Diesen Erfolg hatte Deutschrap nicht auf dem Zettel. Klar, Genetikk hatten sich seit der Veröffentlichung ihres zweiten Albums »Voodoozirkus« im Jahr 2012 eine mehr als solide Fanbase aufgebaut und bei Selfmade Records unterschrieben. Als sie im Frühjahr 2013 mit »D.N.A.« aber ihren dritten Langspieler ankündigten, war dennoch nicht abzusehen, was in den Folgemonaten geschehen sollte. Am 21. Juni 2013 erschien das Album – und chartete prompt auf der Eins. In ihrer ersten Titelgeschichte in diesem Magazin, kurz davor, wurde es in weiser Voraussicht bereits zum modernen Klassiker gekürt. Es folgte ein triumphaler Auftritt auf dem splash! Festival und immer mehr Erfolgsmeldungen. Bis heute ging »D.N.A.« mehr als 80.000 Mal über die Ladentheke. Ein Ergebnis, das Album Nummer Vier locker toppen wird – davon geht zumindest das Label aus. Sieben Wochen, bevor »Achter Tag« am 24. April erscheint, besuchten wir Genetikk in ihrer Heimat Saarbrücken.
23 japanische Teenager schweigen, während der ICE durchs Tal rauscht und namenlose, aus dem Nichts erscheinende Dörfer hinter sich lässt. Ab und zu verschwindet er für ein paar Sekunden im Dunkel eines Tunnels. Punkt 15 Uhr zieht der Lokführer die Bremse an, wenig später hält der ICE im Bahnhof von Saarbrücken.
Hier also leben die sieben maskierten Mitglieder von Genetikk bereits seit ihrer Kindheit. Auf den ersten Blick ist Saarbrücken keine sonderlich bemerkenswerte Stadt. Weder hübsch, noch hässlich. Eine beschauliche Innenstadt mit schönen Gassen, ein paar Außenbezirke, zehn Prozent Arbeitslose, 177.000 Einwohner – das war‘s. Also eigentlich ein Ort, den junge, kreative Menschen traditionell schnell verlassen, wenn ihre Träume zu groß werden. Nicht so Genetikk. Die halten ihrer Stadt weiterhin die Treue und – mehr noch – bauen sich dieser Tage hier ihr eigenes, gut funktionierendes Business auf.
Mojo ist das erste Genetikk-Member, auf das ich treffe. Er wartet mit einem schwarzen Kombi von Audi vor dem Bahnhof. Mojo trägt keine Maske. Mit der Musik von Genetikk hat er nur am Rande zu tun. Er kümmert sich ums Organisatorische und ist einer der neuesten im Kader. Nett ist er. Gemeinsam fahren wir nicht mal zehn Minuten durch die Stadt, dann halten wir auf einem Hinterhof-Parkplatz. Hier parken bereits zwei weitere Audis der Mittelklasse. Jetzt müssen wir nur noch eine Treppe hoch, dann stehen wir im Genetikk-Headquarter, sie selbst nennen es ihre »Factory« – in Anlehnung an das Atelier des großen Pop-Artisten Andy Warhol.
Gut, nackte Models räkeln sich noch nicht auf dem Boden, als wir an diesem Vormittag das Büro betreten. Auch kann man sich kaum vorstellen, dass sich hier, immerhin sind wir in Saarbrücken, eines Tages Schauspieler, Musiker, Tänzer, Drogensüchtige und andere Selbstdarsteller die Klinke in die Hand geben werden. Dennoch geht in der Genetikk-Factory – salopp gesagt – einiges. Im Untergeschoss befindet sich ein Studio, und im großen Raum im ersten Stock laufen alle Fäden zusammen, die für ein groß angelegtes Albumprojekt wie »Achter Tag« gespannt werden müssen. Die Musik, die Videos, die Artworks, alles – hier passiert‘s.
Die Dielen weiß gestrichen, die Stühle von Vitra, die Einrichtung spartanisch – neben den Arbeitsplätzen findet man hier nur eine unauffällige Küchenzeile. Ansonsten stehen ein paar Kleiderständer mit der neuesten Styler-Klamotte rum, und an der Wand hängt ein Fernseher. Hier spielen zwei Typen gerade »Fifa« auf der Playstation. Sie stellen sich mir als Hell und Rokey vor. Der eine ist das frischeste Familienmitglied und Fotograf, der andere ist als Creative Director sowohl für den gesamten Genetikk-Look – von Cover bis Videos –, als auch für die hauseigene Streetwear-Marke HIKIDS verantwortlich. Chiko, das siebte Genetikk-Mitglied, fehlt heute. Im Hintergrund läuft das neue Drake-Mixtape.
