Deutschrap ist historisch gesehen ein Phänomen, das sich über weite Strecken hinweg auf ein halbes Dutzend Städte beschränkt. Zwar liegen die Wurzeln zu großen Teilen auch in Heidelberg, doch übernahmen schnell deutlich größere Städte das Ruder. Seit mindestens zwei Dekaden dominieren teilweise intensiv ausgetragene Grabenkämpfe zwischen besonders einwohnerstarken Städten das Geschehen. Das Pendel schlug dabei zwar mal stärker zur einen, mal zur anderen Seite aus, im Fokus stand jedoch am Ende immer dieselbe einstellige Liste an Städten.
Es ist eine Milchmädchenrechnung, dass in Berlin, Hamburg, Stuttgart oder Frankfurt viel eher kreative Ballungszentren als in Buxtehude oder Gummersbach entstehen. Der Lokalpatriotismus tat anschließend sein Übriges, um die eigene Vormachtstellung zu sichern. Zwar erzählt die alte Mär, dass es in der HipHop-Kultur ja vor allem um das eigene Können und eben nicht um die Herkunft gehe, aber die Realität sah oft anders aus. Doch so sehr die jeweilige Mentalität und der örtliche Slang dabei für regionale Unterschiede sorgen mochten, so schienen sich gleichzeitig alle in einem Punkt einig zu sein: in der Verachtung für alles Provinzielle.
Das erste Mal, dass dieses Muster ansatzweise aufgebrochen wurde, war 2004. Sido hatte den Hörern gerade das Märkische Viertel nähergebracht und ihnen erklärt, dass es nicht darauf ankomme, wer man ist, sondern wo man herkommt. Rap aus Berlin stand kurz vor seinem Zenit, als es ein junger Rapper aus Lütjensee bei Hamburg mit seinem Song zu einem der ersten Internethits brachte. MC Jeremy schnappte sich das Beathoavenz-Instrumental von »Mein Block«, modifizierte dessen Text und rappte über Kühe, Traktoren und sein Dorf. Die Lacher waren auf seiner Seite, doch der Einfluss auf die Rapszene war gleich Null. Nach wie vor war Deutschrap den großen Städten vorbehalten, und wer in keiner lebte, zog eben hin. Texte aus dieser Zeit zeugen noch heute davon. So ist beispielsweise »Klassenfahrt« (2007) von K.I.Z zwar bewusst überzogen, wiederholt aber dennoch das alte Klischee: Hier der zivilisierte Großstädter, dort das hinterwäldlerische Dorfvolk.
Provinz-Rap rising
2011 machte dann Casper auf »Die letzte Gang der Stadt« erstmals wieder die Schützenheime und geplatzten Träume im »Heimatkaff« zum Thema. Der Titelsong des Nachfolgealbums »Hinterland« schlug in dieselbe Kerbe und machte deutlich, dass eine »Stadt, die niemals schläft«, durchaus müde machen kann. So richtig in den Fokus rückten Dörfer und Provinzen aber erst mit Zugezogen Maskulin. Bereits auf ihrem Debütalbum »Kauft nicht bei Zugezogenen« rappten grim104 und Testo über den Unsinn von Lokalpatriotismus und gaben mit »Rotkohl« eine Tonalität vor, die grim auf seiner Solo-EP und Songs wie »Crystal Meth in Brandenburg« noch einmal intensivierte. Auch auf dem zweiten ZM-Album »Alles brennt« kam das Thema nicht zu kurz. Zwar rechnete grim auf »Nachtbus« gnadenlos mit der Engstirnigkeit seiner ländlichen Heimat ab, machte jedoch gleichzeitig deutlich, dass die Flucht in die Großstadt auch nicht die erhoffte Erlösung mit sich brachte. Zu einer ähnlichen Erkenntnis kam Koljah bereits 2010 auf seinem Song »Von Stadt zu Kaff«, der jedoch weitgehend unbeachtet blieb.
