto: Dan Medhurst
Dieses Feature erschien in JUICE #193. Aktuelle und ältere Ausgaben könnt ihr versandkostenfrei im Onlineshop bestellen.