Der Rest kommt wenige Minuten später an: Rizmo, Sikk und Karuzo. Ersterer ist Manager und Tour-DJ, die anderen beiden kennt ihr. Es folgt ein erster Smalltalk, dann eine wichtige Mail. Das Video zum Song »Dago« ist gerade im Rohschnitt eingetrudelt und wird direkt der Qualitätskontrolle der gesamten Mannschaft unterzogen. »Die Szene mit den Mädchen ist belanglos, die muss raus«, sagt Sikk. Beinahe jeder Frame, fast jede Einstellung wird besprochen, bevor das Video für gut befunden wird und wir gemeinsam zum ersten Mal das fertig gemasterte »Achter Tag«-Album mit finaler Tracklist hören.
Die zentrale kulturelle Praxis des Rap ist das Sampling. Obwohl Genetikk in Wahrheit kaum Samples benutzen, ist ihre Musik nah dran am altbewährten HipHop-Sound, der mit sparsamen Mitteln rhythmische Wucht erzeugt. Gesamplet werden tatsächlich nur Die Toten Hosen und Münchener Freiheit (!), der Rest ist komplett selbst eingespielt. Auf dieser Basis ist mit »Achter Tag« ein Album entstanden, das organisch und zeitlos, aber auch wahnsinnig zeitgeistig klingt. Das liegt daran, dass Sikk Sounds verwendet, die gerade im US-Rap en vogue sind, aber auch daran, dass Karuzo auf den neuen Songs noch variabler reimt, zwischendurch Pausen setzt, nur um anschließend wieder loszustylen. Man könnte dieses Album auf den ersten Blick als eine sehr gelungene Mélange aus »Wu-Tang Forever« und Drakes »Nothing Was The Same« betiteln – und ihm damit kaum Unrecht tun.
Mit dem oftmals als Vergleichsparameter herangezogenen A$AP Mob haben Genetikk vor allem die perfekt durchgestylte Oberfläche gemeinsam. In ihren neuen Videos wirken die Styler-Insignien von Kenzo bis A Bathing Ape noch gezielter platziert, inhaltlich emanzipieren sie sich jedoch mit diesem Album bewusster, wenn auch weiterhin zwischen den Zeilen, von oberflächlichem Herumgespitte. Auf »Achter Tag« räumen Genetikk ihrem Weltbild mehr Platz ein, grenzen mit großen Gaststars aus der Deutschrap-Generation ihre einzelnen Themen ein und bauen sich mit Nachdruck ihre eigene, mystische Musikwelt auf. In der spielt die alttestamentarische Schöpfungsgeschichte genauso eine Rolle wie der Zen-Buddhismus. Das Sampling betreiben Genetikk nicht nur instrumental, sondern ganzheitlich. Erst mit diesem Album, das spürt man bereits beim ersten Hören, schaffen Genetikk es in vollem Umfang, ihre künstlerische Vision zu transportieren. Auf musikalischer Ebene ist »Achter Tag« definitiv das bisher beste Genetikk-Album, in Verbindung mit der großen, künstlerischen Vision könnte es gar ein Meilenstein für Deutschrap werden, denke ich, behalte es aber für mich und fange an zu fragen.
Dieser Ort hier, eure eigene »Factory«, garantiert euch größtmögliche Unabhängigkeit, oder?
Sikk: Genau. Letzten Endes machen wir erst mal alles selbst und geben dann das Master bei Selfmade ab.
Karuzo: Wir brauchen sonst ja auch nichts. Wir haben hier alles, was wir brauchen.
Sikk: Das hatten wir uns auch von Anfang an zum Ziel gesetzt. Schon für »Foetus« haben wir die Artworks selbst gemacht und auch die Videos entwickelt. Damals waren wir noch zu zweit, heute sind wir ein ganzer Clan.
Karuzo: Wenn man eine Vision so konsequent verfolgt wie wir, dann bekommt man einfach nicht die Ergebnisse, die man sich wünscht, wenn man nicht alles selbst macht. Nur weil unsere Jungs und wir eine Vision teilen, entsteht daraus ein Spirit!
Gilt dasselbe auch für das Musikalische, oder war außer euch beiden noch jemand anderes an der Produktion des Albums beteiligt?
Sikk: Sämtliche Ideen und alle vorgefertigten Tracks für »Achter Tag« stammen von uns, später holten wir dann noch Samon Kawamura von Kahedi dazu.
Karuzo: Samon ist über das letzte Jahr auch komplett in unsere Crew reingewachsen, er ist das achte Mitglied von Genetikk. Der einzige von uns, der nicht hier wohnt.
Sikk: Den Großteil unserer Arbeit haben wir schon hier in der Factory gemacht, die Recordings dann aber in Amsterdam und in Berlin.
Seit wann steht ihr denn mit Samon in Kontakt?
Karuzo: Wir haben ihn schon im Sommer 2013 das erste Mal getroffen.
Sikk: Samon versteht genau, was wir mit Genetikk aussagen wollen. Am Ende ist es so gekommen, wie es kommen musste: eine Kooperation. Und mit der Zeit ist er dann fest mit Genetikk verwachsen.
Karuzo: Und jetzt gehört er zur Family.