Gegenwärtig scheint es, als habe Deutschrap die Provinz endgültig als neues Themenfeld für sich entdeckt. So stellten Casper und Marteria auf »Willkommen in der Vorstadt« kurzerhand das Machtgefälle zwischen Dorfjugend und Großstadtkids auf den Kopf und versahen »Klassenfahrt« gewissermaßen mit einem umgekehrten Vorzeichen. Auch Tua hat sich thematisch zurück zu seinen Wurzeln begeben und rappte jüngst über Jugendhäuser, Schlägereien und Dorfgeflüster. Döll mit »64«, Juse Ju mit »Bordertown« und »Kirchheim Horizont« und Dendemann mit »Da wo ich wech bin« bewegen sich zur Zeit im selben Fahrwasser – und der 40.000-Seelen-Ort Bietigheim-Bissingen ist dank Rin, Shindy und Bausa schon lange nicht mehr aus Rap-Deutschland wegzudenken.
Wo man wegen Baggys schief angeschaut wird und abends um 22 Uhr der letzte Bus fährt, wird es schwer mit der Rap-Karriere
All das mag damit zusammenhängen, dass Deutschrap mittlerweile an einem Punkt angelangt ist, an dem städteübergreifende Kollabos keine Seltenheit mehr sind. Es dürfte aber auch an Deutschraps gewachsener Popularität liegen. Savas‘ Zeile, seine Musik dringe »bis tief in die letzten Ecken in den Dörfern« von 2002 ist mittlerweile Realität geworden – auch und vor allem dank des Aufstiegs des Internets.
Natürlich ist beileibe nicht jeder Song, der ein Dorf oder eine kleinere Stadt zum Thema macht, eine Ode an ländliche Gegenden. Im Gegenteil: Grim nivellierte lediglich das Gefälle zwischen Großstadt und Provinz, schlug sich am Ende jedoch auf keine Seite. Vielfach geht es in den Texten um die Tristesse der Einöde, um Engstirnigkeit und begrenzte Möglichkeiten. Wo man wegen Baggys schief angeschaut wird und abends um 22 Uhr der letzte Bus fährt, wird es schwer mit der Rap-Karriere.
Vor diesem Hintergrund wird die eigene Geschichte eng mit einer Landschafts- und Gesellschaftsbetrachtung verflochten, bei der die Details zunächst banal erscheinen, bis sie sich zu einem großen Ganzen zusammenfügen. Dass dabei wenig beschönigt und verklärt wird, ist lobenswert – warum Grabenkämpfe wiederholen, wenn sie stattdessen durch ein deutlich differenzierteres, mitunter ambivalentes Bild ersetzt werden können?
Doch Hassliebe ist immer noch besser als Bedeutungslosigkeit, eine Erwähnung jedweder Art immer noch wertvoller als das gezielte Verschweigen und Ignorieren – Aufmerksamkeit ist immer auch Anerkennung. Vielleicht spricht der Künstler mit seiner Kritik ja sogar dem einen oder anderen Bewohner wirklich aus der Seele. Und vielleicht greift tatsächlich irgendwo ein Nachwuchsrapper zum Mic. Auf diese Weise erhalten auch jene Teile der Bevölkerung, die außerhalb von großen Städten leben, nun endlich eine Stimme im Deutschrap. Wer das politische Geschehen in den letzten Jahren ein bisschen verfolgt hat, weiß, wie wichtig das mitunter sein kann. Willkommen in der Vorstadt.
Text: Mathias Liegmal (geb. Hansen)
Dieses Feature erschien in JUICE 192. Aktuelle und ältere Ausgaben könnt ihr versandkostenfrei im Online-Shop bestellen.
Sehr schade, dass das Album „Kleinstadtkids“ von SAM mit keiner Zeile in diesem Artikel erwähnt wird, wo doch das ganze Album dieser Thematik gewidmet ist.