Wann habt ihr effektiv mit der Arbeit am Album begonnen?
Karuzo: Direkt nach der Vollendung von »D.N.A.«. Wir haben uns keine Sekunde Pause gegönnt. Wir waren schon immer einen Schritt weiter in unseren Köpfen. Wir sind immer schneller als unser Output, weil wir beständig den Drang haben, neue Musik zu machen. Wir arbeiten immer. Vielleicht werden wir irgendwann mal eine Kreativpause brauchen, aber für den Moment sieht es nicht danach aus. Wir wissen ja jetzt schon wieder, was wir als nächstes machen wollen.
»D.N.A.« wurde damals in der JUICE schon vor Veröffentlichung zum Klassiker gekürt. Gibt es trotzdem heute Dinge, die ihr an dem Album kritisch betrachtet?
Sikk: Nee, gar nicht. Wir haben diese Platte damals aus vollster Überzeugung gemacht, und dementsprechend bereuen wir keine Millisekunde von irgendeinem Track. Wir releasen kein Album, weil wir das müssen, sondern weil wir es wollen. Aber nur, weil wir bestimmte Dinge für »Achter Tag« perfektioniert haben, heißt das noch nicht, dass wir deswegen »D.N.A.« weniger wertschätzen.
Karuzo: Alles hat seine Zeit, und wir glauben, dass »D.N.A.« zu Release die beste Platte war, die wir hätten machen können. Die beste Platte, die wir zum jetzigen Zeitpunkt machen konnten, ist folgerichtig »Achter Tag«.
Warum seid ihr euch sicher, dass dieses Album euer bisher bestes ist?
Karuzo: Dieses Crew-Ding hat auf jeden Fall wahnsinnig viel dazu beigetragen. Jeder von uns hier glaubt an Genetikk, dadurch steckt in diesem Album so viel positive Energie von uns allen, dass wir momentan auf einem so hohen Level arbeiten und darauf vertrauen können, dass dabei am Ende etwas Gutes entsteht. Jeder einzelne von uns gibt so viel für Genetikk, dass am Ende auf der universellen Ebene etwas zurückkommt.
Sikk: Vor allem haben wir alle unser Bestes gegeben. Wir alle sind Genies. Denn das ist für mich die Definition von Genialität: Man gibt sein Bestmögliches im gegenwärtigen Moment…
Karuzo: … wird dabei aber niemals zu verkopft. Man muss sich einfach Hals über Kopf in diese Sache reinstürzen und das machen, was man liebt. Nur so gibt man am Ende sein Bestes und schafft in diesem Sinne etwas Geniales.
Entstehen eure Ideen also immer aus dem Moment heraus, oder lasst ihr Song-Skizzen auch mal mehrere Monate lang liegen, bevor ihr euch wieder an sie herantraut?
Karuzo: Eigentlich ist es so, dass immer eine Momentaufnahme die Richtung vorgibt. Natürlich muss man ab und zu noch Details nachträglich aufnehmen oder Texte bearbeiten, aber Musik ist Gefühl. Wenn das nicht von Anfang an stimmt, dann bringt auch alles Feilen nichts.
Sikk: Hinter allem steckt die Idee, dass es immer rough klingt, aussieht und sich anfühlt – von der Skizze bis zum Track. Wie in der Kunst bei Arte Povera [italienische Kunstbewegung der Sechziger- und Siebzigerjahre; Anm. d. Verf.].
Genetikk steckt in jedem von uns, und wir stecken in Genetikk. Und wenn du Fan bist, bist auch du Genetikk.
– Sikk
Ihr merkt sofort, welcher Song zu Genetikk passt und welcher nicht?
Karuzo: Sofort!
Sikk: Wir teilen die Vision im Kopf.
Karuzo: Wir sind uns tatsächlich sehr einig darüber, wie wir zu klingen haben. Ich sag ja nicht umsonst, dass ich nur über Beats von Sikk rappe. Wir funktionieren nur zusammen und werden nie getrennt voneinander arbeiten. Ich brauche den Sikk-Vibe.
Warum bekommt niemand sonst diesen Vibe hin?
Karuzo: Das ist eine gute Frage. Ich weiß nicht, wie andere arbeiten, aber es gibt natürlich andere, die auch gute Musik machen. Doch die harte Konsequenz, mit der wir arbeiten, macht uns einzigartig – genauso wie die Tatsache, dass in Genetikk so wenig Ego steckt. Dieses Ding ist größer als wir selbst, größer als die einzelnen Fragmente dahinter. Keiner von uns versucht, sich damit zu brüsten oder sein Ego durchzusetzen; jeder betrachtet Genetikk als die übergeordnete Größe, der sich alles andere unterzuordnen hat. Was für Genetikk gut ist, ist auch für den Einzelnen gut. Das ist das Dogma, dem wir alle folgen müssen. Was Genetikk tatsächlich ist, das ist eine Frage, die wir immer wieder für uns selbst neu beantworten.